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24.06.00 Rußland und die Vergangenheitsbewältigung im Baltikum

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 24. Juni 2000


Der Fall Kononow: Partisanen und Politiker
Rußland und die Vergangenheitsbewältigung im Baltikum
Von Martin Schmidt

Der Fall des einstigen sowjetischen Untergrundkämpfers Wassilij Kononow ist bezeichnend für die prekären Rahmenbedingungen einer strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung im Baltikum.

Seitdem das Rigaer Bezirksgericht unter tumultartigen Zuständen im Gerichtssaal den lettischen Staatsbürger Kononow am 21. Januar wegen Kriegsverbrechen zu einer sechsjährigen Gefängnisstrafe verurteilte, ist der Prozeß der Aufhänger russischen Protests aus dem Lande selbst bzw. aus Moskau.

Die Richter konnten den Russen Kononow als Anführer einer sowjetischen Partisaneneinheit ausmachen, deren Überfall auf die lettische Ortschaft Mazie Bati am 27. Mai 1944 neun Menschen das Leben kostete. Die Verteidiger pochten vergeblich darauf, den Übergriff als "normalen" kriegerischen Akt zu behandeln.

Nach dem erstinstanzlichen Urteil gewährte der russische Präsident Putin dem Ex-Partisanen am 12. April demonstrativ das russische Bürgerrecht. Kononow brachte seinen Fall zur Berufung vor den Obersten Gerichtshof des Landes, erhielt einen neuen Paß und beantragte im Mai seine Entlassung aus der lettischen Staatsangehörigkeit.

Seitdem ziehen sich die Verhandlungen in die Länge, zumal die Richter bei der Staatsanwaltschaft beantragten, die besonderen historischen Umstände – sprich die Einordnung des sowjetischen Partisanenkampfes im Baltikum – von Fachleuten untersuchen zu lassen. Hierbei beginnen die Schwierigkeiten schon beim Verständnis des "Partisanentums".

Herfried Münkler zeigt als Herausgeber des Buches "Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt" auf, daß der Partisan in der Regel als chamäleonartiger historischer Typus zwischen den Polen militärischer Regularität und totaler Irregularität oder anders gesagt irgendwo zwischen dem Soldat- und Terroristsein eingeordnet wird. Manche sehen in ihm den modernen Revolutionär, andere wiederum, wie Ernst Jünger oder Carl Schmitt, verstehen den Partisanen als "autochthonen Verteidiger des heimatlichen Bodens" (Schmitt).

Die letztgenannten Deutungen unterstreichen die grundsätzliche Brisanz des Falls Kononow, der weit über das spezielle Geschehen im lettischen Mazie Bati hinausgeht. Denn schließlich stellt sich die Frage, ob sowjetische Untergrundkämpfer, die während des Zweiten Weltkrieges im Baltikum operierten, als von der Bevölkerung unterstützte Partisanen die "Befreiung vom Faschismus" betrieben oder als Vorhut einer von den Letten wie auch den Esten und Litauern in der Regel verhaßten Okkupationsmacht anzusehen sind.

Eine unvereingenommene Überprüfung der historischen Tatsachen einschließlich des sowjetischen Terrors und der Sibiriendeportationen zahlloser Balten 1941 bzw. 1944-49 wird der letztgenannten, von offizieller lettischer Seite geteilten Sichtweise den Vorrang geben.

Der Partisanenbegriff im Jüngerschen und Schmittschen Sinne trifft vielmehr auf jene schlechtbewaffneten "Waldbrüder" zu, die bis Mitte der 50er Jahre gegen die Sowjets kämpften. Auf dem Höhepunkt des Widerstandes Ende der 40er Jahre gab es in Litauen ungefähr 30 000 von ihnen, in Lettland 10-15 000 und in Estland etwa 10 000. Das bedeutete einen Anteil von rund einem Prozent an der Gesamtbevölkerung.

Die meisten dieser Patrioten, Kollektivierungsopfer, bekennenden Christen und versprengten Wehrmachtsangehörigen hatten sich in den großen Wäldern versteckt oder auf abgelegenen Bauernhöfen. Manche gingen aber auch ihrer normalen Arbeit im Kreis der Familie nach und wurden nur bei speziellen Aktionen tätig, stellten Verbindungen her oder überbrachten Meldungen.

Der in Lettland stationierte NKWD-Generalmajor Janis Vevers berichtete von regelrechten Schlachten mit bis zu 2000 Beteiligten. Im Januar 1947 wurde zur Zusammenfassung der vielen isolierten Gruppen die "Litauische Freiheitsarmee" mit Hauptquartier in Wilna gebildet und eine geregelte Offiziersausbildung sowie einheitliche Uniformierung in die Wege geleitet. In der lettischen Hauptstadt Riga bestand bis 1947 ein "Partisanen-Kommunikationsstab".

Allein rund 30 000 litauische Waldbrüder fielen in den Kämpfen, viele nahmen sich bei drohender Gefangennahme selbst das Leben, und ihre Helfer in der Bevölkerung kamen für lange Zeit in Lagerhaft. Auf der Gegenseite wurden in Litauen etwa 80 000 Angehörige des NKWD getötet sowie russische Parteifunktionäre und mehrere tausend "Verräter", die ab Oktober 1945 von den Machthabern aus der ansässigen Bevölkerung rekrutiert wurden. Zur Belohnung hatte man den sogenannten "Volksverteidigern", zu denen acht- bis zehntausend Freiwillige gehörten, die Befreiung von der Wehrpflicht in Aussicht gestellt sowie eine Bereicherung am Besitz der Widerständler. Gefechte mit der materiell überlegenen Roten Armee versuchten die Waldbrüder nach Möglichkeit zu vermeiden.

Neuen Erkenntnissen estnischer Wissenschaftler zufolge kam der Partisanenkrieg erst 1965 zum Erliegen. Letzte Opfer sind für 1974 bzw. 1978 verbürgt, als der Este Kalev Aro, der 29 Jahre im Wald lebte, bzw. August Sabe, der sich seit dem ersten Einmarsch der Roten Armee 38 Jahre lang versteckt hielt, nach Feuergefechten mit sowjetischen Milizionären starben.

Dieses außerhalb des Baltikums kaum bekannte Geschichtskapitel bedarf heute sowohl der Aufarbeitung durch die Historiker und Medien als auch endlich einer rechtlich-moralischen mit Entschädigungsleistungen für die betroffenen Waldbrüder und ihre Familien.

Die russische Politik reagiert jedoch auf alle entsprechenden Bemühungen ablehnend; Wiedergutmachung für die Zehntausenden deportierten Zwangsarbeiter und Polithäftlinge aus dem Baltikum ist für Moskau kein Thema. Auch an Äußerungen, wie sie der russische Lettland-Botschafter Udaltsow am 19. Oktober 1999 hinsichtlich der Aufarbeitung der Vergangenheit in den Ostseerepubliken gemacht hat, ist das Fortleben expansionistischer Traditionen gegenüber dem "nahen Ausland" erkennbar.

Udaltsow nannte den Prozeß gegen die maßgeblich an den Massenverschleppungen der 1940er Jahre beteiligten russischstämmigen Sowjetoffiziere Savenko (85) und Larionow (78) den "Beginn einer Hexenjagd". Die Anklage Kononows wird von russischen Politikern und Journalisten als Versuch interpretiert, "den Ausgang des Krieges nachträglich zu korrigieren".

Öffentliche Kritik westlicher Staaten an solchen russischen Positionen ist Mangelware. Die schwedische Außenministerin Anna Lindh gehörte zu den erfreulichen Ausnahmen, als sie Mitte Mai die Polemik Moskaus zu den Verfahren gegen Sowjetpartisanen in Lettland "inakzeptabel" und "geschmacklos" nannte. Die anderen EU-Mitglieder rief Lindh in dieser Sache zu mehr Solidarität mit den Letten auf.

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