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05.08.00 Zu neuen Ufern

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. August 2000


Zu neuen Ufern
Von MARGARETHE SORG

Am Vormittag des 11. August 1901 legt das Schiff, getauft auf den Namen "Gauß", in Kiel ab. Kisten und Kasten sind ordentlich verstaut, die Schlitten festgemacht. Man bespannt die Lotmaschine mit Draht, eicht die Chronometer und die Anker werden gelichtet. Wenig später beginnt der wissenschaftliche Betrieb: Lotungen, Temperaturmessungen des Wassers und der Luft. Meteorologische Beobachtungen gehören zum Arbeitspensum der Wissenschaftler. Sie nehmen Kurs auf Kapstadt (Südafrika). Dort wimmelt es von buntem Volk aus allen Erdteilen: Flüchtlinge, Schlachtenbummler, Abenteurer, Strandgut, die hier ihr Geschäft wittern. Der Burenkrieg gegen England (1899–1902) war gerade zum 31. Mai beendet. Er hat die Stadt fast um das Doppelte anwachsen lassen.

Die Mannschaft der "Gauß" ist ausgeflogen. Seit dem 23. November sind sie in Kapstadt. Sie haben ein Leck im Schiff. Das soll gefunden und abgedichtet werden. Aber bisher war es nicht aufzudecken gewesen. Kapitän Rufer meint zu Erich von Drygalski, dem Leiter der Expedition: "Unsere Leute denken, wer weiß, ob sie sich jemals wieder ins volle Menschenleben stürzen können, deshalb der Hochbetrieb in den Hafenkneipen." Drygalski hat eine ostpreußische Natur und läßt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Zwei Grönlandfahrten liegen hinter ihm – er hat Erfahrung. Er antwortet dem Kapitän: "Sagen Sie den Leuten, das Leck kann uns nichts anhaben, wenn wir erst im Polarkreis festgefroren sind. Und schauen Sie mal nach den Pumpen, daß die in Ordnung sind. Dann nichts wie los! Wir haben keine Zeit zu verlieren!" Seit ihrer Abfahrt haben sie schwere Stürme im Atlantik erlebt. Erst einmal konnten sie nach Hamburg eine Nachricht geben. Jetzt tut Eile Not, denn der Sommer ist bald vorbei. "Also machen wir los!", sagt Kapitän Rufer und gibt Befehl zum Segelsetzen.

Am 7. Dezember 1901 nimmt der Dreimastsegler "Gauß" Kurs Ost-Südost auf die Crozel-Inseln. Es ist ein gutes Schiff, eigens für die Expedition gebaut mit dreiviertel Meter starken Bordwänden aus Holz, Bug und Heck durch Stahlpanzer verstärkt, 46 Meter lang, 11 Meter breit. Ausgerüstet ist es mit den besten Instrumenten moderner Technik, hat Dampfheizung und elektrisches Licht, eine Hilfsmaschine mit 275 PS mit aushebbarer Schraube und ebensolchem Steuer. Aber es dampft nicht, es segelt. Das Schiff rollt in schweren Wogen. Das Leckwasser steigt. Erstmals werden Eisberge gesichtet.

Am nächsten Morgen taucht die gischtumbrandete Klippenküste der Crozet-Inseln auf – ein Wagnis durch die Brandung zu rudern. Aber es gelingt. Die Forscher kehren gerade noch vor Dunkelheit mit reichen Ergebnissen zurück: See-Elefanten, Esel, Goldhaarpinguine, Raubmöwen, Enten, Komorane, Riesensturmvögel, Insekten, Würmer, flügellose Fliegen, Moose, Proben des vulkanischen Gesteins. Was sie mitgebracht haben, wird präpariert.

Das Schiff fährt wieder zu den Kerguelen-Inseln. Vom 2. bis 31. Januar dauert der Aufenthalt. Der Sommer auf der Südhalbkugel geht zu Ende. Aber die Beobachtungsstation muß fertig werden. Alle Hände der Besatzung der "Gauß" helfen. Dann werden Proviant, Kohlen und 40 sibirische Schlittenhunde übernommen. Drygalski zählt seine Mannschaft, mit der er jetzt den Angriff auf das Polareis der Antarktis beginnt: insgesamt 32 Mann – 5 Gelehrte, 5 Offiziere, 22 Matrosen. Sechs Ersatzleute sind in Kapstadt angeheuert. Drygalski mahnt: "Die Arbeit beginnt erst, wenn wir im Eis festsitzen. Bis dahin muß ich wissen, was ihr könnt!" Das war sein Geheimnis: Von jedem Einzelnen verlangte er selbständiges Handeln im Sinne des gemeinsamen Unternehmens, jeden aus seiner Mannschaft schätzte er als eigene Persönlichkeit ein. Seine Person flößte Vertrauen ein, zu ihm als Führer und zur Sache, die er leitete. So gab es niemals während der langen Zeit, auch nicht in kritischen Lagen, Streit unter den zweiunddreißig .

Am 3. Februar wird die Heard-Insel, letzter Fleck der bekannten Welt, Wendepunkt nach Südost, passiert. Dann steuert das Schiff ins völlig Ungewisse: Treibeis – Eisberge – Nebel – Packeis – Schneesturm – Nacht … Alle vier Stunden lösen sich die Wachen ab. In der Treibeiszone sind die Eisberge die gefährlichsten Gegner. Unvermutet tauchen sie aus Schneetreiben und Nebel auf. Schon 14 Tage lang kämpft sich das Schiff mit Dampf und Segel durch das Eis. Fast scheint es den Packeisgürtel durchbrochen zu haben. Aber die Sicht ist schlecht bei Tag und Nacht. Pinguine stolzieren aufgeregt umher und äugen neugierig zum Schiff herüber. Drygalski rechnet, mißt und meint, hier müsse das Ende der Antarktisküste zu suchen sein. Aber es ist keine Spur von Land auszumachen. Die dunklen Schatten in der unübersehbaren Eiswüste entpuppen sich als Steilwände schwimmender Eisberg. Das Senkblei lotet noch auf 3000 Meter keinen Grund.

Eine weitere Woche vergeht. Immer wieder hat das Schiff den Kurs ändern müssen – von Südost auf Nord, von Nord auf West. Am 21. Februar, mitten in der Nacht, erwacht Drygalski. Die Maschine steht still. "Professor, Professor!", hört er es rufen. Draußen herrscht scharfer Frost. Schwarzes Wasser sticht scharf von den grauweißen Eismassen ab. Kapitän Rufer und Drygalski spähen angestrengt im Mastkorb über die hohe lange Eiskante hinweg. "Land?", fragt Rufer. Drygalski antwortet: "Land!" Zusammenhängende weiße Flächen dehnen sich ins Unbegrenzte aus.

Unaufhörlich lotet das Senkblei die Tiefe: 240 m. Grüner Schlick am Lot. Der Sockel des antarktischen Festlandes ist erreicht. Küste eines bisher unbekannten Landes, das bis etwa 300 m ansteigt. Unter Jubel der ganzen Mannschaft tauft Drygalski das neu entdeckte Polarland: "Kaiser-Wilhelm II.-Land", später "Gaußberg" benannt. Die Eisküste bricht dort mit einer Steilwand von 40 – 50 Metern Höhe ins Meer ab. Eine Kette unbeweglicher Eisberge lauert vor der Küste. Nach Norden ist sie weit zu übersehen, also folgt ihr das Schiff nach Südwesten. Doch der Packeisgürtel scheint bei dem anwachsenden Wind in Bewegung zu geraten. Wenn das wirklich eintritt, werden sie in einer Sackgasse eingekeilt.

Drygalski verlangt sofort Kurswechsel um 180 Grad. Tatsächlich wächst der Ostwind überraschend zum Sturm und bringt die Eismassen ringsum in Aufruhr. Rufer versucht mit aller Gewalt, nach Nordost oder Südost aus der Falle herauszukommen. Polternd prasseln die Eisschollen gegen die Bordwände, zersplittern am Bug. Mit voller Dampfkraft kämpft das Schiff gegen Sturm und andringende Eismassen. Alle Mann sind auf Posten. Stunde um Stunde verrinnt. Da werden in der Ferne Eisberge gesichtet und zugleich fällt dichter Nebel. Widerstand ist zwecklos! Der Kapitän muß das Schiff dem nach West treibenden Packeis überlassen. Am Morgen des 22. Februar ist das Schiff von dichtem Eis umklammert. Die "Gauß" rührt sich nicht mehr. Gibt es noch Hoffnung? Das weiß auch Drygalski nicht …

Die Besatzung versuchte, durch Sprengungen das Schiff frei zu bekommen, aber vergeblich. Man begann sich auf die Überwinterung vorzubereiten. Ein Observatorium für astronomische Zwecke wurde errichtet, eine meteorologische Hütte bekam ihren Platz, und zwei Eislöcher am Bug und Heck der "Gauß" wurden für das Herablassen der Netzte freigehalten. Die Löcher im Eis mußten immer wieder von Schnee und Eis befreit werden. Bei Wassermessungen setzte der Wasserschöpfer schon beim Herablassen Eis an. Hatte man ihn aber vorher erwärmt, so fror das Wasser, wenn man es im Freien abzulassen versuchte. Es blieb nichts anderes übrig, als jedes Mal den schweren Wasserschöpfer mit ins Schiff zu nehmen, und dann dauerte es noch geraume Zeit, bis die gefrorenen Ventile wieder in Ordnung waren.

Schlimmer noch als die Kälte waren jedoch die Stürme. Die Thermometer zum Messen der Eistemperatur wurden tief verschüttet und erst nach Abflauen des Schneesturmes vom Obermaschinisten Stehr nach längerem Suchen wieder gefunden und neu gesetzt. Viermal täglich waren auch in diesen Zeiten weitere Gänge zu den magnetischen Observatorien notwendig, an einem Kabel entlang führend – gefährliche Wege, aber in pflichttreuer Verantwortung ausgeführt. Auch zur astronomischen Hütte war ein Kabel gespannt, da sie zum Vergleich der Chronometer einmal täglich besucht werden mußte. Ein Matrose verlor am 26. April 1902 auf dem Rückweg die Richtung. Er wurde rechtzeitig vermißt, gesucht und auch glücklich an dem Fuß der nur 40 Meter vom Schiff entfernten meteorologischen Hütte gefunden. Die königlich-preußische Luftschifferabteilung in Berlin hatte der Expedition einen Fesselballon zur Verfügung gestellt. Die Nacht vom 28. auf 29. März war sternenklar, und am 29. schien die Sonne in aller Frühe. Es herrschte Windstille – bester Zeitpunkt für einen Ballonaufstieg (Ballonhülle Durchmesser 9 Meter). Ganze 104 Minuten benötigten Stehr und seine Helfer, um den Ballon aufzurüsten – eine Leistung bei -20°C. Dann stand Erich v. Drygalski im Korb. Langsam ließen ihn die 12 Männer aufsteigen, die den Ballon hielten. In einer Höhe von nur 50 m sah Drygalski bereits den "Gaußberg". Also "Neues Land"! Große Begeisterung! Noch am gleichen Tag stiegen Kapitän Rufer und der Geologe Philippi auf, um zahlreiche Aufnahmen zu machen.

Auf elektrisches Licht wurde wegen Sparsamkeit verzichtet. Also wurde es dunkel im Schiff, ebenso der Kohlevorrat beschränkt. Ein Akkumulator (Energiespeicher) wurde montiert, aber der Wind war unbeständig. So waren die Lampen mal hell, mal dunkel und bald verloschen sie ganz: man griff auf Tranlampen zurück.

Immer wieder mußte das Schiff aus hohen Schneewehen ausgegraben werden. Dabei zerrannen die Wochen, die Monate – immer noch Winter, immer noch eisige Kälte und Schneestürme über Schneestürme! Um die Mannschaft gesund zu erhalten, unternahm Drygalski Schlittenfahrten. Ihr Ziel war, das 90 km entfernte Festland zu erreichen. Und tatsächlich, die Strapazen brachten den Erfolg – das "Neuland", der Gaußberg wurde erstiegen. Die Expedition wies den vulkanischen Ursprung dieses Berges nach, der erste Nachweis ehemaliger vulkanischer Tätigkeit auf dem Festland der Antarktis.

Immer noch lag das Schiff ringsum von Eis eingeschlossen. Der Sommer verging, der Herbst kam und schließlich der zweite Winter. Als das Jahr 1903 begann, gab es auf der "Gauß" keine Mutlosigkeit. Sieben Schlittenfahrten wurden zum neu entdeckten "Gaußberg" durchgeführt. An seinem Fuß errichteten Schlittengruppen ein Eishaus und stellten meteorologische Instrumente zu Messungen auf. Immer wieder hatte man sich vom Schiff mit einem "Trick" zu helfen versucht. Sobald ein Stück offenes Wasser sichtbar wurde, hatte man den Weg mit Asche bestreut. Diese Asche absorbierte genügend Sonnenwärme, um einen zwei Meter tiefen Kanal aufzuschmelzen.

Endlich hatten sich alle wohl durchdachten Anstrengungen gelohnt – am 8. Februar 1903 hatten sie es geschafft! Die "Gauß" konnte sich aus ihrem eisigen Gefängnis befreien! Sie versuchte sich vorsichtig einen Weg nach Westen zu bahnen, durch das Scholleneis hindurch. Das machte ihnen noch schwer zu schaffen. Nach zweimonatigem Treiben im Scholleneisgürtel war es ihnen dann gelungen, endgültig die Antarktis zu verlassen. Am 1. Juni folgte das erste Telegramm nach Berlin: "Alles wohlauf! Schiff vorzüglich bewährt!"

Am 24. November 1903 erreichte die "Gauß" Brunsbüttel.