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03.06.00 Das Geheimnis des Einhorns

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 03. Juni 2000


Das Geheimnis des Einhorns
Von ESTHER KNORR-ANDERS

Alle Fabelwesen sind der menschlichen Phantasie entsprungen. Realiter hat sie es nie gegeben. Dennoch sind sie seit Urgedenken in den Mythen der Völker existent, und in manchen Träumen schaffen wir sogar neue, die außer dem Träumenden niemand gesehen hat noch je sehen wird. In ihrer langen Geschichte fungierten Fabelwesen sowohl als Feindbilder wie auch als Wächtersymbole, einzelne wurden zu hohen Idealen stilisiert. Zu Letzteren zählt das Einhorn. Kein anderes Fabeltier strahlt solchen märchenhaften Reiz aus, ist so schön. Ob auf Gemälden, Gobelins, als Skulptur – stets tritt es in anmutiger Bewegung in Erscheinung.

Von dem weißen, schmalen Roß mit dem spitzen Stirnhorn wird bereits in antiken Schriften berichtet, und zwar als springlebendiges Geschöpf der Natur; man wollte eben glauben, dem Märchenroß leibhaftig begegnen zu können. – Für gleiche Erwartung steht heute die schottische Nessie im Loch Ness. – Namentlich wird das Einhorn im Alten Testament im Buch Hiob (39,4–11) erwähnt. Im Hebräischen wird das Tier "Rem" genannt. Bei der Übersetzung der Schrift ins Griechische erhielt es die Bezeichnung "Monoceros"; Luther wiederum gab ihm bei der Übertragung der Bibel ins Deutsche den Namen "Einhorn". Und dabei blieb es bis auf den heutigen Tag.

Das einzige auf Erden anzutreffende Tier mit nur einem Horn ist das indische Panzernashorn, von ihm ließ sich jedoch Phantasie nie beeindrucken. Die Tatsache, daß nirgendwo ein Einhorn gesichtet worden war, hinderte die Menschheit nicht, die reale Existenz des Fabeltieres als gegeben anzusehen, nach ihm in tiefer Waldeinsamkeit zu jagen. Das erwies sich als schwierig, denn das scheue Tier – diese Barriere baute der Mythos ein – konnte nur zu Füßen einer Jungfrau gefangengenommen werden, es wurde von ihrer Unberührtheit magisch angezogen. – Mythos und Symbolik der "Dame mit Einhorn" werden später geschildert.

Bei der Jagd ging es vornehmlich um das Horn, dem wundertätige medizinische und talismanartige Eigenschaften zugesprochen wurden: Es sollte Wasser reinigen können; alle Tiere des Waldes tranken nur aus einer Quelle, in die das Horn getaucht worden war. Darüber hinaus sollte die Hornsubstanz Gift in Speisen und Getränken erkennbar machen. Kein Wunder, daß sich Könige und die Reichen dieser Welt um den Besitz eines Horns mühten. Und sie erhielten es auch. Umsichtige Kaufleute machten es möglich. Sie brachten den spiralig gefurchten, meterlangen Stoßzahn des Narwals oder "See-Einhorns" auf den Markt und schrieben ihm kurzerhand die Wunderkräfte des geheimnisvollen Einhorn-Horns zu. Ob der Ähnlichkeit der Hörner und weil gegen Phantasiegewalt kein Kraut gewachsen ist, wurde das weltweit geglaubt.

Viele dieser Hörner gelangten in den frühen Jahrhunderten in die Schatzsammlungen von Schlössern und Kirchen. Die Markuskirche in Venedig besitzt drei solcher Hörner, und der Stolz des Victoria-und-Albert-Museums zu London ist ein mit romanischen Schnitzereien verziertes Narwalhorn.

Wohin der Wunderglaube führte, gibt eine englische Legende wieder. König Jakob I. (1566–1625) ließ Einhornpulver in ein vergiftetes Getränk mischen, das sein Diener probieren mußte. Stracks fiel dieser tot um. Der König sah sich getäuscht, schäumte vor Wut ob des Preises, den er für das Horn gezahlt hatte und gab – diktatorischer Mentalität entsprechend – dem Diener die Schuld, gestorben zu sein. Noch bis zur Revolution von 1789 war es Praxis am Hof der französischen Könige, das Horn zum Nachweis von Gift zu verwenden, besaß man davon nur einen Span, tunkte man diesen, selbstverständlich kostbar gefaßt, ins Essen und in Getränke. Als Schadensabwehrzauber, als Talisman wurden Einhornsplitter zu Schmuck gestaltet und Tag und Nacht am Leib getragen. Die Überzeugung von den Heilkräften des Horns ließ die Pharmazeuten tätig werden, das Einhorn avancierte zum Namensgeber und beliebten Ladenschild der Apotheken. Kein Mensch wollte daran erinnert werden, daß der scholastische Gelehrte und Bischof Albertus Magnus (1193–1280) einst geraten hatte, das Horn gründlich zu untersuchen.

Der Siegeslauf des mythischen Horns hielt an. Sogar in die Heraldik wurde es aufgenommen. Auf Wappen (im britischen Wappen das Symbol für Schottland), Schilden, Münzen triumphierte das Einhorn. Ende des 14. bis Ende des 16. Jahrhunderts war es Wasserzeichen edlen Papiers: "In reinem Wasser geschöpft", ein Qualitätsnachweis. Als Druckerzeichen, Verlagssignet fand das Einhorn in Deutschland noch im 20. Jahrhundert Verwendung.

Kehren wir ins Mittelalter und seiner Interpretation des Einhorns zurück. John Cherry schrieb dazu: "Da das Einhorn nur von einer Jungfrau gefangen werden konnte, wurde es niemals zusammen mit einer Frau, die sexuelle Erfahrungen besaß, dargestellt." Das könnte erklären, warum das Einhorn "zum Symbol eines keuschen und enthaltsamen Lebens wurde". Man ging sogar so weit, das Fabeltier mit Christus in Verbindung zu setzen. Der heilige Basilius (um 330 bis 379), Bischof von Caesaria, äußerte, daß Jesus "der Sohn des Einhorns genannt wird, weil das Einhorn, wie wir aus Hiob ersehen, von unwiderstehlicher Macht und dem Menschen nicht unterworfen ist". Die Legende, daß es die Wildheit verliere, wenn es sein Haupt in den Schoß einer Jungfrau lege, wurde auf Maria übertragen. In spätmittelalterlichen Darstellungen erschien es oft anstelle des Verkündigungsengels. Die Reformation lehnte die Verquickung des Einhorn-Mythos mit der christlichen Lehre ab. Gleichzeitig mit der Keuschheitssymbolik war im Mittelalter auch eine weltliche Interpretation in Umlauf, die im "Einhorn mit Dame" den "Triumph der irdischen Liebe" zu entdecken glaubte. Diese Doppeldeutigkeit verlieh dem Einhorn irisierende Faszination. Und so ging es in die Kunstgeschichte ein.

Unter den unzähligen Darstellungen gilt als eine der berühmtesten eine Serie Gobelins aus dem 15. Jahrhundert im Cluny-Museum in Paris. Auf einem der sechs Gobelins sitzen Dame und Einhorn auf einer Blumenwiese, werden von aus Himmelsbläue niederfallenden Blüten überrieselt, ein Früchtebaum schüttelt die Zweige. Die kostbar geputzte Dame hält dem Einhorn einen Spiegel entgegen, in dem es seinen Liebreiz wahrnimmt. – 1906 schuf der Amerikaner Arthur Bowen Davies sein Gemälde "Unicorns". In elysischer Landschaft am Meer ziehen drei Einhörner den beiden wartenden Frauen entgegen, mit Blumen werde ihre Hörner bekränzt werden. Eindeutig erotischen Charakters sind zwei Bildwerke in der Engelsburg zu Rom, entstanden um 1500. Die Damen zeigen sich zur Gänze entblößt, in spielerisch-lasziver Gebärde mit dem Einhorn.

Verständlicherweise inspirierte das Fabeltier die Dichter. Wolfram von Eschenbach nahm es in seine Parzival-Erzählung auf. Rainer Maria Rilke huldigte ihm in einem Sonett von 1923: "Oh dieses Tier, das es nicht gibt / Sie wußtens nicht und habens jeden Falls / sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals, bis in des stillen Blickes Licht geliebt." Merkwürdige Zeilen widmete ihm Garcia Lorca: "Durch das kleine Gäßchen kommen sonderbare Einhörner. Welchen Feldes, welchen Mythenwaldes sind sie?"

Ja, wo entstand ihr Mythos? In Persien wurden sie als Sinnbild des Mondes verehrt; in China wurde das schimmernde Roß "Quilin" genannt und vereinigte in sich männliche und weibliche Natur. In Indien existierte das Einhorn mit dem Namen "Karkadann", die Spitze des Horns leuchtete purpurrot. Durch alle Mythen geisterte das Einhorn als scheuer Einzelgänger, versehen mit wundersamen Kräften; überall liebte man es; Edward Topsell drückte es 1610 in "Historie of Foure-Footed Beastes" treffsicher aus: "Gott selbst muß getadelt werden, falls es keine Einhörner gibt."