29.03.2024

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22.07.00 Von der Kunst des Nötigens erzählt Brigitte Jäger-Dabek

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Juli 2000


Ostpreußische Gastfreundschaft
Von der Kunst des Nötigens erzählt Brigitte Jäger-Dabek

Die ostpreußische Gastfreund schaft war sprichwörtlich. Es ziemte sich einfach, daß sich die Tische bogen unter der Last der Speisen und Getränke, aber vor allem gehörte zu jedem Gastmahl die Kunst des richtigen Nötigens, dem jeweiligen Anlaß angemessen. Saß nur die engste Familie am Tisch, reichte ein einfaches "Eß man, eß und laß dir nich netigen". Mit zunehmender Bedeutung der Gäste oder auch des Anlasses wurde das Nötigen subtiler.

Kein Gast wäre je auf die Idee gekommen, sich einfach selbst nachzulegen. Er erwartete, dazu aufgefordert, eben genötigt zu werden. Aber Kinder, na so etwas gab es doch gar nicht, bei halbwegs aufmerksamen Gastgebern kam es ja überhaupt nicht vor, daß ein Teller leer wurde.

Das Nötigen hatte gefälligst zu beginnen, wenn irgend etwas auf dem Teller auch nur zur Hälfte verzehrt war. "Na bittescheen, nimm noch Rotkohl, und Sie, nehmen Se doch noch Kartoffeln. Draußen in der Küche ist ja noch viiiiel mehr, es soll doch man bloß nich kalt werden." Das war noch moderat, sozusagen die Einstiegsform in das sich nun anschließende Ritual. Von jetzt an würde die Hausfrau keine Ruhe mehr geben und dafür sorgen, daß Schüsseln und Fleischplatten ständig kreisten. "Ach Gott, ach Gott, Ihnen schmeckt wohl auch gar nich, Sie essen ja wie e Spatz", folgte die erste volle Breitseite. In jedem Fall wurde jetzt vom Gast ein energischer Protest erwartet: "Aber i wo nei doch, es schmeckt ganz ausgezeichnet!"

Unterbrach der Gast womöglich an dieser Stelle das Ritual, indem er einfach nichts entgegnete, weil es ihm wirklich nicht besonders schmeckte, war das natürlich ein schwerer Fauxpas. Er konnte ja denken, was er wollte, der werte Gast, aber einfach nuscht sagen? – Das tat man nicht, da riskierte man, daß die Hausfrau mucksch wurde und der Gastgeber sein Haus als entehrt betrachtete. Bei all der Mühe konnte man ja wohl erwarten, daß der Gast anstandshalber log!

Verhielt sich der Besucher hingegen den Spielregeln gemäß, konnte gesteigert werden: "Nun bittescheen, nehmen Se doch um Gottes willen, das muß alles aufgegessen werden, was soll ich denn machen, das wird mir ja alles schlecht", wurde verzweifelt an den Gast appelliert. Die Hausfrau wand sich, flehte, rang die Hände. "Am End wird mir noch alles verderben, nu tun Se mir doch die Liebe und kosten Se wenigstens hiervon noch e kleines Happche."

Rotwangig, zerpliesert und fast aufgelöst wirkte die Hausfrau in ihrem Bemühen, für ständig randvolle Teller zu sorgen. Ihre Verzweiflung schien proportional zum abnehmenden Eßtempo der Gäste anzuwachsen, steigerte sich so weit, daß man erwartete, sie würde sich jeden Moment vor Gram die Kleider einreißen. Winkte der hochgeschätzte Gast dann endlich nur noch matt ab, während seine Hautfarbe ständig von leichenblaß nach knallrot und wieder zurück wechselte und er, das Würgen eben noch vermeidend, konzentriert kaute, halfen alle Kampf-dem-Verderb-Appelle nicht mehr.

Der so Bewirtete hatte längst nur noch den einen Wunsch durchzuhalten, bis der Hausherr seinen Part übernahm und endlich, endlich das erste Schnäpschen zur Verdauung anbot. Diesen Moment, wenn der Gast nach Luft schnappte, wie ein Karpfen auf dem Trockenen, galt es für den listig lächelnden Gastgeber abzupassen. Der lief dann schon im eigenen Interesse zur Hochform auf: "Na, auf einem Beinche kann man doch nicht stehen!" Die Höflichkeit gebot es natürlich, daß der Herr des Hauses mittrank, er opferte sich meist aber ganz willig: "Na, aller guten Dinge sind drei!"

Anschließend folgte einer "auf das sehr geehrte des Gastes", dann einer auf die Hausfrau, die werte Gattin, die lieben Kinderchen, Eltern, Großeltern, weitere bedeutende Verwandte, Kaiser oder sonstige Obrigkeiten und alles, was einem sonst noch an Ausreden einfiel. So ging es weiter und weiter, bis kurz vor dem Vollrausch niemandem mehr auch nur irgend etwas einfiel – ein rundum gelungener Abend.

Großvater hatte dann bei der Verabschiedung die Formel "Vielen Dank für Speis und Trank, es war gut und einigermaßen reichlich" parat, wenn die Bewirtung ihm passabel erschien. War er nicht zufrieden, knurrte er zu Hause: "Ist man bloß nicht genügend genötigt worden." Einem Verriß jedoch kam es gleich, wenn er meinte: "Ich hätt’ ja gern noch mehr genommen, es hat aber keiner mehr genötigt." War hingegen wenigstens das Besäufnis anständig und hatte er sich gepflegt die Schlorren vollgekippt beziehungsweise die Lampe begießen können, pflegte er sich bei seiner Frau mit "Was is ze machen, wenn das Nötigen kein Ende nahm!" herauszureden.