25.04.2024

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27.05.00 ERZÄHLUNGEN

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 27. Mai 2000


ERZÄHLUNGEN

Lausige Zeiten
Von HEINZ KURT KAYS

Er hieß Jan, und das Jahr hatte bei ihm eine exakt festgelegte Einteilung. Freilich nicht in Tage, Wochen und Monate, wie es sonst üblich war. Nein, Jan hatte andere Gewohnheiten. Vom Frühling bis zum späten Herbst war die Landstraße seine Heimat, und im Winter, wenn es kalt geworden war, beherbergte ihn das Gefängnis einer der masurischen Städte zwischen Lötzen und Ortelsburg.

Dies so prächtig geregelte Leben erfuhr erst eine Unterbrechung, als Jan an einem schwülen Sommertag vor einem herannahenden Gewitter in dem Kirchhof Jablonken Zuflucht suchte. Als sich Blitz und Donner ausgetobt hatten, ergriff er natürlich die Gelegenheit, seiner schmalen Kasse ein wenig aufzuhelfen. Im Dorfkrug nämlich gab es ein gutes Bier und einen verteufelt scharfen Korn, genau das richtige für eine im Staub der Landstraße ausgedörrte Kehle. Jan hatte bereit fünf Teller Suppe gegessen und neben etlichen Speckstücken und Brotscheiben auch ein paar Dittchen im Sack, als das Unheil nahte.

Es kam in Gestalt des Gendarmeriewachtmeisters Willigkeit, dessem geschulten Auge der Landstreicher sofort auffiel. Willigkeit war ziemlich neu in Jablonken, sonst hätte er Jan kennen müssen wie die meisten anderen Dorfbewohner. So aber zwirbelte der Gendarm seinen kühnen Tatarenschnurrbart und schritt zur Verhaftung des "verdächtigen Individuums", wie er Jan in geschraubtem Amtsdeutsch bei sich nannte.

Dieser, dessen Respekt vor der hohen Obrigkeit – bedingt durch seine ständige Winterpension – nahezu unbegrenzt war, folgte ohne Widerstreben zu der kleinen Station, in der Willigkeit zusammen mit dem Polizei-Anwärter Kalubke residierte. Hier ließ sich der Wachtmeister die Papiere des Landstreichers vorlegen. Sie waren zu seiner nicht geringen Überraschung ohne Tadel. Denn Jan – durch Erfahrung klug geworden –hielt in dieser Hinsicht auf Ordnung. Willigkeit versuchte es deshalb auf andere Weise. "Auf Betteln steht hierzulande Gefängnis", sagte er drohend.

Jan breitete mit großartiger Geste die Arme aus. "Betteln", sagte er. "Wie können Sie so was sagen, Euer Gnaden? Haben Sie mich denn gesehen betteln? Möchte ich fragen, wo?" Der Gendarm hatte nicht, wenigstens nicht einwandfrei. Also mußte der Vertreter der örtlichen Polizeigewalt auf etwas anderes sinnen. "Wenn du nicht bettelst, wovon lebst du dann?" fragte er lauernd.

"Man wird sehen", erwiderte Jan gelassen. "Unsereins braucht nicht viel zum Leben." Willigkeit sprang sofort darauf an: "Willst du damit behaupten, daß du kein Geld besitzt?" erkundigte er sich. "Ganz richtig, Euer Gnaden", entgegnete Jan arglos. Die paar erbettelten Groschen zählten doch wohl nicht. Außerdem waren sie in seinen unergründlichen Hosentaschen gut verborgen.

"Aha", meinte der Gendarm befriedigt, denn nun hatte er seinen Mann in der Falle. "Dann kann ich dich ja einsperren. Als mittellosen Landstreicher nämlich. Dafür gibt es eine Bestimmung. Mindestens eine Woche wirst du sitzen müssen." Und er machte sich daran, ein Formular auszufüllen. Jan fuhr ein nicht geringer Schreck in die Glieder. Mitten im schönsten Sommer sollte er in die Zelle? Wo er doch am nahen See eine Angel ausgelegt hatte, an der vielleicht der kapitalste Hecht zappelte! Und wo er sich mit einem Kollegen von der Landstraße treffen wollte, der ihm zwei Pakete Tabak schuldete! Nein, es paßte ihm gar nicht, ausgerechnet jetzt eingesperrt zu werden. Aber was war zu machen, wenn der Herr Gendarm es so wollte? Jan kratzte sich bekümmert den sorgenschweren Kopf.

Und da passierte es! Der Wachtmeister sah es ganz deutlich, und seine Augen weiteten sich ungläubig. Aus Jans wildwuchernder Haarwirrnis fielen, durch das Kratzen aufgeschreckt, zwei leibhaftige Läuse. In Panik liefen sie über das Protokoll, das Willigkeit gerade zu unterschreiben sich anschickte, und verschwanden eiligst in einer Ritze des Holztisches. Der Gendarm folgte ihnen mit entsetzten Blicken. "Mann", rief er, "du hast ja Läuse!"

Jan nickte voller Gleichmut. "Kann sein", sagte er und begriff nicht, wieso der Herrn Gendarmeriestationsvorsteher plötzlich so aufgeregt war. Läuse, das war doch etwas Natürliches; Läuse, die bekam man schon mal, wenn man monatelang auf der Landstraße lag. Das war unabänderlich, dagegen ließ sich nichts tun. Außerdem, was war schon groß dabei?

In Willigkeits Kopf hingegen überschlugen sich die Gedanken. Man hatte in Jablonken nur eine Arrestzelle. Nahm man den Burschen auf, wurden Decken und Pritsche unweigerlich verdorben. Außerdem lag der Raum direkt neben dem Dienstzimmer. Das bedeutete, man würde sich über kurz oder lang selbst mit den lästigen Tierchen auseinandersetzen müssen. Nicht auszudenken, diese Scherereien! Andererseits durfte ein mittelloser Landstreicher zwar eingesperrt, aber nicht einfach davongeschickt werden. Das war gegen die Vorschriften, und die haben einen Beamten heilig zu sein.

Es war schon ein ausgesprochenes Dilemma, in dem sich der Gendarmeriemeister Willigkeit urplötzlich befand. Hätte er doch diesen Kerl bloß nicht festgenommen! Aber das war nun nicht mehr zu ändern! Irgendwie mußte man aus der Sache herauskommen. Willigkeit beriet sich lange und ausgiebig mit seinem Untergebenen Kalubke. Gemeinsam fanden sie den Ausweg.

Der Polizeigewaltige zerriß vor den erstaunten Augen des Landstreichers das Verhaftungsprotokoll. Dann langte er in die Tasche und zog zwei Markstücke hervor, ein drittes steuerte Kalubke bei. So lag also ein ganzer Taler auf dem Tisch und mit diesem Geld ließen sie Jan laufen. Denn nun war den Vorschriften vollauf Genüge getan. Der Landstreicher war ja nicht mehr mittellos, zumal man zu dieser Zeit für einen Groschen ein halbes Dutzend Eier erstehen konnte und für zwanzig Pfennig eine Portion Schinken.

Jan trollte sich erleichterten Herzens aus der Gendarmeriestation. Unternehmungslustig klingelte er mit den Münzen in seiner Tasche und lenkte seine beschwingten Schritte zum Dorfkrug. Nach dem dritten Bier und einem doppelten Korn hatte er endlich begriffen, was ihm passiert war.

Und das bildete den Anfang einer Geschichte, die ziemlich lange spielte. Schon wenige Tage später kratzte sich Jan den Kopf auf der Polizeistation in Grünwiese. Eine Woche drauf tat er das gleiche in Marmeln und bald darauf in Muschaken. Es klappte immer, denn Läuse vermehren sich rasch. Und Jan hatte noch nie soviel Geld in der Tasche wie in diesem wahrhaft gesegneten Sommer.

Eines Tages jedoch ging dieses nahezu paradiesische Dasein zu Ende, und Jan trug selbst die Schuld daran. Denn er kratzte sich den Kopf auch bei der Polizei in Neidenburg. Dabei hätte er wissen müssen, daß Neidenburg eine Stadt war, eine Kreisstadt sogar. Und dort gab es auch eine Entlausungsanstalt …

 

"Wetten daß …" auf ostpreußisch
Von MARGOT KOHLHEPP

Hermann Kröger schloß die Poststelle ab. Einst hatte ihn das Schicksal von Westfalen in den Osten verschlagen. Da ihm das ostpreußische Städtchen und besonders Martha gefielen, blieb er dort, gründete eine Familie und wurde im Postamt Chef über vier Angestellte, alle Briefmarken und die Postsäcke.

Zu Hause erwartete ihn sein vierfaches Weibervolk, Martha und die drei Kinder: zwei hübsche Mädchen im Backfischalter und der Nachkömmling, der nur "Pummelchen" genannt wurde, ein von allen verwöhnter rundlicher Sonnenschein.

"Guten Abend, Vati!" klang es im Chor. "Na, ihr Rangen." Er klapste seiner Frau leicht auf die Schulter. "Mit euch beiden Großen wette ich um euern Pudding morgen, daß ich in den Hausaufgaben wieder Fehler finden werde. Holt sie mir mal her! Und du, Pummelchen, mit dir wette ich um den süßen Betthupfer heute abend, daß du am längsten am Abendbrottisch sitzen wirst." – "Meine Güte, Hermann, geht es denn nicht auch einmal ohne die ewige Wetterei?" Aus Marthas Vorwurf machte er sich wenig. Einer ging ins Wirtshaus, ein anderer rauchte, und er wettete eben gerne.

Am nächsten Tag war das Wetter so schön, daß die Familie "Luft schnappen" wollte. Die beiden älteren Mädchen fanden Ausreden und konnten sich mit Erfolg drücken. Der Jüngsten war es gleich, sie trottete hinter ihren Eltern her. "Hallo, Martha, wie geht es?" rief Frieda Wohlfromm ihrer ehemaligen Schulfreundin zu. "Sieh mal, was ich heute gefunden habe. Meine schönste Murmel aus der Kinderzeit." Sie reichte die Glaskugel aus dem Fenster, groß war sie und in der Mitte mit roten und blauen Fäden durchzogen. Ein Prachtstück! Während die beiden Frauen von früher sprachen, hörte Pummelchen von ihrem Vater: "Ich wette um fünfzig Pfennig, daß die Kugel nicht kaputt geht."

Fünfzig Pfennig ist viel Geld. Versonnen geht Pummelchen um die Hausecke und wirft die Murmel mit ganzer Kraft auf den Pflasterboden. Immer wieder. Peng, jetzt ist sie in zwei Teile zersprungen. Glücklich läuft die Kleine zu ihrem Vater, um den versprochenen Lohn einzufordern. Ein doppelter Aufschrei der Frauen, und Hermann tritt peinlich berührt von einem Fuß auf den anderen.

Schnell setzten sie ihren Spaziergang zum Wald hin fort. Es war Pflanzzeit. Man sah von weitem, wie ein Anzahl Frauen auf dem Boden kniete und Setzlinge in die Erde brachte. Förster Grigull lehnte an einem Baum. Sein dröhnendes Lachen und das Gequietsche der Frauen wehte zu ihnen hinüber. "Ich wette um eine Mark, daß die dort Männerwitze erzählen." Da Martha den Ärger mit der Murmel noch nicht vergessen hatte, sagte sie zur Überraschung ihres Mannes: "Ich setze zwei Mark dagegen." Sie ließ sich auf einen Stubben nieder, Pummelchen pflückte Blumen, und das Familienoberhaupt marschierte zum Förster, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Grigull klärte ihn von Mann zu Mann auf. Die dralle Frau Witt, eine der Waldarbeiterinnen, hatte eine Pause eingelegt und gab im Dickicht einem großen Jungen aus dem Dorf privatissimum Unterricht in einem Fach, das in der Schule nicht gelehrt wurde. Hermann eilte zu den Seinen zurück. Vergnügt zückte er die Geldbörse und übergab Martha zwei Mark. Noch nie hatte diese erlebt, daß eine verlorene Wette ihren Mann erheiterte.

Eine angeheiratete Kusine war gestorben, und für Martha war es selbstverständlich, an der Beerdigung teilzunehmen. Die Familie mußte eben zwei Tage ohne sie auskommen. Für sie selber hatte das Wiedersehen mit den weitverstreuten Verwandten und die Aussicht, einmal ohne Mann und Kinder zu sein, trotz des traurigen Anlasses, etwas Verlockendes. Hermanns einziger Kommentar: "Ich wette um eine Mark, daß Onkel Fritz sich kein Wort zu sagen traut unter den strengen Blicken seiner boshaften Alten."

Was machten aber die Daheimgebliebenen? Ausgerechnet an einem dieser Tage stand die Geburtstagsfeier von Lehrer Reuter an. Hermann sollte mit Pummelchen hingehen. Die Männer würden wie stets Skat spielen, und das Kind hatte dort genügend Spielgefährten. Es wurde dann wirklich ein heißer Skat gedroschen und dazwischen wieder: "Na, noch ein Kornchen kann nicht schaden" gesagt und das auch gekippt.

Die Dämmerung hatte eingesetzt, die Kleine sich ausgiebig mit Kartoffelsalat satt gegessen, und es wurde höchste Zeit für sie, ins Bett zu kommen. Ihr Vater hob sie schwankend auf den Gepäckträger und mühte sich, selbst das Fahrrad zu besteigen. Dieses schien aber eine eigenen Willen zu haben. Hob er das Bein zum Aufsteigen, wich ihm glatt das Stahlroß aus.

"Herr Kröger, so wird das nichts. Schieben Sie das Rad!"

"Ich wette, jajajawohl, ich wette um drei Mark, sogar um fünf Mamamark, daß ich fahren kann." Mit schiefem Schwung saß er endlich auf und zickzackte von dannen. Es gelang auch gut bis zum kleinen Abhang. Erst zick, bei zack war aber bereits rechts der Abhang, und Vater und Tochter landeten nach kurzem Flug unten im Gras. Hermann hatte es absolut die Sprache verschlagen. Pummelchens helles Stimmchen dagegen erklärte ganz nüchtern, nachdem sie den Riß in ihrem Sonntagskleid und das leicht verbogene Vorderrad begutachtet hatte: "Ich wette um hundert Mark, daß es Ärger mit Mama gibt."

 

Der zwölfte Fahrgast
Von Albert Loesnau

Die Katze aus weißem Porzellan hatte bernsteinfarbene Augen. Sie stand seit gestern auf dem obersten Brett des Wandregals. Holger warf ihr nur einen kurzen, mißmutigen Blick zu, als er durchs Wohnzimmer in die Küche ging. Antje hantierte am Spülbecken herum. Sie hatte anscheinend schon gefrühstückt. Der Tisch war nur für eine Person gedeckt. Holger nahm es wortlos zur Kenntnis. Er aß ein Brötchen, trank eine halbe Tasse Kaffee und stand auf.

"Ich fahre heute vormittag zu Onkel Heinrich auf die andere Seite des Stroms hinüber", sagte Antje. Sie wartete offensichtlich auf eine Antwort Holgers. Doch der nickte nur stumm und ging hinaus. Seine Schritte verhallten auf der Treppe.

Während Holger die Straße überquerte, schaute er nicht zu seiner Frau zurück, wie er es bisher jeden Morgen getan hatte. Auch als er um die Ecke bog, widerstand er der Versuchung, sich noch einmal umzudrehen. Er konnte Antje nicht verzeihen, daß sie ihn enttäuscht hatte. Zum erstenmal in ihrer Ehe waren harte Worte gefallen. Es hatte keine Versöhnung vor dem Einschlafen gegeben. Und schuld an allem war die Katze aus weißem Porzellan. Antje hatte sie gekauft, obgleich sie sich versprochen hatten, keine unnötigen Ausgaben zu machen. Das gesparte Geld sollte für die Anzahlung ihres ersten Autos zurückgelegt werden.

Voller Ungeduld wartete Holger schon darauf, endlich einen eigenen Wagen zu besitzen, um mit den Kollegen über Hubraum und Pferdestärken zu reden. Das wußte Antje doch auch. Um so überraschter war Holger, als er gestern nach Hause kam und die Katze mit den bernsteinfarbenen Augen auf dem Wandregal entdeckte. Antje hatte sie gekauft, weil sie ihr so gut gefiel. Von Onkel Heinrich hatte sie das Geld geschenkt bekommen. Doch anstatt es in die Autokasse zu stecken, erwarb Antje damit diesen völlig überflüssigen Staubfänger, der nach Holgers Meinung nutzlos in der Wohnung herumstand.

Antje widersprach. Sie behauptete, daß zu einem gemütlichen Heim auch verspielte Kleinigkeiten gehörten, an denen man sich erfreuen konnte. Dafür hatte Holger jedoch nicht das geringste Verständnis.

Die erste heftige Auseinandersetzung in ihrer jungen Ehe endete mit tiefem Schweigen. Holger war fest entschlossen, keinen Schritt zur Versöhnung zu tun, solange Antje ihr Unrecht nicht einsah …

Nebliger Dunst lag über dem Hafen, als er ins Büro der Reederei kam. Der Vormittag zog sich endlos dahin. Immer wieder beschäftigten sich Holgers Gedanken mit Antje und lenkten ihn von seiner Arbeit ab. Mitten im Diktat eines Briefes wurde er vom anhaltenden Ton einer Sirene aufgeschreckt.

Er eilte ans Fenster und sah das Boot der Hafenfeuerwehr mit schäumender Bugwelle den Strom hinauf fahren. In den schrillen Sirenenton mischte sich das alarmierende Dröhnen von Dampfersignalen.

Der Botenjunge der Reederei stürmte ins Büro. "Das Fährboot ist gekentert!" rief er aufgeregt. "Es wurde mitten im Strom von einem Schlepper gerammt …"

Ein eisiger Schreck durchzuckte Holger. Antje hatte gesagt, daß sie mit dem Fährboot zu Onkel Heinrich fahren wollte, der auf der anderen Seite des Stroms wohnte. Das Boot dorthin verkehrte nur einmal am Vormittag.

Holger griff zum Telefon und rief zu Hause an. Endlos ertönte das Rufzeichen. Antje meldete sich nicht. Kurz entschlossen verließ Holger das Kontor. Er lief zur Anlegestelle des Fährbootes hinunter und drängte sich durch die Menschenmenge, die die Bergungsarbeiten auf dem Fluß verfolgte.

Neben dem Feuerwehrboot hatten sich auch einige Barkassen an der Unglücksstelle versammelt. Sie war durch einen großen Ölfleck gekennzeichnet. Mit Leinen und Rettungsringen zog man die Fahrgäste aus dem Wasser. Sanitätswagen hielten auf dem Kai. Mehrere Barkassen näherten sich dem Ufer.

Es gelang Holger zu einem Beamten der Hafenpolizei vorzudringen. Der Mann hörte ihm aufmerksam zu. "Vermutlich sind alle Fahrgäste gerettet worden", erklärte er beschwichtigend. "Sie brauchen sich um Ihre Frau keine Sorgen zu machen."

Nacheinander wurden die Verunglückten an Land gebracht. Als letzter betrat der Steuermann des Fährbootes den Kai. Die Passagiere wurden gezählt. Es waren zwei Frauen und neun Männer. Der Steuermann schüttelte bestürzt den Kopf.

"Ich habe zwölf Fahrscheine verkauft", sagte er und musterte die Geretteten noch einmal genau. "Kurz vor der Abfahrt kam noch eine jun- ge Frau an Bord. – Aber sie ist nicht hier …"

Holger faßte ihn am Arm. "Eine junge, blonde Frau?"

"Ob sie blond war, weiß ich nicht", erwiderte der Steuermann. "Sie hatte die Kapuze ihres Mantels hochgeschlagen…"

Holger erstarrte. Antje besaß einen Kapuzenmantel. Sie mußte der zwölfte Fahrgast gewesen sein!

Holgers Herz schlug schnell und hart. Antje hatte heute morgen sicherlich auf ein versöhnliches Wort von ihm gewartet. Aber er war gegangen, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen.

Weshalb hatte er sie nicht verstanden? Warum gönnte er ihr die Freude an der Porzellankatze nicht? Er war egoistisch gewesen, hatte nur an sich gedacht …

Die Menschenmenge geriet in Bewegung. Eines der Hilfsschiffe legte am Pier an. Eine Frau wurde auf einer Trage an Land gebracht. Sie trug einen Mantel mit Kapuze. Langes, schwarzes Haar lag durchnäßt auf ihren Schultern.

"Sie lebt", sagte der Arzt, der sie betreute. "Aber sie muß schnell ins Krankenhaus."

Befreit atmete Holger auf. Antje war nicht der zwölfte Fahrgast gewesen. Ungestüm bahnte Holger sich einen Weg durch die Menge. Er lief den Kai entlang, sprang in ein Taxi und nannte dem Fahrer seine Adresse.

Als er in den Hausflur stürzte, bemerkte er eine Gestalt, die vor ihm die Treppe hinaufstieg: Antje!

Holger eilte ihr nach und hielt sie fest. "Wo bist du gewesen?" rief er atemlos.

Antje sah in verwirrt an. "Ich war im Geschäft, in dem ich die Porzellankatze gekauft habe", erklärte sie und deutete auf ein Paket in ihrem Arm. "Aber sie haben sie nicht zurückgenommen. Ich will sie jetzt verschenken, weil du sie nutzlos und häßlich findest …"

Holger schüttelte heftig den Kopf. "Nein – wir werden sie behalten", sagte er. "Es ist die schönste, wertvollste Porzellankatze der Welt – denn sie hat dich davor bewahrt, heute vormittag mit der Fähre zu fahren!"

Während sie in die Wohnung gingen, berichtete Holger, was sich mit dem Fährboot zugetragen hatte. Dann nahm er das Paket, das Antje immer noch in der Hand hielt, wickelte die Porzellankatze mit den bernsteinfarbenen Augen vorsichtig aus dem Papier und stellte sie auf das oberste Brett des Wandregals zurück.

 

Der Duft von Holz
Von WILLFRIED ROYLA

Wenn auch vieles aus meiner Lycker Kinderzeit im Meer der Erinnerungen versunken ist, so gibt es zuweilen Momente, wo manche längst vergessene Gegebenheit ganz unerwartet wieder auftaucht, wie zum Beispiel: der Böttcher Wnuk.

Dieser liebenswerte alte Mann lebte und wirkte unweit des elterlichen Hauses. Er war noch einer von jenen Handwerkern, die in das Holz gewissermaßen hineinkriechen. Nicht selten beschwor er es und schimpfte mit ihm, wenn es seinen zupackenden Händen nicht gehorchte. Dennoch bearbeitete er es in liebevoller Weise, bis Teil für Teil die gewünschte Form annahm. Das Ergebnis seines handwerklichen Treibens waren Kübel, Tonnen, Bottiche, Wannen, Tröge, Eimer, Mulden u. a. m. aus Kiefer, Buche, Eiche. Aber auch Pappel- und Weidenholz fanden bei ihm Verwendung.

Was den meisten Menschen fremd ist, machte dieser alte Handwerker mir bereits damals bewußt: den ganz unterschiedlichen und ausgeprägten Duft der einzelnen Holzarten. Mein Schulweg führte mich täglich an seiner Werkstatt vorbei. In den Sommertagen verrichtete er die Arbeit fast ausschließlich auf dem Vorplatz, der zur Straße hin offen war. Schon meine kindliche Neugier machte mich stets geneigt, da ein wenig zu verweilen. Mit der Zeit hatte sich hierbei so etwas wie ein Ritual entwickelt. Am Duft ließ mich Meister Wnuk die Holzart erraten. Fast zärtlich verdeckte er mir mit seiner Hand, die sonst wie ein Schraubstock fungierte, die Augen, mit der anderen hielt er mir eines seiner Hölzer unter die Nase, zuweilen meinte er dann: "Jungchen, hast’ne gute Näs’."

Wenngleich jene da gemachten Erfahrungen auch nur sinnlicher Art waren, so ist zu vermuten, daß bereits damals mein besonderes Verhältnis zum Holz, wie ich es zu keinem anderen Werkstoff bekam, begründet wurde.

Bei meinen Expeditionen durch des Böttchers Wirkungsstätte nahm mich stets der Anblick der vielfältigen Werkzeuge gefangen, die wie soeben gebraucht im Raum lagen, in den Regalen verstaut oder an der Wand griffbereit in preußischer Ordnung ihren Platz hatten. Trotz der vielen Erklärungen stellte sich bei mir auch nicht der Hauch einer Ahnung ein vom Gebrauch und Nutzen dieser urigen Apparate und Werkzeuge. Alles klang so absonderlich und fremd, Zweck und Bezeichnung gerieten darum auch gar bald in Vergessenheit.

Doch meine neugierigen Blicke in die Regale und in die da gestapelten Kästchen, oftmals mußte ich mich dafür auf die Zehenspitzen stellen, bereiteten dem alten Mann ein sichtliches Vergnügen. Immer wieder sah ich Schachteln und Schubladen, schmale und breite, mit geheimnisvollen Inhalten: Nägel, verzinkte Bolzen, große, kleine, matt glänzende Beschläge, in der Ecke aufgerollte Bandeisen nach Breite und Dicke geordnet ... Alles war gewaltig und beeindruckend. Ein Gefühl der Ehrfurcht machte sich in meiner Kinderseele breit, auch gegenüber diesem wackeren alten Mann ... – und über allem schwebte der wunderbare Duft des Holzes.

Mit der Flucht im August 1944 endeten diese Begegnungen. Ob das schon recht betagte Ehepaar Wnuk in jenen Tagen unsere Heimatstadt Lyck auch verlassen hat, ist mir nicht bekannt.