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22.07.00 Christa Wolf und die Helden des sozialistischen Groschenromans

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Juli 2000


DDR-Literatur zum Mauerbau: Die Schönschreiber
Christa Wolf und die Helden des sozialistischen Groschenromans
Von THORSTEN HINZ

Das aus sozialistischer Perspektive  repräsentative Buch zum Mauerbau erschien 1963: Der Roman "Der geteilte Himmel" von Christa Wolf, der bis heute als staatstreuer, wenngleich subtiler Deutungsversuch des Monstrums literatur- und zeitgeschichtliches Interesse beansprucht. Die Hauptfigur, die Pädagogikstudentin Rita Seidel, unternimmt einen Selbstmordversuch, nachdem der 13. August 1961 sie endgültig von ihrem Freund Manfred in West-Berlin getrennt hat. Manfred ist "Republikflüchtling". Der vergebliche Kampf gegen die Wirtschaftsbürokratie hatte ihn zermürbt, doch vor allem fehlte ihm der Glaube, daß eine sozialistische Gesellschaft mit der menschlichen Natur überhaupt kompatibel ist.

Rita wird gerettet und schöpft durch die vorbildliche Haltung und die Hilfsbereitschaft eines Werkleiters, eines Arbeiters und eines Dozenten neuen Lebensmut. Ihr psychischer Gesundungsprozeß geht mit der Einsicht einher, daß der Himmel über Deutschland, "dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, Liebe und Trauer", schon lange vor dem 13. August geteilt gewesen sei: Der Mauerbau habe diese harte geschichtliche Wahrheit bloß nachdrücklich ins Bewußtsein gehoben. Die Mauer sei ein – zugegeben, schmerzhaftes – Mittel für den höheren Zweck, setze sie doch das Gute, den gesellschaftlichen Fortschritt, den Sozialismus in Freiheit. Gewissermaßen sei sie eine intellektuelle und moralische Instanz, an der die Geister sich scheiden. Hier die Tapferen, Hellsichtigen, Passionsfähigen, die sich zur Einsicht in die politisch-historischen Notwendigkeiten durchringen, dort die Kleingläubigen, Schwachen, Geschichtsblinden. Die Alternativen sind klar: Der Westen bietet ein bequemes Spießerglück, im Osten locken schwierige, aber lohnende Aufgaben, an denen sowohl die Individuen als auch die Gesellschaft sich in trauter dialektischer Wechselwirkung weiter- und höherentwickeln.

An der Dogmatik dieses Weltmodells ändert es nichts, daß Christa Wolf den DDR-Alltag voller selbstproduzierter, also nicht extra vom "Klassenfeind" hereingetragener Konflikte schildert – was ihr von Kritikern in der DDR damals böse vermerkt wurde! Denn diese Konflikte, die Christa Wolf für zulässig und "produktiv" hält, gehorchen in Wahrheit einer Scheindialektik: Im Ergebnis müssen sie den Sozialismus verbessern und damit bestätigen. Konflikte hingegen, die diesen vorgegebenen Rahmen in Frage stellen und geeignet sind, der DDR ihre Legitimität zu bestreiten, werden durch die Mauer einfach ausgesperrt und für irrelevant erklärt.

"Der geteilte Himmel" weist Christa Wolf mithin als eine Scholostikerin aus. Das Buch war kein radikaler Griff nach künstlerischer Wahrheit, sondern lief darauf hinaus, seine Leser auf den SED-Staat als der besten aller möglichen Welten einzuschwören. Es ist ein verkappter, moralisierender Traktat, der den Glaubenssätzen der marxistisch-leninistischen Geschichtsphilosophie im allgemeinen und speziell der SED-Politik ein "menschliches Antlitz" aufzuschminken versuchte.

Die krasse Unterscheidung zwischen Gut und Böse und die Moralisierung von existentiellen Problemen sind normalerweise der Trivialliteratur vorbehalten. Es ist deshalb naheliegend zu überprüfen, wie weit Christa Wolf in ihrem Buch die Stereotype diverser "Groschenhefte" bedient und verfeinert hat, die in der DDR zum 13. August 1961 erschienen. Diese Hefte, die man sich als politisierte Gegenstücke zu den Bastei-Romanen denken kann, erschienen in der "Erzählerreihe" des Ministeriums für Nationale Verteidigung, der "Kleinen Erzählerreihe" des Innenministeriums und dem Periodikum "Das neue Abenteuer" aus dem FDJ-Verlag Neues Leben. Die Titel lauteten "Riskante Bekanntschaften" "Lebend begraben", "Täter oder Opfer", "Finale W", "Das gefälschte Protokoll" oder "704 auf Ostkurs". In jeweils sechsstelliger Auflage herausgegeben, für 45 Pfennige erhältlich und leicht zu konsumieren, sollten sie den Mauerbau für breite Leserschichten plausibel machen.

Der innerdeutsche Kontrast wurde darin scharf herausgearbeitet: Die DDR bildet stets eine familiäre Gemeinschaft, ihre Grundwerte sind Antifaschismus, Mitmenschlichkeit, Geborgenheit. Gelegentliche Disharmonien sind auf das Einwirken des "Gegners" zurückzuführen, der für seine Machenschaften mit Vorliebe DDR-Bürger mißbraucht, welche noch nicht die notwendige Bewußtseinsstufe erklommen haben, um die imperialistische Perfidie zu durchschauen. (In dieser Frage war Christa Wolf, wie gesagt, schon etwas weiter.) Der Westen ist das Fremde, Entfremdete, der vorzugsweise von unbelehrbaren Nazis oder barbiehaften Existenzen bevölkert wird. Mit seinen Sirenengesängen verführt er brave DDR-Bürger und reißt sie ins Verderben. Umgekehrt kommt es vor, daß Westdeutsche aus Gewissensnot in die DDR fliehen, um hier endlich "die Wahrheit" sagen zu können.

Der unversöhnliche Gegensatz zwischen beiden deutschen Staaten wird am unterschiedlichen Frauenbild sichtbar: Die Westfrauen tragen hochhackige rote Schuhe, enganliegende Pullover und leichte Nylonkleider (die es in der DDR noch nicht gab). Diese Kleidung steht stellvertretend für eine ungesunde Talmi-Existenz, sie führt zu Unterleibsentzündungen und – das ist naheliegend – zur Unfruchtbarkeit. Westfrauen haben grellackierte Fingernägel, sind affektiert – ihr Lieblingswort lautet "bezaubernd" – und neigen zur Hysterie. Entweder arbeiten sie als Sekretärinnen und sind penetrant damit beschäftigt, ihre Chefs zu umgarnen, oder sie laufen noch gegen Mittag im halboffenen Morgenrock herum, in der Hand ein gefülltes Whiskyglas. Sie tragen schillernde Namen wie Rita Sugalla, Lilly Grabner oder Viktoria (Vicky) Bachmann.

Häufig stammen sie aus der DDR, wo sie wegen ihrer Oberflächlichkeit oder Asozialität ein geringes Ansehen genossen. Die Arbeitsscheu der Rita Sugalla zum Beispiel war stadtbekannt, gleich zweimal wurde sie geschieden. Und Vicky hieß schon in der Schule "Fräulein Mannequin". Für die ehrliche, bescheidene Existenz in der DDR, die durch tägliche Arbeit verdient werden muß, hatten sie nur ein höhnisches Achselzucken übrig. Die westliche Sittenlosigkeit fällt Isolde Kroll, die ihrem Mann aus Abenteuerlust nach Westdeutschland gefolgt ist, um sich hier "Lebendig begraben" zu fühlen, sofort ins Auge: "Das schwarzhaarige Geschöpf da am Rinnstein war schon mehr als sündhaft gekleidet." Und als diese "Dirne hüftendrehend mit einem Mann" verschwindet, denkt sie schauernd: "So einfach ist das also. Da konnte ein Mann, wenn ihm der Sinn danach stand …" Nur eine feste sozialistische Moral ist imstande, derlei Verführungen sowie die eigenen Triebe abzuwehren. Die Szene belegt übrigens, wie sehr die Bigotterie in Ost und West sich ähnelte. Die ostentative Abscheu kann die Lüsternheit des Schreibers, der sich Leo Lux nennt, nur unzureichend verbergen.

Die Namen der DDR-Frauen klingen madonnenhaft-keusch: Maria Alfert, hausfraulich-bieder: Anni Kersten, oder proletarisch-direkt: Erna Linke. Eine Ausnahme bildet Elise Marchand, deren aparter Name auf hugenottische vorfahren und eine hintergründige Intelligenz verweist. Diese, für sich genommen, schwer kalkulierbare Klugheit könnte sie dazu verleiten, den gutmütigen DDR-Staat zu hintergehen, doch glücklicherweise geht sie bei ihr mit mütterlicher Herzensbildung einher: Eine Kombination, die sie für ihr Amt als Gewerkschaftsvertrauensfrau qualifiziert und überdies in die Lage versetzt, die hinterhältigen Schachzüge des Gegners zu erahnen!

Immer wieder werden DDR-Bürger zu Zielscheiben westlicher An- und Abwerbeversuche. Und leicht, allzu leicht, aus Naivität und Vertrauensseligkeit, weichen sie vom sozialistischen Tugendpfad ab, verfallen der Sünde des ungezügelten Eros, stürzen in die Abgründe krimineller Erpressung und schließlich in den eigenen Untergang. Der Medizinstudent Ralf ("Finale W") nimmt im Sommer 1961 die Einladung zu einer Party nach Berlin-Zehlendorf an. Dort triff er – er nimmt an, zufällig – Vicky, seine ehemalige Mitschülerin. Sie verspricht, ihm ein Studiensemester an der Sorbonne zu vermitteln. In der Nacht vom 12. zum 13. August kommen sie sich endlich näher. Dem Umstand, daß Vicky während des Beischlafs ihr breites, kupfergetriebenes Armband anbehält, mißt er keine Bedeutung bei. Am Morgen dann das böse Erwachen. Der S-Bahnverkehr zwischen Ost- und West-Berlin ist unterbrochen, und in Vickys Armband hat sich ein Mikrofon befunden. Die "Europäische Studien- und Forschungsgemeinschaft", bei der sie arbeitet, entpuppt sich als Geheimdienstfiliale. Ralf soll mit seinem nächtlichen Geplauder zum Bleiben bewegt werden, doch er will unbedingt zurück in den Ostsektor. Seine panische Flucht endet auf dem Bahnhof Westkreuz, wo Agenten ihn vor die S-Bahn stoßen. Zur selben Zeit versorgt seine Mutter die Angehörigen der DDR-Kampfgruppe, die an ihrem Grundstück entlang den Stacheldraht installieren, mit Essen und Verbandsmaterial. Noch weiß sie nicht, daß sie damit auch ihr ermordetes Kind rächt …

Maria Alfert ist eine junge, fleißige Frau, die bis zuletzt ihre kranke Mutter gepflegt und darüber den Kontakt zur Außenwelt verloren hat. Ihre Kollegin Elise Marchand rät ihr, auf eine Heiratsanzeige zu reagieren, wobei sie prompt an den charmanten West-Berliner Heinz Landolf gerät, der, natürlich, ein Geheimdienstmann ist. Sie überhört Elises Mahnungen. Heinz versucht Marias Betrieb auszuspionieren, und Maria, vor Liebe blind geworden, vergißt alle Sicherheitsregeln. Damit ist sie erpreßbar geworden und zappelt hilflos im Netz "Riskanter Bekanntschaften". Sie sieht keinen Ausweg mehr und nimmt eine Überdosis Tabletten. Jetzt bewährt sich der sozialistische Humanismus. Die mütterliche Elise hat, nach kurzem, menschlich verständlichem Zögern, ihren Verdacht dem Betriebsdirektor mitgeteilt, und der wiederum hat die Staatssicherheit eingeschaltet. Die Stasi-Männer finden Maria gerade noch rechtzeitig und retten ihr das Leben. Heinz besucht sie im Krankenhaus und legt seine Lebensbeichte ab. Auch er, der im Krieg seine Eltern verloren hat, wurde vom Geheimdienst mißbraucht. Er möchte bei Maria und in der DDR bleiben. Verständnisvoll hören die Genossen vom Staatssicherheitsdienst ihn an. Maria und Heinz kommen mit milden Ermahnungen davon.

Volkspolizisten und Stasi-Mitarbeiter sind ergraute Genossen mit zerfurchter Stirn und gütigen Augen. Sie sind nicht bloß Ermittlungsbeamte, sondern auch Beichtväter, Eheberater, Kummerkästen, kurzum, sie personifizieren den fürsorglichen Staat. Dank ihrer ist auch in der Millionenstadt Berlin – wenigstens im Ostteil – niemand allein. Hauptwachtmeister Thomas Kremmin ("Das gefälschte Protokoll") fällt bei seinem nächtlichen Rundgang auf, daß bei der alten Frau Baumann noch Licht brennt. Er macht sich Sorgen: "Sollte er anklopfen? Wenn sie nun krank war und Hilfe braucht?" Seine Befürchtungen sind mehr als berechtigt. Frau Baumann hat sich aus Verzweiflung über einen West-Berliner Erpresser, der sich ausgerechnet als Volkspolizist ausgab, erhängt. Den Anlaß hatte sie selber geliefert, als sie in einem West-Berliner Geschäft ausplauderte, ihre Waren mit nicht ganz legal beschaffter Westmark zu bezahlen. Die Verkäufer waren doch so zuvorkommend und verständnisvoll gewesen! Eine fürwahr teuer bezahlte Westschokolade!

Der autoritäre Charakter der Frau Baumann wurde noch in vorsozialistischer Zeit geprägt. Jene Bürger aber, die durch die Schule des Sozialismus gegangen sind, durchschauen die Gemeinheiten des Westens auf Anhieb. Der aufmerksamen Erna Linke jedenfalls ist sofort klar: "Das ungesunde blasse Gesicht paßte so gar nicht zu einem Volkspolizisten, und nervös war der. Das Verhalten des Mannes und sein Aussehen mahnten zur Vorsicht." Sie alarmiert die Behörden, die den Gauner dingfest machen.

Mit dem 13. August 1961 war derartigen Umtrieben ein Riegel vorgeschoben, war das Böse ausgesperrt worden: "Es kam viel zu spät, dieser Tag, sonst wäre jenes Verbrechen und unzähliges andere nicht möglich gewesen, deren Folgen noch heute spürbar sind." Doch wo ausgesperrt wird, da wird auch eingesperrt. Im "Geteilten Himmel", in einem Satz voller geschichtsphilosophischer Hybris, an dem heute vor allem seine implizite Brutalität auffällt, heißt es über den "Republikflüchtling" Manfred: "Wäre er hiergeblieben, und sei es durch Zwang: Heute müßte er ja versuchen, mit allem fertig zu werden." – Die große Christa Wolf und die kleinen Konjunktur-Skribenten waren sich viel näher, als sie glaubten.