18.04.2024

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13.05.00 Von Ortelsburg auf den amerikanischen Kontinent

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. Mai 2000


Von Ortelsburg auf den amerikanischen Kontinent
Nach schweren Jahren hat Thea Madsen in Kanada ihr Glück gefunden

Theresia Madsen lebt in Kanada. In einem schönen Land mit einer großartigen Natur, das für viele Deutsche ein Traumland ist. Auch Frau Madsen fühlt sich dort wohl, denn es vermittelt ihr jene Weite und Ursprünglichkeit, in die sie als Masurin hineingeboren wurde. In Ortelsburg stand ihre Wiege. Und der Weg vom südlichen Ostpreußen bis in den Norden des amerikanischen Kontinents war weit und nicht leicht – ein Flüchtlingsschicksal eben, das sie gemeinsam mit ihrem Mann gemeistert hat. Wir haben sie gebeten, ihren Lebensweg für uns aufzuzeichnen. Lassen wir sie erzählen:

Am 9. Februar 1953 landeten wir – mein Mann, unsere zwei Kinder und ich, Thea Madsen, geb. Michalewski, aus Ortelsburg – mit der MS Gripsholm in Halifax, Kanada. Hinter uns lagen schwere Jahre. Mein Fluchtweg hatte am 19. Januar 1945 begonnen, als ich in der kalten Winternacht mit meiner Mutter und zwei jüngeren Schwestern über die Felder von Rohmanen flüchtete. Wir hatten Ortelsburg verlassen müssen, meine Heimatstadt, in der wir in der Jahnstraße, später in der Ernst-Mey-Straße, gewohnt hatten und in der ich bei der Firma Richard-Anders-Mahlmühle gelernt und an der Hauptkasse gearbeitet hatte. Es war eine Flucht ins Ungewisse, wie sie Hunderttausende erlebten.

Zum ersten Festpunkt wurde Affalter-Aue im Erzgebirge. Meine Schwester Christel hatten wir in Radeberg-Dresden gefunden, von wo ich sie am 13./14. Februar abholte. Den großen Bombenangriff erlebten wir im Zug nach Chemnitz – wir hatten wohl einen Schutzengel. Meine Schwester Edeltraud lag mit gebrochenem Bein in Oranienburg, ich holte sie von dort heraus. So waren wir Schwestern wieder zusammen. In Affalter arbeitete ich im Rathaus. Aber im Sommer wurden alle Lebensmittelkarten für Ausgebombte und Flüchtlinge gesperrt, um uns zur Rückreise oder wenigstens zum Verlassen des Ortes zu bewegen. Freundliche Menschen nahmen uns in Aue auf. Damals wurden in Annaberg Transporte für Männer und Jungen nach Sibirien oder nach Oberschlemma-Bergwerk, für Frauen nach Rußland zusammengestellt. Ich erfuhr rechtzeitig davon, und so landeten wir dann in Suhl im Thüringer Wald. Dort erleichterte die Familie Wienke, die Blumenhaus und Gärtnerei besaßen, uns sechs Frauen, Mutter und fünf Töchter – das Einleben. Ihr Sohn Reiner wurde mein Patensohn.

Aber auch das war nur eine Zwischenstation, denn am 5. Juni 1948 heiratete ich meinen Mann, einen ehemaligen Groß Schiemaner Flieger (Flugzeugführerschule). Wir beschlossen, nach Kanada auszuwandern. Obwohl ich als Schülerin der Katholischen Schule in Ortelsburg von Hauptlehrer Richard Borchert gelernt hatte: ,Bleibe im Lande und nähre dich redlich!‘, hatten wir uns zu diesem Schritt entschieden. Schwarz ging es über die Grenze nach Schleswig, wo wir bis zur Auswanderung wohnten.

Es war eine Höllenfahrt, denn der damals wütende Orkan, bei dem Friesland und die Niederlande viel Land verloren, traf unsere ,Gripsholm‘ mit voller Wucht. Ich schwor damals, nur wenn eine Brücke über den Atlantik gebaut würde, käme ich noch einmal nach Europa zurück. Wer ahnte, daß wenige Jahre später die Auswanderer per Flugzeug diesen Weg zurücklegen würden. Unsere erste Begegnung mit dem neuen Kontinent fand in Halifax, Nova Scotia-Canada, am Pier 21 statt – heute Museum. Auch wir sind dort registriert, unsere Namen wurden in Stein eingraviert. Ein deutscher Priester vom St. Raphaels-Verein begrüßte uns und überreichte uns die Zeitschriften ,Nordstern‘ und ,Kurier‘ mit der Ermahnung, nur nicht unsere mitgebrachte Kultur und unser Deutsch zu vergessen. ,Unsere Zeitungen bilden den Grundstein für den Erhalt und Pflege unserer Sprache.‘ Mein Mann und ich haben uns treu an diesen guten Rat gehalten. Später kam Das Ostpreußenblatt hinzu, von dem mein Mann immer behauptete, es wäre die beste deutsche Zeitung!

Am 12. Februar 153 kamen wir – nach dem Umsteigen in Montreal – in uralten Eisenbahnwagen in Toronto an. Im Zug konnte man Schnellgerichte zubereiten und auf Holzpritschen schlafen. Was wir auf unserer ersten Reise durch das Land sahen, war weniger ermutigend: wenige ärmliche Häuser und Orte. Mein Gedanke damals: ,Mein Gott, wo sind wir gelandet!‘ Meine Schwägerin Trudel und ihr Mann Felix Hainle, die anderthalb Jahre früher aus Kornwestheim ausgewandert waren, holten uns vom Bahnhof ab. Aufgrund ihrer eigenen, schweren Erfahrungen konnten sie uns das Einleben erleichtern. Sie hatten ein Haus gemietet, wir vier bekamen ein eigenes Schlafzimmer. Arbeit und Ausgaben wurden geteilt. Schon am nächsten Tag mußte ich mich auf meinem Arbeitsplatz vorstellen, Trudel hatte das in die Wege geleitet. Was für ein Glück! Es begann mit 50 Cent Stundenlohn für die Spätschicht, von 16.30 bis 24 Uhr plus Anfahrzeit. Erst als Packerin, dann als Eiersortiererin. Der Job kam mir wegen der Kinder gerade recht. Bis zur Ankunft meines Mannes versorgte ich Haushalt und Kinder, dann war er zuständig. Freud und Leid wurden gemeinsam getragen und geteilt. Mein Mann hatte als gelernter Schmied und Kunstschlosser schnell Arbeit gefunden.

Unser erstes Haus hatten wir gemeinsam mit unseren Verwandten gekauft bzw. angezahlt. Ein Jahr später wurde mit kleinem Profit verkauft, und jede Partie kaufte sich ein eigenes Haus. In unserer schlechtesten Zeit, als unser Sohn Gordon geboren wurde, wurde sehr gespart, ich mußte mit einem Minimalbetrag in der Woche auskommen. Für 25 Cent fuhr ich fünf Tage in der Woche mit der Straßenbahn zur Arbeit und zurück. Aber was machte es: Wir waren jung, hatten Mut, Ausdauer und Fleiß. Und gespart wurde nach der ostpreußischen Devise: Eine Frau kann mit der Schürze mehr aus dem Tor tragen, als der Mann mit dem Wagen in die Scheune fährt! Schnell fanden wir Gleichgesinnte, und es wurde an den Wochenenden sehr oft gefeiert. Daheim, lustig und gemütlich. Wir sangen unsere alten schönen Volkslieder, spielten und tanzten zur Musik vom Schifferklavier. Es war eine schwere, aber auch schöne Zeit.

Im Jahre 1960 kauften wir dann Wrought Iron Crafts Ltd. Ich übernahm die Büroarbeit und zum Teil das Ladengeschäft, mein Mann die Werkstatt. Englisch wurde nebenbei gelernt. Geschäftlich ging es aufwärts. Bald zogen wir in ein eigenes Geschäftshaus mit Wohnung, wurden aber 1966 wegen Straßenerweiterung von der Stadt Toronto enteignet. Wieder ein Neuanfang, diesmal in Mississauga. Inzwischen waren ja noch zwei Kinder geboren. Eine besonders große Hilfe erhielten wir durch Dr. L. A. Eckert, einem deutschen Arzt, dessen Eltern aus Siebenbürgen eingewandert waren. Er war auch als Vertrauensarzt für das hiesige Deutsche Konsulat zuständig.

Bis unsere Kinder erwachsen waren, wurde bei uns nur deutsch gesprochen. Ich gab unseren drei Erstgeborenen täglich während der Mittags-Schulpause daheim deutschen Sprach- und Schreibunterricht. Als in Toronto die erste deutsche Sprachenschule gegründet wurde – Mitbegründerin war die Ostpreußin Christa Guschewski –, fuhren unsere drei Ältesten jeden Sonnabendvormittag dorthin. Ortulf, Karla und Gordon machten – neben der englischen Schule – ihr deutsches Abitur. 1967 wurde unsere Kirsten geboren. Frau Guschewski hatte inzwischen in Mississauga die Friedrich-Schiller-Schule gegründet. Dorthin ging Kirsten jeden Sonnabend vom Kindergarten bis zum Abitur. Heute staunen Freunde und Verwandte vor allem in Deutschland, daß meine Kinder so gut die deutsche Sprache beherrschen. Kirsten machte aufgrund dieser Kenntnisse viel schneller in Scheffield, England, ihren Doktor der Psychologie.

Ostpreußen ist für unsere Kinder ein fester Begriff. Eine Ostpreußenkarte, ein alter Stich, hängt in der Vorhalle unseres Hauses. Eine große Stabskarte des Kreises Ortelsburg, das Wappen meiner Heimatstadt und andere ostpreußische Wappen, aus Holz geschnitzt, erinnern immer an unsere Heimat.

Kanada ist mir lieb geworden. Wir besitzen einen kleinen See, sehr fischreich, mit einer kleinen Insel und Biberdamm. Alles sieht unserem geliebten Masuren ähnlich. Auf unserem 432 Morgen großen Gelände mit Wald, See, Busch und Farm konnte mein Mann jagen. Er verstarb leider im Oktober 1998. Wenn ich heute dorthin komme, zieht mein Sohn Ortulf zu meiner Freude meistens neben der kanadischen auch die deutsche Flagge auf. Trotz allem aber hat mein Ortelsburg den ersten Platz in meinem Herzen und bleibt auch dort. Die Erinnerung ist ein Platz, von dem man nie vertrieben werden kann."

Soweit die Lebensgeschichte der Thea Madsen, die mich interessierte, seit wir den ersten Schriftwechsel hatten, denn Frau Madsen hatte sich wegen der Ahnentafel der Familie von Knobelsdorff / Sauerbaum – ihre Großmutter stammt aus der Linie – an unsere Ostpreußische Familie gewandt. Sie selber hat 1990 ihre Heimat besuchen können, das Wiedersehen mit Ortelsburg und den dort noch lebenden Verwandten war schmerzhaft und beglückend zugleich.

Als Thea Madsen diese Zeilen schrieb, war sie gerade von einer Deutschlandreise zurückgekehrt. Eine Reise, auf der es ein Wiedersehen mit der Familie Wienke gab, die den Flüchtlingen damals nach dem Krieg geholfen hatte, was diese nie vergaßen. Als Gastgeber bereiteten ihr Patensohn und seine Frau dem Besuch aus Kanada unvergeßliche Stunden auf Fahrten quer durch die Bundesrepublik Deutschland. Zum Dank schenkte die Ortelsburgerin ein Ostpreußenblatt-Abonnement. Und so werden sie auch diese Geschichte lesen. Im übrigen hofft Frau Madsen, zum großen Ostpreußentreffen nach Leipzig kommen zu können, obgleich sie, wie sie schreibt, reisebehindert ist. Denn das nicht leichte Leben hat auch in ihrem Körper Spuren hinterlassen. Aber ihr Brief, mit soviel Freude und Fröhlichkeit geschrieben, beweist, wie sie das Leben gemeistert hat und noch meistert. Eben eine echte Ostpreußin!

Ruth Geede