29.03.2024

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10.06.00 Regierungskrise beruht wesentlich auf privater Uneinigkeit der Politiker

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 10. Juni 2000


Warschau: Kleiner Stil im "großen Land"
Regierungskrise beruht wesentlich auf privater Uneinigkeit der Politiker

Mit Erstaunen und Verärgerung verfolgt man in den europäischen Hauptstädten die polnische Regierungskrise, die in der Tat auch recht merkwürdige Züge annimmt. Da wollten fünf Minister der Wirtschaftsliberalen Partei zuerst zurücktreten, doch dann erklärten sie, sie seien zur Fortsetzung der Koalition bereit – allerdings unter der Bedingung, daß Buzek nicht mehr Premierminister bleibt. Obendrein hatte der konservative Regierungsschef Jerzy Buzek auch noch das Rücktrittsgesuch abgelehnt. "Ich erwarte von den Regierungsmitgliedern die volle Pflichterfüllung für den Staat", sagte er vor Journalisten in Warschau. Eine Entlassung der Minister der liberalen "Freiheitsunion" (UW) zu diesem Zeitpunkt sei unverantwortlich und werde den Interessen des Landes schaden.

Kurz zuvor hatte der Vorsitzende der UW, Finanzminister Leszek Balcerowicz, sein Rücktrittsgesuch und zugleich die Entlassungsgesuche seiner vier anderen liberalen Kabinettskollegen eingereicht. Außenminister Bronislaw Geremek, Verteidigungsminister Janusz Onyszkiewicz, Justizministerin Hanna Suchocka und Verkehrsminister Tadeusz Syryjczyk kündigten damit ihren Rückzug aus der bisherigen Mitte-Rechts-Regierung an. Buzek, der dem Parteiblock Wahlbündnis Solidarität (AWS) angehört, sprach sich außerdem für eine sofortige Aufnahme von Gesprächen zwischen AWS und UW aus. Seine Person solle einer Erneuerung der Koalition nicht im Wege stehen, betonte Buzek.

Staatspräsident Aleksander Kwasniewski kritisierte unterdessen indirekt das Verhalten Buzeks. "Das passiert alles nicht in einem Stil, der einem großen Land in der Mitte Europas angemessen ist", betonte er. Bis zu ihrer offiziellen Entlassung wollten die Minister weiter ihre Ämter ausüben. Allerdings hätten die Liberalen eine Erneuerung der Koalition nicht ausgeschlossen und ihre Bereitschaft zu neuen Regierungsverhandlungen betont.

Die Krise war vollends offen ausgebrochen, nachdem Buzek einen kommissarischen Verwalter für die Warschauer Stadtverwaltung eingesetzt hatte. Zuvor hatte eine Pattsituation die Arbeit der größten und reichsten Kommunalverwaltung Polens über Monate gelähmt. Die UW warf Buzek einen Eingriff in die Autonomie der Selbstverwaltung und Rechtsverletzung vor.

Dies wirft die Frage nach den Ursachen der Krise auf. Was sind die Motive der Minister für ihren Rücktritt? Nun, die Wirtschaftsliberalen behaupten wenigstens, daß es sachliche Meinungsverschiedenheiten gibt. Die Liberalen drängen auf rasche marktwirtschaftlich orientierte Reformen – und dies auch und gerade mit Blick auf die EU-Osterweiterung. Sie werfen Buzek vor, daß er die Reformen nicht mit dem notwendigen Nachdruck angehe. Die Liberalen wollen insbesondere einen durchsetzungsfähigen Regierungschef, der diejenigen konservativen Abgeordneten bei Abstimmungen diszipliniert, die wiederholt gegen die straffe Sparpolitik von Balcerowicz, die marktwirtschaftlichen Reformen und eine beschleunigte Annäherung an die EU gestimmt hatten.

Buzek hingegen will die anstehenden Reformen sozialpolitisch abfedern; er steht da ohnehin unter Druck der Ex-Kommunisten, die heute unter dem Namen SLD firmieren und ohnehin Stimmung gegen eine Privatisierung der polnischen Betriebe machen.

Bei der Suche nach Motiven für die Rücktrittsgesuche darf aber auch nicht vergessen werden, daß in Polen fast jedes Jahr ein Premierminister stürzt. Und Beobachter berichteten, daß ohnehin schon lange die persönliche Chemie zwischen Buzek und Balcerowicz nicht mehr stimmte. Die wahren Gründe der Krise sind also weniger die sachlichen Differenzen als vielmehr die Neigung vieler polnischer Politiker, ihre Eitelkeiten hemmungslos auszuleben.

Sowohl für die Partei Solidarität als auch für die Wirtschaftsliberalen wären Neuwahlen derzeit keine erstrebenswerte Alternative: In den Meinungsumfragen der vergangenen Wochen und Monate wären die Sozialdemokraten klare Sieger, vor allem die AWS mußte massive Stimmenverluste hinnehmen.

Unterdessen hat die Regierungskrise erste internationale Auswirkungen. Ein geplantes Treffen der Finanzminister Polens, Deutschlands und Frankreichs im Rahmen des "Weimarer Dreiecks" mußte abgesagt werden. Friedrich Nolopp