26.04.2024

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01.07.00 Das "pommersche Rothenburg" entdeckt alte Schönheit

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 01. Juli 2000


Stargard heute: Aschenputtel an der Ostsee
Das "pommersche Rothenburg" entdeckt alte Schönheit
Von Thorsten Hinz

Sage niemand, die Unterbrechung der direkten Bahnverbindung von Berlin nach Hinterpommern und Ostpreußen ließe sich leicht wegstecken! Ein Tagesausflug nach Stettin ist zwar wie vordem möglich, doch wer weiterfahren will, für den wird es ziemlich kompliziert.

Es besteht nun mal ein Unterschied, ob man sich in Berlin in aller Ruhe ein freies Zugabteil aussucht, das den Komfort der Deutschen Bahn aufweist, und ohne Unterbrechung bis Köslin, Danzig oder Allenstein fährt. Vom sicheren Fensterplatz aus ließ sich gelassen beobachten, wie der Zug sich in Stettin füllte. Jetzt heißt es hier aussteigen und sich den Menschentrauben anschließen, die sich in die unansehnlichen Anschlußzüge der polnischen Bahn hineinzwängen. Polen fehlen noch die Finanzmittel, um seinen Zugbestand und das Schienennetz durchgreifend zu sanieren.

Diese Reisekultur schreckt ab. Grenznahe Orte, die in der deutschen Kultur und Geschichte von Bedeutung sind, geraten wieder aus dem Blickfeld. Nehmen wir Stargard, das fünfundvierzig Bahnminuten hinter Stettin liegt und früher "pommersches Rothenburg" genannt wurde. Durch diese Stadt verläuft der für die Festlegung der Mitteleuropäischen Zeit maßgebliche 15. Längengrad.

Gegen Kriegsende ist Stargard weitgehend zerstört worden. Die Straßenführung wurde beim Wiederaufbau zwar bewahrt, jedoch mit Häusern in Billigbauweise bestückt. Vor wenigen Jahren noch machte die Stadt einen ausgesprochen heruntergekommenen Eindruck, ihre Menschen wirkten arm.

Immerhin wurden nach dem Krieg die Kirchen wiedererrichtet, allen voran die Marienkirche – der nach der Danziger Schwesterkirche größte norddeutsche Backsteinbau. Wiederentstanden ist auch das Rathaus mit seinem Stufengiebel, der mit prächtigem spätgotischen Maßwerk verziert ist, sowie die mittelalterliche Stadtbefestigung mit ihren beträchtlichen Mauerresten, den fünf Türmen und vier Toren.

Das Mühlentor war und ist das Wahrzeichen der Stadt und das einzige zweitürmige Tor, das in Pommern erhalten blieb. Diese Bauwerke befinden sich in gutem Zustand, polnische Restauratoren haben schließlich einen internationalen Ruf. Die Stadtbefestigungen geben der disparaten Stadtstruktur einen Zusammenhalt, die Sakralbauten eine auch spirituelle Mitte.

Überhaupt sind in den letzten Jahren zahlreiche Stadtverschönerungen vorgenommen worden. In der Innenstadt wurden die grauen Wohnblöcke farbig verputzt, auf dem Markt werden alte Laternen angebracht. An jener Stelle, an der bis in die 30er die Statue der Germania stand, – sie wurde bereits von den Nationalsozialisten verbannt, weil sie ihre Aufmärsche störte –, wird an einem Café-Pavillon gezimmert. Die ausgedehnten Parkanlagen, deren Grün einen reizvollen Kontrast zum dunkelroten Backstein bildet, wirken gepflegt.

Diese Veränderungen sind um so bemerkenswerter, weil Stargard kein aufstrebener Wirtschaftsstandort ist und zu den armen Kommunen gehört. In Polen herrschte jahrzehntelang der für sozialistische Staaten typische, abgestufte Zentralismus, der dazu führte, daß die Wojewodschaftshauptstadt Stettin die in der mittelpommerschen Region verfügbaren Ressourcen absorbierte.

Für deutsche Besucher sind auch die ablesbaren kulturpolitischen und psycholgischen Veränderungen in der Stadt interessant. Früher bot das Stargarder Stadtmuseum eine dürftige Schau mit grauen Fotos und ein paar Tonscherben, welche den slawischen Charakter der Region belegen sollten. Inzwischen gibt es in den Wallanlagen eine umfangreiche Ausstellung mit alten – natürlich deutschen – Postkarten. Sie wurde mit Unterstützung der Europäischen Union eingerichtet. Der Katalog ist zweisprachig und enthält eine deutsch-polnische Konkordanz der Straßennamen.

Im Souvenirladen am Markt werden Gemälde mit Stadtansichten verkauft. Ihr künstlerischer Wert ist fraglich, doch die Motive sind bemerkenswert, denn sie orientieren sich am Vorkriegsbild Stargards.

Den Friedhof im Süden der Stadt hatten die neuen Besitzer in einem Akt der Barbarei plattgemacht. Im vergangenen Sommer wurde hier eine kleine Gedenkanlage errichtet, die die drei letzten erhalten gebliebenen deutschen Grabsteine enthält. Eine Tafel erinnert, etwas verklausulierend, in Deutsch und Polnisch an die Stargarder "beider Nationen", die 1945 durch Krieg, Vertreibung und Gewalt umkamen.

Zwei der Glocken der Marienkirche haben den Krieg auf dem Hamburger Glockenfriedhof überlebt und wurden als Leihgabe für den Turm der St. Georgs-Kirche in Nördlingen und für die St. Lucas-Kirche in München zur Verfügung gestellt. Ob sie eines Tages wieder von ihrem angestammten Platz aus läuten werden? – Möglich ist es, doch zuvor muß die direkte Bahnverbindung nach Berlin wiederhergestellt sein!