20.04.2024

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12.08.00 Eine bewegte Zeit

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 12. August 2000


Eine bewegte Zeit
Schriftsteller als Zeugen der Geschichte

Der russische Dichter Iwan Turgenjew nannte ihn "Deutschlands ersten Feuilletonisten". Der Kunsthistoriker Wilhelm Lübke sprach von dem "gewandten Zeichner", dem "unermüdlichen Berichterstatter der Vossischen Zeitung" und lobte den "scharf beobachtenden und anschaulich darstellenden Schilderer". Und Theodor Fontane schätzte ihn gar "als das größte journalistische Talent", das er kennengelernt habe. Heute spricht kaum einer mehr von Ludwig Pietsch, dem einstigen Starkritiker und umschwärmten Gesellschaftsberichterstatter der aufblühenden kaiserlichen Metropole Berlin. In seinen Erinnerungen an den Beginn seiner Karriere in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts läßt er eine längst untergegangene Epoche wieder lebendig werden. Wie ich Schriftsteller geworden bin - Der wunderliche Roman meines Lebens, erstmals 1893/94 erschienen und nun vom Berliner Aufbau Verlag (Hrsg. Peter Goldammer. Mit Nachwort, Anmerkungen und einem kommentierten Personenregister. 672 Seiten, geb. mit farbigem Schutzumschlag, 79,90 DM) neu herausgegeben, wurde schon bei seinem ersten Erscheinen als wundervolles Bild dieser Zeit (Fontane) gewürdigt; heute jedoch kann man in den Memoiren durchaus eine kulturgeschichtliche Quelle ersten Ranges sehen.

Ludwig Pietsch, am 25. Dezember 1824 als Sohn eines Beamten in Danzig geboren, wollte ursprünglich Maler werden und ging als 16jähriger nach Berlin, um an der dortigen Kunstakademie zu studieren. Durch seine frühe Ehe geriet er bald in finanzielle Nöte und mußte sich und seine kleine Familie als Zeichner und Illustrator über Wasser halten. Durch seine Begabung, das Wesentliche auch in knappe Worte zu fassen, gelang ihm der Sprung in den Journalismus. Zunächst bei der Spenerschen, dann bei der Vossischen Zeitung veröffentlichte er Kunstkritiken, aber auch Reiseberichte und Gesellschaftsreportagen. Er war dabei, als der Suez-Kanal eröffnet wurde, machte den Deutsch-Französischen Krieg im Hauptquartier des preußischen Kronprinzen mit, besuchte in dessen Gefolge Rußland und Sizilien, war bei den Weltausstellungen in Paris und in Algier. Pietsch starb am 27. November 1911 in Berlin.

Theodor Fontane, der von den Erinnerungen des Danzigers sehr angetan war, schätzte vor allem die "Fülle lebendig geschilderter Menschen von zum Teil kompliziertem Charakter". Pietsch erzählt unter anderem von Begegnungen mit Menzel, Storm und Turgenjew. Den in Königsberg aufgewachsenen Bogumil Goltz (1801-1870) schildert er als einen regen kraftvollen Geist, dessen Rede, "in unverfälschtem westpreußischen Dialekt, dann fessellos wie ein wilder Bergstrom, bald prächtig rauschend, bald polternd, bald kristallklar, bald Geröll, Kies und schwere Blöcke wälzend, dahinflutete und -wirbelte ohne einen Moment des Stockens, der einem anderen die Möglichkeit gewährt hätte, ein Wort der Entgegnung dazwischen zu schieben".

Fanny Lewald(1811-1889), der Schriftstellerin aus Königsberg, bescheinigt Pietsch ein kühles, kritisches Naturell und einen nüchternen gesunden Menschenverstand eher als "eigentlich poetische Phantasie". Beim Zeichnen eines Porträts von Lewalds Lebensgefährten Adolf Stahr geriet Pietsch mit der streitbaren Königsbergerin aneinander, die jede Handbewegung Pietschs beobachtete und das Bildnis kritisierte. Das Porträt blieb unvollendet ...

Wie streitbar die erfolgreiche Schriftstellerin war, erkennt man auch bei der Lektüre ihres Briefwechsels mit Großherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar (1818-1901) aus den Jahren von 1848 bis 1889. Mit einer Einführung von Eckart Kleßman ist diese Korrespondenz jetzt im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar, unter dem Titel "Mein gnädigster Herr! Meine gütige Korrespondentin!" erschienen (XXIV/ 460 Seiten, geb. mit farbigem Schutzumschlag, 58 DM). So streitbar die Lewald auch ist, nie vergißt sie ihre bürgerliche Abstammung und begegnet Carl Alexander voller Achtung. Spannend an diesem Briefwechsel ist die authentische Schilderung einer bewegten Zeit. hm