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19.08.00 Glückwunsch, Lyck! – Masurens Hauptstadt feierte 575jähriges Bestehen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. August 2000


Glückwunsch, Lyck! – Masurens Hauptstadt feierte 575jähriges Bestehen

Eigentlich sind Fahrten in den Heimatkreis Lyck für Gerd Bandilla längst zur liebgewonnen Routine geworden. Bereits fünfundfünfzigmal führte ihn seit 1971 der Weg zurück zu den Stätten seiner Kindheit, allein, in Begleitung seiner Frau Else, mit Freunden, Lycker Landsleuten oder Bürgern der Patenstadt Hagen. Daß es jetzt bei der 56. Reise wohl doch ein gewisses "Kribbeln im Bauch" gab, hatte einen besonderen Grund: Lyck, die heimliche Hauptstadt Masurens, feierte ihr 575jähriges Jubiläum.

Keine Frage, dieses Ereignis wollten sich die Lycker, die seit 1995 bereits Begegnungen mit der heutigen Bevölkerung in Baitenberg (Baitkowen), Kölmersdorf (Wischniewen), Stradaunen, Grabnick, Fließdorf (Jucha) und Dreimühlen (Kallinowen) veranstaltet haben, nicht entgehen lassen. So steuerten sie in zwei Bussen, angeführt von Kreisvertreter Gerd Bandilla und Kassenwart Reinhard Bethke, von Erftstadt aus in Richtung Heimat. Unterwegs wurden noch etliche Mitreisende aus dem gesamten Bundesgebiet, ja gar aus Australien, England und Wales, aufgelesen, so daß schließlich über 100 Landsleute zur Zwischenübernachtung in Posen eintrafen. Ein nächtlicher Altstadtbummel mußte allerdings wegen nachlassender Kondition – schließlich waren die meisten schon seit über 18 Stunden auf den Beinen – ausfallen. Auch am nächsten Morgen hieß es, zeitig aus den Federn zu kommen, denn etliche Kilometer mußten noch zurückgelegt werden. Doch bei allem Zeitdruck: Einen längeren Aufenthalt in Thorn, der Geburtsstadt von Nicolaus Copernicus, und eine kleine Badepause am Debrongsee genehmigten die beiden Reiseleiter ihren Mitreisenden. Als "Rettungsanker" bei aufkommender Ungeduld im Laufe der langen Fahrt erwiesen sich zudem Willi Szislo und Buskapitän Werner Berikoven. Szislos Bärenfangverkauf (2 DM pro Glas) zugunsten des Deutschen Vereins in Lyck florierte dank der regen Nachfrage, während Werner Berikoven – als bewährter Fahrer der Lycker schon fast als "rheinländischer Ostpreuße" zu bezeichnen – mit seinem trockenen Humor immer wieder die Lacher auf seiner Seite hatte.

Mit dem "Lega Inn" in Kelchendorf und dem "Horeka", direkt am Lycker See gelegen, hatte man zwei Hotels ausgewählt, die sich durchaus mit westlichem Standard messen können. Von hier aus wurde am nächsten Morgen (in legerer Kleidung) eine erste Inspizierung der näheren Umgebung unternommen, während Gerd Bandilla und Reinhard Bethke sich trotz tropisch anmutender Temperaturen in "feinen Zwirn werfen" mußten. Dies nicht ohne Grund, hatte doch die Stadt Lyck anläßlich des Jubiläums zu einem Empfang im Landratsamt eingeladen.

Zuvor suchte Bandilla noch den Vizelandrat des Kreises Lyck, Jaroslaw Franczuk, in dessen Büro auf. Die beiden Männer pflegen seit vielen Jahren freundschaftliche Kontakte, die dank der guten polnischen Sprachkenntnisse des Lycker Kreisvertreters nicht nur aus oberflächlichen Floskeln bestehen. Franczuk durfte denn auch einen Blick auf die Rede Bandillas werfen, die dieser beim Festakt halten wollte. Ein nicht zu verkennendes Stirnrunzeln war die Antwort des Vizelandrats. Doch wer ein echter Masure ist, läßt sich dadurch von seinem Vorhaben noch lange nicht abbringen.

So schlug Bandilla in seiner kurzen Ansprache während der offiziellen Eröffnung der Festwoche, die gleichzeitig den Rahmen für die Unterzeichnung des Partnerschaftsvertrages zwischen der polnisch verwalteten Stadt Lyck und der niederrheinischen Stadt Nettetal bot, im Namen der früheren Bewohner Lycks klare Worte über den Werdegang der Stadt an: "Zwei Dinge gefallen uns nicht: Von der polnischen Geschichtsschreibung werden Masuren und Polen gleichgestellt. Die Masuren waren seit der Reformation im Jahre 1525 evangelisch, und sie wollten spätestens seit dem Tataren-Einfall im Jahre 1656 keine Polen sein ... Dann wird vielfach von der ,Rückkehr‘ Masurens in das polnische Mutterland geschrieben. Es hat keine Rückkehr stattgefunden; denn Masuren hat nie zu Polen gehört, wenn man von der polnischen Lehnshoheit über Preußen in der Zeit von 1466 bis 1657 absieht. Aber das alles ist Vergangenheit. Wir sollten in die Zukunft schauen. Die deutsch-polnischen Beziehungen waren noch nie so gut wie in der Gegenwart. Dazu haben wir, die vertriebenen Deutschen, viel beigetragen. Ich bin mir sicher, daß es in der Zukunft genauso bleibt."

Lediglich verhaltener Beifall und betretene Gesichter waren die Reaktion. Vor allem bei der Delegation um den Nettetaler Bürgermeister Peter Ottmann, der sich doch alle Mühe gegeben hatte, die deutsche Vergangenheit Lycks ja nur mit keinem Sterbenswörtchen in seiner Rede zu erwähnen, so daß man als Zuhörer – wider besseres Wissen – fast den Eindruck hätte haben können, die von den Polen "Elk" genannte Stadt feiere erst ihr zehnjähriges Bestehen. Vielleicht fehlten ihm aber bis dato schlicht die geschichtlichen Kenntnisse, war es der 41 000 Seelen zählenden Stadt Nettetal, Sitz der Adalbert-Stiftung, doch vor allem darum gegangen, eine Partnerschaft mit einer Stadt einzugehen, die in Bezug zum heiligen Adalbert steht: Die schon immer katholisch gewesene, sogenannte "Kleine" Kirche in Lyck erfüllte dieses Kriterium, ist sie doch Adalbert von Prag, der bei dem Versuch, die Prussen zu christianisieren, 997 bei Tenkitten im Samland den Märtyrertod erlitt, geweiht.

Der Unterzeichnung des Partnerschaftsvertrages folgte im Rahmen des offiziellen Jubiläumsprogramms im Kulturhaus eine Ausstellungseröffnung mit Arbeiten von Günter Donder. Der 1929 in Stettenbach, Kreis Lyck, geborene Künstler lebte nach dem 2. Weltkrieg noch 13 Jahre in Masuren und im Ermland, bevor er in die Bundesrepublik Deutschland umsiedeln konnte. Die Ausstellung, die mehrere Tage lang etliche Deutsche wie auch Polen interessiert beobachteten, zeigte einen Querschnitt seiner Arbeiten, die zwischen 1987 und 2000 in Pastell, Öl und Acryl entstanden sind. Neben Porträt- und anderen Bildern durften natürlich vor allem heimatliche Motive wie der Laschmiadensee bei Klein Rauschen und der Geserichsee nicht fehlen. Donder, dessen autodidaktische Ausbildung sich – wie er selbst sagt – "fast nur draußen auf Feldern, Wiesen oder in Waldgegenden vollzog", hat sich besonders in der Gegend um seinen jetzigen Wohnort Köln einen Namen als Maler gemacht.

Einen zweiten Höhepunkt erlebte das Lycker Kulturhaus noch am selben Tag mit dem Konzert des Polizeichors Berlin unter der Leitung von Bernhard Barth. Doch wie kommt ein deutscher Polizeichor überhaupt nach Lyck? Ganz einfach: Der Ehrenvorsitzende des Chors, Peter Dziengel, hatte schon lange den Wunsch, daß der Chor, dem er bereits über 40 Jahre angehört, einmal in seiner Heimat auftreten möge. Eine günstige Gelegenheit bot sich jetzt zum Stadtjubiläum. Daß nicht nur die vielen Zuhörer Spaß an dem Konzert hatten, sondern auch die 36 angereisten Chormitglieder, die wegen der raren Hotelbetten in Lyck ihr Domizil in Nikolaiken hatten aufschlagen müssen, war nicht zu übersehen. Nach dem ersten Teil – mit Liedern wie "Ännchen von Tharau" und "Land der dunklen Wälder" der Heimat gewidmet – lockerte sich die Stimmung dank bekannter Gassenhauer wie "Die kleine Kneipe in unserer Straße" bei den Zuhörern sichtlich auf. Kaum noch auf ihren Stühlen hielt es sie, als der Chor, dessen Stimmvolumen selbst penible Kritiker verstummen ließ, zu Ehren seiner Berliner Heimat ein Medley bekannter Lieder des im ostpreußischen Neidenburg geborenen Komponisten Walter Kollo zum besten gab. Krönender Abschluß eines begeisternden Konzertes – nicht zuletzt auch ein Verdienst des gekonnt durch das Programm führenden Conférenciers und zugleich 1. Vorsitzenden des Chors, Rüdiger Jakesch – war jedoch zweifellos das diesmal gemeinsam aus vielen hundert deutschen und polnischen Kehlen gesungene Ostpreußenlied. "Standing Ovations" und nicht enden wollender Applaus waren der Dank des Publikums, unter ihnen auch die Teilnehmer der von Paul Koyro eigens für das Kirchspiel Fließdorf organisierten Busreise zum Stadtjubiläum.

"In jedem Manne steckt auch ein Kind", dieser weise Spruch fand tags darauf einmal mehr seine Bestätigung: Eine Fahrt mit der traditionsreichen, fast ein Jahrhundert alten Lycker Kleinbahn, die einzig verbliebene in Ostpreußen, ließ vor allem die Herzen der mittlerweile doch etwas in die Jahre gekommenen Herren höher schlagen. Unter Volldampf zuckelte die Lok prustend mit ihren vier Waggons im Schlepptau gemütlich von Dreimühlen aus in Richtung Lyck, mit einem Zwischenstop in Borschimmen, wo auf dem Heldenfriedhof 73 deutsche und 54 russische Soldaten des 1. Weltkrieges ihre letzte Ruhe gefunden haben. Für gute Stimmung bei der Fahrt im Schneckentempo sorgte einmal mehr der Berliner Polizeichor, der fröhliche Lieder in die Weite der masurischen Landschaft schmetterte.

Eine gedrückte Atmosphäre herrschte dagegen in Kalthagen (Kaltken). Waren es anfangs nur vereinzelte Tränen, die auf den Wangen der einstigen Bewohner glitzerten und verstohlen weggewischt wurden, liefen sie während der feierlichen Einweihung eines Gedenkkreuzes für die früheren Bewohner des kleinen Ortes im Kirchspiel Fließdorf später in Strömen. Und niemand brauchte sich dafür zu schämen, als die Gedanken zurück gingen an glückliche Kindertage.

Rund 150 Deutsche und Polen waren gekommen, um Zeugen dieses denkwürdigen Ereignisses zu sein. Keine drei Monate hatte es von der Beantragung des Vorhabens bei den polnischen Behörden im November 1999 bis zu dessen Genehmigung gedauert. So dankte dann auch Ulrich Gorlo, Unternehmer aus Bielefeld, der gemeinsam mit seinem Bruder Udo die Kosten übernommen hatte, besonders der anwesenden polnischen Bürgermeisterin Danuta Kawecka für die schnelle – leider aber noch nicht alltägliche – Zustimmung, zum Gedenken an die verstorbenen früheren deutschen Bewohner hier ein Kreuz aufstellen zu dürfen. Die Weihe erfolgte durch den polnischen Pfarrer Edward Burczyk, der freundlicherweise auf deutsch zu den Anwesenden sprach.

Kaum waren die Tränen getrocknet, setzten sich Busse und Pkws wieder in Bewegung – in Richtung Auglitten (Sawadden), wo der Kirchspielvertreter von Fließdorf, Paul Koyro, unter großer Beteiligung der früheren wie auch heutigen Bewohner einen Gedenkstein einweihte, gewidmet denen, die hier einst zu Hause waren und im Ersten Weltkrieg ihr Leben lassen mußten. Doch einer fehlte schmerzlich: Initiator Gerd-Jürgen Kowallik, 1. Vorsitzender der LO-Gruppe Kassel und Ortsvertreter von Auglitten (Sawadden). Zwei Wochen vor der Erfüllung seines Herzenswunsches, der Einweihung des Gedenksteins, starb er kurz vor Vollendung seines 65. Lebensjahres.

Am Abend lud der Pianist Gottfried Herbst zu einem Klavierkonzert in der evangelisch-methodistischen Kirche in der Lycker Steinstraße. Für den LO-Kulturpreisträger 1976 war es das vierte Konzert in seiner Geburtsstadt und so gedachte er an dieser Stätte besonders seiner Lycker Klavierlehrerin und vor allem seiner Eltern. Nicht nur für Kenner war es ein Erlebnis, dem überaus sympathischen, bescheidenen Künstler, der sich täglich mindestens acht Stunden der Musik widmet, zuhören zu dürfen. Und wer gar das Glück gehabt hatte, ihm "auf die Finger schauen" zu können, kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Ein wahrer Virtuose präsentierte hier sein Können, u. a. bei Ausschnitten aus dem "Italienischen Konzert" von Johann Sebastian Bach und den "6 Mazurken" von Frederic Chopin. Und das alles auswendig mit über einer halben Millionen Noten im Kopf!

Über 500 Gläubige folgten am Sonntag mittag dem Ruf der Kirchenglocken zum ökumenischen Gottesdienst in der "Großen" Kirche in Lyck, der, wie es der Hausherr, Propst Piotr Walczak, in seiner Begrüßung ausdrückte, Deutsche und Polen im Glauben vereinigte. Für die Kreisgemeinschaft Lyck hieß Peter Dziengel, Redakteur des Hagen-Lycker Briefes, die Gottesdienstbesucher willkommen. Auch für ihn, der 1928 in diesem Gotteshaus getauft, 1943 konfirmiert und Heiligabend des selben Jahres als Chorknabe zum letzten Mal in dieser Kirche gesungen hatte, war es ein besonderer Tag. Knapp 57 Jahre später erfüllte seine Stimme gemeinsam mit dem Polizeichor Berlin, dem die musikalische Umrahmung oblag, erneut die heilige Stätte. Die Predigt des krankheitsbedingt verhinderten Pastors Joachim Mazomeit unter dem Leitgedanken "Friede durch Versöhnung" las Pastor Marian Sontowski von der evangelisch-methodistischen Kirche Lyck vor. Mit dem gemeinsam von Chor und Gemeinde gesungenen "Nun danket alle Gott" ging ein Gottesdienst zu Ende, der Zeichen setzen könnte für das weitere Miteinander von Deutschen und Polen.

Ausgelassene Stimmung herrschte dann am Nachmittag rund um den Wasserturm, Sitz des Deutschen Vereins in Lyck. Selbst in ihren kühnsten Träumen hätten es sich die in der Heimat verbliebenen Landsleute wohl nicht träumen lassen, daß so viele ihrer Einladung zu gemeinsamen Stunden Folge leisten würden. Niemals zuvor tummelten sich so viele Menschen – unter ihnen auch Mitglieder der sächsischen LO-Gruppe Limbach-Oberfrohna, die unter Leitung ihres Vorsitzenden Kurt Weihe den Kreis Lyck inspizierten – auf dem Gelände der Begegnungsstätte, auf die ihre Nutzer nach erfolgter Renovierung mit Recht stolz sein können. Gegrillte Köstlichkeiten, Kaffee, Kuchen und, und, und ... fanden reißenden Absatz – der angemessene Obolus, der dafür zu entrichten war, summierte sich schließlich zu einer stolzen Summe, die der Arbeit des Vereins zugute kommen wird. Unter den Anwesenden konnte die Vorsitzende Edyta Olechnowitz neben den Gästen aus der Bundesrepublik Deutschland u. a. eine Delegation des Deutschen Vereins in Lötzen, der seinen Chor mitgebracht hatte, den Lycker Stadtverordneten und Vorsitzenden des Vereins der Freunde Lycks, Herrn Zaremba, den Bürgermeister der Gemeinde Lyck-Land, Bernard Walenciej, wie auch die Bürgermeisterin von Fließdorf begrüßen. Die große Kulisse wurde dann auch gleich genutzt, um im Keller des Wasserturms ein kleines Museum rund um das Thema "Wasser" zu eröffnen.

Glänzender Schlußpunkt des offiziellen Programms der Kreisgemeinschaft Lyck anläßlich des Stadtjubiläums war schließlich am Abend ein Konzert des in Borschimmen geborenen Kirchenmusikdirektors Erich Piasetzki, Berlin. Die Vorfreude der vielen hundert Zuhörer in der überfüllten "Großen" Kirche wurde allerdings ein wenig getrübt. Die Orgel stellte sich als dringend reparaturbedürftig heraus. Doch auch wenn die technischen Voraussetzungen nicht gerade als ideal zu bezeichnen waren, gelang es Piasetzki, der im Alter von zehn Jahren erstmals diese Kirche betreten hatte, mühelos, die Anwesenden in den Bann seiner Künste zu ziehen.

Ein Tag zur freien Verfügung – Zeit für einen Besuch der Heimatorte. Die Taxiunternehmen in und um Lyck florierten. Auch Gerd Bandilla und Frau Else nutzten gemeinsam mit der Familie Feldmann (Vater, Mutter, Sohn und Schwiegertochter) die Gelegenheit, auf den Spuren der Vergangenheit zu wandeln. Über einen kurzen Abstecher nach Mostolten, dem Heimatort von Gerd Bandilla, führt der Weg nach Herzogsdorf bei Arys, wo die Großeltern von Edeltraut Feldmann einst einen stolzen Hof besaßen. Heute teilen sich zwei polnische Familien den Besitz. In der einen Hälfte, die – im Gegensatz zur anderen – frisch angestrichen einen gepflegten Eindruck vermittelt, werden die Familien Bandilla und Feldmann schon sehnsüchtig erwartet. Mengen an Schinken, Tomaten, selbst eingelegten Gurken stehen bereit. Ein Dank für die Unterstützung mit Kleidung und kleinen Geldbeträgen, die Familie Feldmann bereits seit 1971 dem Rentnerehepaar zukommen läßt. Doch all die Mühen können nicht über die offensichtlichen finanziellen Engpässe hinwegtäuschen: Keine Toilette, kein Bad, statt einer Küche lediglich eine alte Kochplatte. Dennoch zeigen sich die beiden zufrieden: "Hauptsache wir sind gesund, und die Familie hält zusammen." Beladen mit Honig verlassen die Gäste den Hof, insgeheim froh, daß ihnen ein Blick in die Nachbarwohnung erst gar nicht gestattet wurde. Die sprichwörtliche Schönheit der masurischen Landschaft hilft, grüblerische Gedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen. Von einer Anhöhe blickt man über den Hänselsee und sieht schon von weiten das idyllisch gelegene nächste Ziel: Kalthagen, wo Else Bandilla, geb. Skrodzki, und Edeltraut Feldmann, geb. Kamutzki, aufgewachsen sind. Die gemeinsame Zeit der beiden Nachbarkinder wurde durch die Flucht jäh unterbrochen, doch es dauerte nicht lange, bis sie sich im Westen bei einem Treffen der Lycker wiederfanden. Über ein halbes Jahrhundert sind seitdem vergangen. Nun stehen sie wieder auf den elterlichen Grundstücken. Wenn auch mit Wehmut erfüllt, ist Else Bandilla doch glücklich, daß ihr Elternhaus, Wohnsitz des letzten Bürgermeisters von Kalthagen, ganz manierlich aussieht. Die nun dort wohnende junge Familie lebt ausschließlich von der Milchwirtschaft; kein leichtes Unterfangen, das aber von Familie Bandilla so gut es geht unterstützt wird. So ist die zweite überreichliche Bewirtung an diesem Tag dann auch keine wirkliche Überraschung mehr. Während des Kaffeetrinkens wirft Edeltraut Feldmann immer wieder einen sehnsüchtigen Blick auf das Nachbargrundstück. Ja, der eine oder andere Baum ist wohl noch da, aber den Hof der Kamutzkis gibt es nicht mehr; bloß ein paar einzelne Steine als stumme Zeugen. In den 60er Jahren brannte das Anwesen bis auf die Grundmauern nieder: ein Opfer der Schnaps-Schwarzbrennerei.

Schnell noch ein Besuch auf dem Friedhof. Die ehemals so gepflegte Anlage ist kaum noch als Stätte der Toten zu erkennen. Im tiefen Dickicht finden sich nur noch wenige Anhaltspunkte, wo die toten Angehörigen ruhen könnten. Zwei große Gräber und dazu ein kleines – die Großeltern und den kleinen Bruder – sucht Edeltraut Feldmann: "Dort auf der Anhöhe, das sind sie, aber wiederum da unten ...?" Nein, eine letzte Gewißheit gibt es nicht, auch wenn man als Kind auf dem Schulweg beinahe täglich, um den Weg abzukürzen, über den Friedhof gegangen ist.

Eine Schiffsfahrt von Nikolaiken nach Niedersee bot tags darauf Gelegenheit, die Seele baumeln zu lassen. Welch ein herrliches Erlebnis, über die schönen Seen zu schippern! Aber warum mußte es ausgerechnet an diesem Tag so bitterlich kalt sein? Teepunsch und Grog halfen, den Widrigkeiten des Wetters stand zu halten. So aufgewärmt, wagten die meisten dann auch, sich in wackligen Kähnen über die seicht dahinfließende Kruttinna staken zu lassen. Dieses absolute "Muß" eines jeden Masuren-Reisenden sollte lediglich für einen in harte Arbeit ausarten: Reinhard Bethke hatte im wahrsten Sinne alle Hände voll zu tun, um mit ausdauerndem Wasserschöpfen sein leckes Boot über Wasser zu halten.

Die Tage im Heimatkreis neigten sich langsam dem Ende. Doch bevor es ans Abschiednehmen ging, war noch einmal volles Programm angesagt. Über Kalkofen führte der Weg nach Grabnick, wo der "Kaiserstein" am Eingang des Ortes grüßt. Hier hatte Kaiser Wilhelm II. im Februar 1915 die Winterschlacht um Masuren beobachtet. Ein zweites, ebenfalls renoviertes Krieger-Ehrenmal befindet sich in der Nähe der Kirche. Schon von weiten konnte man das zweite Ziel des Tages erkenen: Die drei Kreuze bei Bartendorf (Bartossen), das "Masurische Golgatha". Die Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist zur Zeit dabei, auf einem vier Hektar großen Gelände den größten Umbettungsfriedhof im südlichen Ostpreußen zu gestalten. Die Arbeiten sind voll im Gange, so daß Besuchergruppen demnächst wohl nicht mehr durch die "Wildnis" den Weg zur Anhöhe erklimmen müssen. Schließlich die letzte Station der Reise an die Stätten der Kriegsgräber im Kreise Lyck, für deren Instandsetzung und Pflege sich seit vielen Jahren Gotthilf Willutzki, Heimatbeauftragter der Kreisgemeinschaft, unermüdlich einsetzt: der Wachtberg bei Talussen. Auf dem 1991 von jungen Ostpreußen wieder freigelegten Friedhof liegen 79 deutsche und 278 russische Soldaten begraben, die an dieser Stelle im 1. Weltkrieg gefallen sind.

Zu einem letzten gemeinsamen Treffen kamen die Reiseteilnehmer auf dem "Masurenhof" in Sareiken zusammen. Der 32jährige Jochen Elsner, Sohn Dithmarscher Bauern, will sich hier gemeinsam mit seiner polnischen Frau Marta einen Lebenstraum erfüllen, die Errichtung eines Wild- und Bärenparks. Doch noch lassen die drei Bären aus dem Breslauer Zoo auf sich warten. So bestaunte man ersatzweise die Ziegen, Hühner und Pferde und ließ es sich bei abwechlungsreicher masurischer Küche schmecken.

Mit jeder Menge neuer Eindrücke im Gepäck wurde schließlich über Allenstein, Gnesen und Posen die Rückreise gen Westen angetreten. Viel hatte man erlebt in den zehn Tagen: Beglückendes, manchmal wohl auch Trauriges, wenn der Traum, sein Elternhaus zu finden oder betreten zu dürfen, zerplatzt war. Doch bei aller Wehmut in den letzten Stunden der Gemeinsamkeit hatten viele schon ein festes Ziel vor Augen: Das Hauptkreistreffen der Lycker am 26. und 27. August in der Patenstadt Hagen. Eine gute Gelegenheit, in Erinnerungen zu schwelgen und nochmals auf "575 Jahre Lyck" anzustoßen.