28.03.2024

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05.08.00 Urwald verriegelt Zehlauer Bruch

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. August 2000


Urwald verriegelt Zehlauer Bruch
Ostpreußens Tundra und einstiges Naturparadies ist nicht mehr begehbar

Zu den zahlreichen landschaftlichen Kostbarkeiten unserer Heimat gehörte das Zehlauer Bruch, das einzige wachsende Hochmoor Deutschlands. Die ostpreußische Tundra war schon 1901 unter Naturschutz gestellt worden. Eine Urnatur wie ein Trugbild zwischen Schein und Wirklichkeit – wer sie einmal sah, konnte sie nicht mehr vergessen. 60 Jahre habe ich an "die Zehlau" gedacht, wie sie auch kurz genannt wurde. Seit wir eine Klassenfahrt in das im nordöstlichen Zipfel des Kreises Preußisch Eylau gelegene Moorland gemacht hatten, war sie in meinen Wachträumen der Schauplatz tanzender Feen und flüchtiger Spukgestalten. In der Schule lernten wir es nüchterner: Das Zehlauer Bruch ist ein 2360 Hektar großes lebendes Hochmoor, das 725 Millionen Kubikmeter Moor und 18 Millionen Liter Wasser enthält. Ein gewaltiger Schwamm, der sich wie ein Uhrglas wölbt und eine Höhe von acht Metern erreicht. Rund 100 Mooraugen – bis zu einem halben Hektar große Blänken –, kleinere und größere, auch schwimmende Inseln darin, gaben dem moosigen Gelände den besonderen Reiz. Seltene Pflanzen und Vögel hatten dort ihr Zuhause, eine weltfremde Einsamkeit, wie geschaffen auch für den Elch.

Dann aber kam das Grauen auch über dieses kleine Paradies. Der Krieg und seine Folgen: Schutzlos und verlassen wurde das Gelände mit seiner weiteren Umgebung militärisches Sperrgebiet, ein geheimer Übungsplatz ersten Ranges – bis vor einigen Monaten durchsickerte, daß mit besonderer Genehmigung vielleicht eine Fahrt wenigstens in die Nähe denkbar sei. Also versuchen wir es mal! Aber – da ist niemand der Bescheid weiß. Achselzucken, bedenkliche Gesichter, Kopfschütteln. Na, denn. Wir starten auf eigene Faust. Mal sehen, wie weit wir kommen. Von Königsberg geht es über Uderwangen, Abschwangen, in Richtung Friedland bis Stockheim. Dann nördlich bis Sommerfeld, dem alten Startplatz für einen Besuch der Zehlau. Doch wo ist Sommerfeld geblieben? Vielleicht gibt es eine Zufahrt an anderer Stelle. Nach rechts geht es durch die unheimliche Einsamkeit, bis wir die Ruine eines Kirchturmes entdeckten, wie ein ausgestreckter Arm anklagend in den Himmel weisend.

"Klein Engelau", sagt ein Mann, der aus dem Busch auftaucht. "Wie kommt man ins Zehlauer Bruch?" wollen wir wissen. Ver-ständnislos blickt er uns an. "Ein Kilometer", meint er gedehnt. "Dort noch ein Grab". Er weist dabei auf eine zerborstene Grabplatte, die an den traurigen Kirchenrest gelehnt ist. Er weiß nichts von unserem Sehnsuchtsziel, und wir sind auch nicht in Klein Engelau, sondern in Klein Schönau, etwa fünf Kilometer östlich der Zehlau. Vom Kirchdorf sind zwei Restgehöfte übriggeblieben. Das Gotteshaus, im Krieg wenig beschädigt, wurde zum Teil vom Militär abgerissen. Auch die jetzigen zwei, drei Bewohner dienen dem Militär – als Kuhhirten, doch das erfahren wir erst später. In westlicher Richtung das gleiche Bild: Kein Haus, kein Mensch, nichts mehr von den kleinen idyllisch gelegenen Gehöften am Rande des Zehlauer Bruchs. Nur einmal finden wir eine Einfahrt. Doch nach kaum hundert Metern ist Schluß. Wie eine undurchdringliche Wand steht der Wald vor uns. Als wir aussteigen, fällt ein Schwarm von Bremsen über uns her. Mit einem Sprung sind wir wieder im Wagen, ungezählte aufgeregte Bremsen mit uns. Erst als wir wieder im gewesenen Sommerfeld ankommen, sind die letzten verjagt. Ein Haus steht noch an der Kreuzung. Ein Mann im Militärhemd kommt über den Hof. Erstaunen im Gesicht. Sind wir ertappt? "Nein, nein", meint er lachend. "Das Militär ist schon seit drei Jahren weg. Wir sind nur noch drei Soldaten hier – als Kuhhirten". Wenn das so ist – auf ins Zehlauer Bruch! "Was ist das?" will er wissen. Wir zeigen in die Richtung und versuchen kurz zu erklären. Er versteht nicht, was wir meinen. "Davon habe ich noch nie etwas gehört, und von uns war auch noch niemand da." Kopfschüttelnd bleibt der Soldat zurück. "Schwieriges Gelände", schreit er hinterher. Und als wir an einem bunkerartigen Bau vorbeikommen, der sich als Unterstand für Kühe entpuppt, ruft uns vom Dach her ein anderer Hirte nach: "Paß auf, da sind viele Schlangen".

Über das versteppte Land führt ein verwucherter Holperpfad in Richtung Wald, wo das Moor sein muß. Wildwuchs allenthalben, manchmal durch Blüten verschönt. Es ist ein mühsamer Marsch in glühender Hitze, und der Wald kommt kaum näher. Kein Mensch, kein Laut, glücklicherweise auch keine Schlange. Dann ein segelnder Storch – endlich ein vertrauter Anblick. Doch der Adebar läßt sich auf einer hohen Fichte am Rande des Hochwaldes nieder. Wo sollte er auch ein Haus finden, um darauf sein Nest zu bauen. Zur Rechten wächst ein skelettartiges Holzgerüst aus der grüngrauen Ebene, links leuchtet das Rot einer Ziegelmauer auf, Reste offenbar von Schießanlage und Beobachtungsstand. Endlich sind wir nahe am Ziel. Die grüne Wand löst sich auf in hohe Fichten und Erlen als Hintergrund und einen Ring halbkugelförmiger Weidenbüsche davor. Das Herz klopft schneller. Wir suchen einen Zugang wie zum "Sesam, öffne dich!" Doch das Dickicht ist undurchdringlich. Wir gehen eine größere Strecke nach rechts, dort wo die Zehlau einen schwungvollen Bogen macht. Überall das gleiche Bild – kein Durchkommen. Endlich entdeckte ich eine lichtere Stelle. Die ersten Tritte hinein in die unbekannte Welt des Zehlauer Bruches heute. Ganz vorsichtig. Doch da ist kein Sumpfgelände. Vertrocknetes Geäst knackt laut unter den vorsichtigen Schritten. Nach wenigen Minuten scheitert auch dieser Versuch. Der Augenblick des Begreifens: Es gibt kein Wiedersehen mit dem Zehlauer Bruch von einst. Das einzigartige Naturparadies ist nun verschlossen. Nicht durch das Militär oder anderer Menschenhand. Die Natur selbst hat es zugesperrt. Ein Hochwaldgürtel hat sich um das Moor geschlungen, so dicht und fest, daß kein Pfad mehr vorhanden ist. Urwald verriegelt die Urnatur.

Später als wir mit Wehmut einem ehemaligen sowjetischen Offizier davon berichten, sagte er mit ernstem Gesicht: "Da habt ihr noch Glück gehabt. Denn dort liegen noch immer gefährliche Minen." Die Zehlau ist nicht nur versperrt, sondern auch gefährlich. In diesem Land bleibt aber immer eine Hoffnung: Einmal wird sich alles ändern. Helmut Peitsch