28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
19.08.00 Er war einer von uns

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. August 2000


Er war einer von uns
Von GERD SCHIMANSKY

Es war im Jahr 1923. Ich war elf Jahre alt, Quintaner auf dem Königsberger Hufengymnasium. Daß unser Französischlehrer Bücher schrieb, hatte ich schon gehört. Sicher schrieb er gute Bücher, solche wie Karl May. Das ging mir zwei Jahre später auf. Da gab er uns – auf Untertertia – Englischunterricht. Und er fragte, welche Karl-May-Bücher wir hätten, und lieh sie sich aus. Und wie genau er sie gelesen hatte – über Winnetou sprachen wir mit ihm und über Old-Shatterhand und über die beiden Gewehre, den Henrystutzen und den Bärentöter. Seine eigenen Bücher hießen "Der Wald" und "Der Totenwolf" – das klang gut. Und las sich bestimmt so gut wie Karl May. Aber erst einmal lasen wir den.

Und daß Ernst Wiechert so gut schießen konnte … Einer von uns hatte ihn in einer Schießbude gesehen, auf dem "Rummel" – das Wort Kirmes kannten wir nicht. Dort konnte man sich einen Preis erschießen. Und das gelang Wiechert mühelos. – Ein Lehrer, der schießen konnte – mit so einem ließ sich reden. Und er erzählte uns einmal, daß er im Krieg Scharfschützen ausgebildet hatte.

Ja, dieser Wiechert war "unser Mann". Der war kein "Pauker". Ihn zu ärgern, hätte überhaupt keinen Spaß gemacht. Es wäre auch überhaupt nicht gelungen. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Rannte da ein Tertianer in der Pause hinter einem anderen her, laut schreiend, und kaute dabei sein Brot. Als er an dem Baum vorbeirannte, an dem Ernst Wiechert meistens stand, wenn er Aufsicht hatte, da ließ sich das Kauen und das Schreien nicht so recht vereinen, denn Wiechert, den der Daherrasende wohl gar nicht gesehen hatte, wurde regelrecht besprüht, auf der Hand. Das merkte der Junge nun doch und erstarrte. Wiechert wischte sich ohne ein Wort die besprühte Hand mit dem Taschentuch ab und sagte – nicht unfreundlich: "Bist du wahnsinnig?" Nichts weiter.

Ja, er hatte eine so ganz beiläufige Art, einen zurechtzuweisen. "Schläfst du?", fragte er mich, als ich einmal vergaß, den Arm wieder zu senken, obwohl die gestellte Frage längst beantwortet war. "Schläfst du? Mit erhobenem Arm schläft es sich schlecht." Ein guter Rat nur, kein Tadel. Oder, als ich mir einmal etwas dösig durchs Haar fuhr, fragte er nur: "Kämmst du dich?"

Er konnte einen aber auch munter machen. Zu Beginn der Stunde ließ er sich einen Schlagball geben. Und wer nicht aufpaßte, der konnte durch einen wohlgezielten Wurf geweckt werden. Schliefen alle, dann zog er ein Riemchen aus der Tasche, sprang vom Pult auf und eilte – zack, zack, zack – an den Bankreihen entlang, jedem einen leichten Hieb auf die Wange versetzend. Zuckte man zusammen, dann rief er: "Was, feige ist er auch noch", und es gab gerechterweise noch einen Hieb auf die andere Wange. Nun waren wir wieder frisch.

Und doch war er kein Pauker. Denn Pauker wollen nicht, daß man über sie lacht. Er aber konnte den Kopf andeutungsweise in ein schrägstehendes Fenster unseres Klassenraumes schieben, zu schieben versuchen, um dann seufzend zu sagen: "Der Architekt hat schon gewußt, warum er das Fenster so eng gemacht hat – damit kein Lehrer sich rausstürzen kann."

Ja, er würzte seine Stunden mit kleinen verblüffenden Einlagen. Plötzlich fragt er: "Was ist eigentlich ein Piefke? Wie sieht ein Piefke aus?" Das wußten wir natürlich nicht. Darauf er: "Na, wer ehrlich wäre, der hätte gesagt: So wie Sie, Herr Wiechert."

Übrigens wollte er nie mit "Herr Studienrat" angeredet werden. Tat man es, dann unterbrach er einen sofort: "Weißt du nicht, wie ich heiße?"

Ganz eigentümlich war sein Gang – immer etwas versunken und in sich gekehrt, und trotzdem sah er alles (aber nicht etwa wie ein spähender Pauker). Und so kam er auch in die Klasse. Sein Gang war schwer zu beschreiben, aber leicht nachzumachen. Und das tat ich manchmal, noch bevor er kam. Ich versuchte mir dabei eine Denkerstirn zu geben und einen wissenden Blick. Irgendwer muß ihm verraten haben, daß ich ihn zu imitieren versuchte – eines Morgens kam er wieder wie gewohnt herein, ging aber nicht auf das Pult zu, sondern auf mich: "Na, mache ich’s richtig?"

Und dann etwas, wofür einige von uns ihm ihr Leben lang dankbar sein dürften. Es war 1925. Damals gründete ein Student eine Pfadfindergruppe. Er war in die Schule gekommen und hatte wohl auch mit Wiechert gesprochen. Und der begann die letzte Stunde vor den Ferien nicht mit dem üblichen (und ziemlich strengen) Vokabelabfragen, sondern malte einen Kreis auf die Tafel und darunter einen kleinen senkrechten Strich. "Was ist das?" Keiner wußte es. "Das ist ein Schüler in fünfzig Jahren. Besteht nur noch aus Kopf. Aber richtig laufen kann er nicht mehr. Und Waldläufer kann er schon gar nicht werden." Und dann erzählte er, was alles man so erleben könnte. Hier in der Stadt ja nicht. "Stellt euch vor, ich mache mir abends hier vor der Universität mein Lagerfeuer an. Dann würden die Leute doch sagen: Der Kerl ist verrückt. Sperrt ihn ein! Ja, aber im Samland und auf den Nehrungen und im Zehlaubruch und in Masuren, da könnten wir …" Und er malte alle Abenteuer aus, die uns dort erwarteten. Und er hat Recht behalten.

Als wir angehenden Pfadfinder zum ersten Mal zusammenkamen, im Wrangelturm war das, da hörten wir spannende Geschichten, wir sangen, und es gab auch ein Kasperletheater. Mitten drin erschien Ernst Wiechert. Der Kasper, nicht faul, bedrohte jetzt alle anwesenden Lehrer. Da Wiechert der einzige Lehrer hier war, bezog er die Drohung mit Recht auf sich selber, zog einen Schuh aus, schwang ihn drohend und führte grimmige Reden, die aber den gerechten Zorn des Kasper nur noch steigerten.

Ja, wir liebten Ernst Wiechert. Er war einer von uns.