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20.05.00 Vor 290 Jahren wurde das Klinikum auf Anregung Friedrich I. gegründet

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 20. Mai 2000


Berlin, 13. Mai 1710: "Es soll das Hauß CHARITE´ heißen"
Vor 290 Jahren wurde das Klinikum auf Anregung Friedrich I. gegründet
Von RUTH GEEDE

Die wilde Pest heert weit und breit, mit Leichen ist die Welt bestreut ...", so beginnt ein Lied aus der Zeit der Großen Pest, der schlimmsten Seuche, die Preußen je heimgesucht hat. Der Schwarze Tod hatte zwar schon in früheren Jahrhunderten zugeschlagen wie 1352, als in Königsberg innerhalb von vier Monaten über 5000 Tote zu beklagen waren oder in den beiden Pestwellen im 16. Jahrhundert, wo allein 1529 der "Englische Schweiß" 25 000 Tote in Ostpreußen forderte, aber die Große Pest verlangte in den Jahren 1709 bis 1711 den schlimmsten Tribut: Von den rund 600 000 Bewohnern Ostpreußens wurden 240 000 von der Seuche dahingerafft.

Schreckensmeldungen vom Aussterben ganzer Dörfer in Alt-Preußen durch die Pest erreichten auch das ferne Berlin. Der preußische König Friedrich I. hatte ihr in das knöcherne Gesicht geschaut, als er im Oktober 1709 von Marienwerder kommend die Pestvögel an den Galgen baumeln sah. Der König ließ eilends ein Collegium sanitas aus Ärzten, Räten und Geistlichen zusammenrufen, die ein Reglement zusammenstellten, "wie es bei jetzigen gefährlichen Pest-Läufften in Städten, Flecken und Dörfern soll gehalten werden". In ihm wird festgelegt, daß "weit außerhalb jeder Stadt, insbesondere in den Residenzen, Lazareth-Häuser zu entrichten sind, an solchen Orten, die luftig seyn und von Winden bestrichen werden können ..."

Und er schreitet sofort zur Tat. Der König stellt aus preußischem Besitz ein Grundstück am nördlichen Spreeufer zum Bau eines Quarantäne-Hauses zur Verfügung. 1710 wird es errichtet: Ein großes, umzäuntes Gebäude mit ausgemauertem Fachwerk, 162 Fuß (50,7 Meter) im Quadrat, zwei Etagen hoch, mit Erkern und Pavillons und einem geräumigen Innenhof. Es ist ein für die damalige Zeit, in der Hygiene und Krankenhausbehandlung in den Spitälern noch sehr im argen lagen – oft mußten sich bis zu acht Kranke ein Bett teilen! –, sehr großzügiger Bau mit gut belüftbaren Räumen, einzeln stehenden Betten und gesonderten Aborten für Kranke und Gesunde.

Das Pesthaus ist errichtet, als der Schwarze Tod die Neumark erreicht hat. Die Berliner geraten in Panik, als in Prenzlau, nur siebzig Kilometer von Berlin, die Pest ihr erstes Opfer gefunden hat. Quacksalber haben Hochkonjunktur, in den Häusern brennen Räucherfeuer, die Stadttore werden verriegelt. Die Dokumente der Einreisenden werden über Räucherfeuer gehalten, ihr Geld in Essigwasser gewaschen.

Aber Prenzlau ist die letzte Station des Schwarzen Todes. Das Pesthaus braucht keinen Kranken aufzunehmen, die Räume für 400 Menschen stehen leer. Es erhält eine neue Funktion: Arme und Kranke werden dort untergebracht, aber auch Streuner und Dirnen, die sich nun mit Spinnen und allerhand Wollarbeit ihr Brot verdienen. Das Pesthaus wird zum "Spinnhaus vor dem Spandowschen Thor". 1713 stirbt Friedrich I. – nicht an der gefürchteten Pest.

Sein Sohn und Nachfolger, König Friedrich Wilhelm I., ist vor allem bemüht um das Heil und die Gesundheit seiner Soldaten. 1713 hat er das "Anatomische Theater" gegründet, an dem in deutscher Sprache gelehrt wird, was an den alten Universitäten Europas belächelt wird. Anatomie ist das Vorrecht der Universitäten, und Berlin hat noch keine Universität. Das anatomische Spektakulum findet im Turm des Marstalls statt. Ärzte und Studenten, Barbiere und Feldschere drücken die Bänke des Hörsaals und werden an lebenden Menschen wie an Leichen in der hohen Kunst der Chirurgie unterwiesen.

Daß der König hier Feldschere ausbilden läßt, beruht auf seinen Erfahrungen beim Pommerschen Feldzug im Nordischen Krieg – übrigens der einzige Krieg, den der "Soldatenkönig" in den 27 Jahren seiner Regierungszeit führt. Sein Leibchirurg Holtzendorff erklärte ihm, daß die meisten Soldaten nicht wegen ihrer Wunden starben, sondern weil sie falsch oder gar nicht behandelt wurden. Holtzendorff schlug vor, am Anatomischen Theater nicht nur Schausektionen abzuhalten, sondern auch Feldschere selbst sezieren zu lassen, ja, sogar besonders Begabte auf ausländische Chirurgenschulen zu schicken.

Berlin besitzt nun ohne Universität eine Medizinhochschule, die es mit jeder medizinischen Fakultät aufnehmen kann. Was den Männern um Holtzendorff fehlt, ist eine Klinik, ein großes Krankenhaus, an dem die angehenden Mediziner am Patienten in Diagnose und Therapie ausgebildet werden. Berlin besitzt in dem ehemaligen Pesthaus ein für diesen Zweck geradezu ideales Gebäude, aber der Soldatenkönig hat andere Pläne: Es soll ein Garnisonlazarett werden. Das wird es auch, aber schließlich setzt sich Holtzendorff durch, und am 18. November 1726 unterzeichnet Friedrich Wilhelm I. die Kabinettsorder, in der "Seine Königliche Majestät in Gnaden erlauben, daß in dem Garnison-Lazarett vor dem Spandowschen Thor auch ein Bürgerlazarett angelegt werden soll ..."

Und der König bestimmt: "Es soll das Hauß die CHARITÉ heißen!" Er setzt diese Worte auf den Rand eines von ihm am 14. Januar 1727 genehmigten Gesuchs der für die Anstalt zuständigen königlichen Armendirektion, die darum bat, das Brotkorn steuerfrei zu beziehen. Denn Charité bedeutet "Barmherzigkeit".

Damals ahnte man noch nicht, daß dieser Name einmal weltweite Bedeutung bekommen würde. Aber die Entwicklung zeichnete sich schon ab: Diese für Europa einmalige Lehrstätte übertraf die meisten der zeitgenössischen Fakultäten an Ausstattung und personeller Besetzung. Sie trug dazu bei, daß Berlin bald den Ruf genoß, sich zu einem bekannten und anerkannten Zentrum der medizinischen Wissenschaften zu entwickeln.

Was im alten Pesthaus begonnen hatte, wurde in dem 1800 vollendeten Neubau der Charité in weit größerem Rahmen fortgeführt. Er war überfällig, denn mit der wachsenden Bevölkerung Berlins waren auch die Anforderungen an die Krankenhäuser und Hospitäler gestiegen. Zwar hatte schon in der Charité jeder Patient sein eigenes Bett, aber die Betten waren eng zusammengerückt, die Stuben überfüllt. Friedrich II. interessierte sich schon für die Medizin, doch für die Charité hatte er kein Geld. Erst 1785, ein Jahr vor seinem Tod, ließ sich der Alte Fritz für den Neubau eines Flügels erweichen. Ein zweiter war 1793 unter Dach und Fach. Unter König Friedrich Wilhelm III. wurde der Bau vollendet. Ein imposantes, für damalige Ansprüche hochmodernes Krankenhaus, das aber bereits 30 Jahre später Alte Charité hieß, weil 1831 die Neue Charité als Erweiterungsbau geschaffen wurde.

1810 war die Berliner Universität gegründet worden. Für die medizinische Fakultät entstanden zunächst von der Charité unabhängige Universitätskliniken. In den folgenden Jahren wurde aber auch die Charité mehr und mehr in den Universitätsbetrieb einbezogen. Als dann 1897 mit dem Bau einer großen Krankenhausstadt begonnen wurde, deren Gesamtentwicklung bis 1916 dauerte, wurden auch die Kliniken der Universität weitgehend eingegliedert. Große ärztliche Leistungen, die Einrichtung spezialisierter Fachabteilungen und die durch Krankenvorstellungen ergänzten theoretischen Lehrveranstaltungen stellten die Klinik auf ein international anerkanntes hohes Niveau.

Die Charité wurde zum Mekka für Kranke, Studenten und Ärzte aus aller Welt. Und weltberühmt wurden auch die Männer, die hier heilten, lehrten und forschten zum Segen der Menschheit: Dieffenbach, Virchow, Helmholtz, Koch, Ehrlich, Behring, Bier, Stoeckel, Sauerbruch, um nur einige zu nennen, setzten Meilensteine für die moderne Medizin. Acht Nobelpreisträger sind der beste Beweis für das, was allein an Forschung an der Charité geleistet wurde. Wir wollen hier zwei Männer herausgreifen, deren Wiege im deutschen Osten stand: Johann Friedrich Dieffenbach und Emil-Adolf von Behring. Dieffenbach wurde als Sohn eines Magisters 1792 in Königsberg geboren und studierte in seiner Heimatstadt Medizin. Bereits damals fand er das Leitmotiv für seine spätere chirurgische Laufbahn: Transplantation. Ehe er aber zum berühmtesten Chirurgen Deutschlands seiner Zeit und zum Schöpfer der plastischen Chirurgie aufstieg, mußte der "wilde Dieffenbach" einen steinigen Weg gehen. Als führender Burschenschafter an der Albertina stand er beim Kultusministerium in Berlin auf der schwarzen Liste.

Hinzu kam noch, daß Dieffenbach sich Hals über Kopf in Johanna Motherby, Gattin des Arztes Dr. William Motherby, verliebt hatte. Die Affäre mit der dreifachen Mutter löste einen handfesten Skandal aus. Über Bonn, Paris und Würzburg kam Dieffenbach 1823 nach Berlin, wo er die Approbation als Arzt und Operateur erhielt. Am liebsten trieb er sich auf Paukböden herum, weil es da abgeschlagene Nasenspitzen und Fingerkuppen gab, die Duellanten wurden seine besten Versuchskaninchen. Schneller als gedacht erfüllten sich seine kühnsten Träume: 1829 wurde er "Charité-Arzt bei der Chirurgischen Station", 1832 war er ordentlicher Professor, er heilte als Erster das Schielen durch Augensehnenschnitt.

Auch Emil von Behring, der erste deutsche Nobelpreisträger der Medizin, stammte aus dem deutschen Osten. Er wurde in Hansdorf bei Deutsch Eylau geboren und erlebte schon als junger Militärarzt in Posen den damals fast aussichtslosen Kampf der Ärzte gegen die Diphtherie, die "Bräune". Tag und Nacht war er unterwegs, um während der dort grassierenden Epidemie bei röchelnden Kindern den Luftröhrenschnitt zu machen. Er ahnte noch nicht, daß er einmal das Heilserum gegen den Würgetod entwickeln würde. Schon während seiner Zeit in Posen kristallisierte sich seine Idee heraus, den Organismus von innen heraus zu desinfizieren, ihn für Bakterien immun zu machen. Es gelangen ihm in Berlin nach zahllosen Tierversuchen zwei große Entdeckungen: das Tetanus-Antidoxin, ein Heilmittel gegen den Wundstarrkrampf, und das Diphtherie-Heilserum. Beide Heilmittel breiteten sich schnell über die ganze Welt aus und machten den Westpreußen für alle Zeit zum "Retter der Kinder und Soldaten".

Geschichte und Geschichten aus der Charité – man könnte Bücher darüber schreiben, wenn sie nicht schon geschrieben wären. Das berühmteste ist die Autobiographie von Professor Ferdinand Sauerbruch "Das war mein Leben", die 1954 verfilmt wurde. In Berlin erlebte Sauerbruch als Ordinarius für Chirurgie an der Berliner Universität und Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik an der Charité die Krönung seiner Laufbahn, die ihm in In- und Ausland eine fast legendäre Bewunderung eintrug, die imer noch ungebrochen ist.

Heute: Der internationale Rufe und der Standort Berlin brachten es mit sich, daß die Charité immer im Blick der Macht lag und durch diese auch mißbraucht wurde. 1992 wurde mit der Neustrukturierung der Charité begonnen, an der sechs Struktur- und Berufungskommissionen arbeiteten. Es ging darum, die Charité zu einer Einrichtung entsprechend dem Berliner Hochschulgesetz zu gestalten. Mit dem Gesetz zur Neuordnung der Hochschulmedizin in Berlin ist die Fusion des Rudolf-Virchow-Klinikums mit der Charité festgelegt. Seit April 1995 sind beide Universitätskliniken als eigenständige Fakultäten unter dem Dach der Humboldt-Univeristät vereinigt und bilden seit drei Jahren eine gemeinsame Fakultät mit dem Namen Charité.

Ein weiter Weg vom Pesthaus bis zur Charité 2000! Heute ist sie das größte Klinikum Europas, das mit 2457 Betten in 50 Kliniken und mit Hilfe von 26 theoretischen Instituten im Jahr rund 100 000 Patienten stationär und 260 000 Kranke ambulant betreut. Sie ist Arbeitsplatz für 10 865 Mitarbeiter, davon 2532 Wissenschaftler. Und sie heißt noch immer Charité – die einzige medizinische Fakultät Europas, die eine Tugend als Programm im Namen führt: Barmherzigkeit!