20.04.2024

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02.09.00 UNTERHALTUNG

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 02. September 2000


UNTERHALTUNG

Eine großartige Mitgift
Von HEINZ KURT KAYS

Der alte Joschka galt in Kruschinen seit Jahren als ein gern gesehener Gast. Das hört sich etwas seltsam an, weil – der alte Joschka war nichts weiter als ein Bettler. Es hat auch eine schöne Zeit gedauert, bis er es so weit gebracht hatte. Zuerst war er nur einer der lästigen Almosenheischer, die ab und an in dem kleinen Städtchen auftauchten und mit einem Teller Suppe oder einem Dittchen abgespeist wurden. Allmählich aber gewöhnte man sich an ihn, und endlich mochte ihn niemand mehr missen.

Daß es so kam, verdankte Joschka nicht etwa dem knappen Dutzend Liedchen, die er auf seiner verstimmten Fiedel herunterzukratzen verstand, sondern seinem schlagfertigen Witz und der schier unerschöpflichen Fülle von Schwänken, Geschichtchen und Anekdoten, die in seinem Kopf aufgestapelt waren. Von diesem Reichtum war er stets bereit, anderen mitzuteilen. Und es gab von den damals zweitausenddreihundertundelf Seelen in Kruschinen nur wenige, die es ablehnten, für solche Unterhaltung einen Tribut zu entrichten.

Wenn also in einem Hausflur der Ruf ertönte: "He Madamche, he Herrche, der alte Joschka ist da!" – und diese Anmeldung von ein paar aufmunternden Geigenstrichen begleitet wurde, konnte jedermann sicher sein, einem vergnüglichen Viertelstündchen entgegenzusehen. Und diese erfreuliche Aussicht öffnete dem alten Joschka fast alle Wohnungstüren in Kruschinen.

Eines Tages jedoch, etwa zu der Zeit, da der alte Joschka wieder zu einer seiner Touren durch das Städtchen erwartet wurde, zog ein junger Mann in Kruschinen ein. Auf dem Marktplatz blieb er stehen, sah sich neugierig um und steuerte dann auf die Schwanenapotheke zu. Deren Besitzer, der immer lustige Doktor Gonschor, zählte sozusagen zu den besten "Kunden" des alten Joschka und wurde von diesem stets mit der Ehre des ersten Besuches bedacht. Mit dem Ruf: "Guten Tag, Gospodin, der Schwiegersohn vom alten Joschka ist da", betrat der rotwangige Bursche die Apotheke und ließ sich ohne Scheu auf einem der hochlehnigen Holzstühle nieder, die für wartenden Kunden bestimmt waren. Doktor Gonschor, der gerade einer umfänglichen Bäuerin Hustensaft abfüllte, betrachtete ein wenig verwundert dieses Gehabe. "Nun ja, und was wollt Ihr von mir?" fragte er mit gerunzelter Stirn.

"Was ich will? Aber … ich bin doch der Schwiegersohn vom alten Joschka", wiederholte der Besucher, und es klang so, als wollte er damit sagen: ,Jetzt ist alles in Butter.‘ Und dann – um jeden noch möglichen Zweifel auszuschließen – fügte er hinzu: "Ich hab’ zu Ostern geheiratet die Maruschka, die Tochter vom alten Joschka."

"So, so", lachte der Apotheker, "da gratulier ich auch schön. Hab’ gar nicht gewußt, daß unser Spaßvogel überhaupt eine Tochter hat." – "Eine?" schnaubte der Besucher verächtlich, "fünfe hat er. Und die letzte, die Maruschka, die ist jetzt meine Frau."

Doktor Gonschor begann es langsam zu dämmern. "Da hat sich der Joschka wohl zur Ruhe gesetzt, und Ihr seid an seiner Stelle gekommen?" wollte er wissen. "Nein, nein, Gospodin", kam es zurück, "was mein Schwiegervater ist, der ist noch immer unterwegs. Wär direkt eine Sünde, wenn er aufhören möcht mit der Arbeit, wo er noch so rüstig ist. Nur nach Kruschinen, da kommt er nicht mehr."

"Warum denn nicht?", wunderte sich der Hausherr. "War er denn nicht zufrieden mit uns?" – "Das nicht, Gospodin", lautete die Antwort. "Er hat immer gesagt: In Kruschinen hab’ ich meine besten Kunden." – "Na, denn versteh’ ich aber nichts mehr", meinte der Schwanenapotheker achselzuckend.

"Das ist so, Gospodin. Ich will es erklären ganz genau." Der Bursche hatte offensichtlich Mitleid mit so viel Unverstand. "Der Joschka ist doch geworden mein Schwiegervater. Und da mußte er geben seiner Tochter und mir eine Mitgift bei der Hochzeit. Und gegeben hat er mir Kruschinen!"

"Mitgift? Kruschinen?" Doktor Gonschor kapierte immer noch nicht. Sein Besucher schaute ihn an: "Jawohl! Kruschinen hat er mir gegeben als Mitgift", trumpfte er auf. "Dort hab’ ich meine beste Kundschaft, hat mein Schwiegervater zu mir gesagt, da wirst du deine Arbeit leicht lernen. Aber nun glaub’ ich’s nicht", fügte er mit einem bösen Blick auf den lauthals herausprustenden Apotheker hinzu.

So war es also endlich heraus, welch großartige Mitgift der alte Joschka vergeben hatte. Das erwies sich natürlich als Hauptspaß für die Bewohnerschaft von Kruschinen. Und Gottlieb, so nannte sich der also designierte Nachfolger, konnte mit diesem Hochzeitsgeschenk wohl zufrieden sein. Ein jeder wollte die Geschichte von ihm persönlich hören, und dabei flossen die Gaben reichlicher, als sie selbst sein Schwiegervater erhalten hatte.

Natürlich wirkte in ein paar Wochen der Spaß nicht mehr so wie am Anfang. Aber es zeigte sich, daß der alte Joschka gut vorgesorgt hatte. Sein Schwiegersohn war nämlich in alle Schliche eingeweiht, die man für dies "Handwerk" benötigte. So war Gottlieb bald überall gewissermaßen als der gesetzliche Nachfolger des alten Joschka anerkannt. Und er fühlte sich auch als rechtlicher Erbe seines Schwiegervaters. Seine Tour durch Kruschinen machte er in der gleichen Reihenfolge wie sein Vorgänger. Er kannte jeden Garten, in dem es einen bissigen Hund gab. Und er wußte genau, wo er nur eine Suppe bekommen würde oder ein Stück Brot und wo er auf klingende Münze hoffen durfte.

Da war etwa der Tischlermeister Sawitzki. Bei dem hatte der alte Joschka stets zwei Dittchen erhalten. Als nun in Gottliebs ausgestreckte Hand nur einer gelegt wurde, brummte er unzufrieden: "Aber Gospodin. Ihr habt Euch vertan. Ich bekomme zwei Dittchen, ich bin doch dem Joschka sein Schwiegersohn." – "Sei froh, daß du einen kriegst", meinte der Meister. Gottlieb nahm das Geldstück. Aber dem Apotheker gegenüber klagte er: "Was nutzt es mir, daß mein Schwiegervater mir sein Wort gegeben hat, ich soll Kruschinen haben, wenn Kruschinen sein Wort nicht hält?"

Die Leute, die sich rasch ins Haus flüchteten und den Schlüssel zweimal umdrehten, wenn sie ihn sahen, behandelte Gottlieb nach seiner eigenen Methode. Er lief vor bis zur Tür, rüttelte ein paarmal an der Klinke, zuckte verdrießlich mit den Achseln und ging schließlich mit schweren, weit hörbaren Schritten fort – aber nicht weit. Hinter dem Gartenzaun blieb er gebückt stehen und wartete, bis der Hausbesitzer herauskam und sich vorsichtig umschaute. Dann richtete sich Gottlieb schnell auf und rief: "Ich dachte schon, Ihr seid nicht daheim, Gospodin."

Manchmal hielt man ihm vor, ein kräftiger und gesunder Mann wie er könne doch arbeiten, statt zu betteln: "Arbeiten?" wandte Gottlieb ein, "arbeite ich vielleicht nicht? Versucht Ihr doch mal, in Kruschinen so viel Geld zusammenzubringen, daß Ihr könnt leben davon! Dann werdet Ihr sehen, was das für eine schwere Arbeit ist."

Als er in einem Haus einmal nur die Hälfte der sonst üblichen Gabe erhielt, fragte er sofort nach dem Grund für diese Maßnahme. Er bekam zur Antwort, man habe vor kurzem die einzige Tochter verheiratet und die Hochzeit habe große Kosten verursacht, so daß man jetzt eisern sparen müsse. Gottlieb blieb ungerührt. "Soll sie doch der Herr", so murrte er, "verheiraten von seinem Geld und nicht von meinem!"

Dann kam die Zeit, da Gottlieb selbst eine Tochter unter die Haube zu bringen hatte und eifrig für deren Aussteuer sammelte. Damals war er schon viele Jahre lang regelmäßig nach Kruschinen gekommen und gehörte zu dem Städtchen, wie es einst mit seinem Schwiegervater Joschka der Fall gewesen war. Jetzt nannte man ihn bereits den "alten Gottlieb". Natürlich konnte es sich Doktor Gonschor, der Apotheker, der das Pillendrehen inzwischen auch schon seinem Sohn überlassen hatte, nicht verkneifen, diese Frage an seinen "Freund" zu richten: "Was wirst du geben deinem Schwiegersohn als Mitgift? Etwa Kruschinen?"

Gottlieb schüttelte nachdrücklich den grau gewordenen Kopf. "Nein", sagte er. "Kruschinen kriegt er nicht, solange ich hier noch mein Brot verdienen kann. Aber erben – erben wird er es vielleicht einmal …"

Natürlich machte dieses Wort die Runde durch Kruschinen. Und als dann eines Tages der alte Gottlieb ausblieb für immer, da schaute man sich jeden jungen Burschen genau an, der mit der Bitte um eine kleine Gabe ein Haus oder einen Laden betrat. Es hätte ja der Schwiegersohn vom alten Gottlieb sein können.

Es kam jedoch keiner, der Kruschinen für sich beanspruchte. Warum? Niemand weiß es zu sagen. Doch mancher Bettler, der in den nächsten Jahren in den Ort mitten in Masuren kam, wunderte sich noch über die für ihn unverständliche Frage: "Ihr, habt Ihr nicht Kruschinen geerbt?"

 

Ein Nebelstreif über der Schonung
Von MARGOT KOHLHEPP

Daß es in dem Nachbardorf einen jungen Mann gab, der sich um sie bemühte und von dessen blauen Augen sie ab und zu nachts träumte, bedeutete ihr viel. Aber auch von der Liebe zu ihrem Zuhause war sie durchdrungen. Gegen Abend, wenn das Schummerstundchen begann und sie auf der Bank unter der großen Kastanie am Hauseingang saß, spielende Kätzchen zu ihren Füßen und das Vogelgezwitscher über ihr, dann mußte sie tief aufseufzen vor lauter Zufriedenheit.

Jedes Tier auf dem Hof hatte seinen eigenen Namen, und der Nachwuchs – egal ob Küken, Ferkel oder Kälbchen – wurde gestreichelt und, wenn niemand hinsah, im Überschwang auch mal geküßt. Klebrige Fliegenfänger kamen ihr nicht ins Haus. Dafür hängte sie abends Beifußsträuße in die Küche, und sobald sich alle Fliegen darin versammelt hatten, wurden sie vorsichtig nach draußen getragen. Pfingsten, wenn an beiden Seiten der Haustür ein großer Birkenast stand, legte sie im Vorbeigehen jedesmal die Hand an die weiße Rinde, wie zu einem Gruß. Bei der Gartenarbeit nahm sie ab und zu eine Hand voll Erde auf, sog den Geruch ein und war davon überzeugt, daß nichts so anheimelnd riechen konnte wie dieses geliebte ostpreußische Land.

Sie wollte Pilze holen, legte ein kleines Messer in den Korb und ging in den Wald. Ein mühsames Suchen nach Pfifferlingen erübrigte sich. Schon Großmutter und Mutter kannten die ergiebigen Plätze, und so war sie auch ohne Umweg bald an ihr Ziel gelangt. Vorsichtig schnitt sie jedes Pilzchen am Boden ab und achtete darauf, daß sie das Wurzelgeflecht nicht aus dem Erdreich zog, damit es im nächsten Jahr wieder wachsen konnte.

Käfer in allen Größen und Farben liefen herum. Auf einem großen Pfifferling saßen gleich zwei Schnecken, und sie überließ ihn auch den beiden. Eine Eidechse richtete den Kopf auf und sah sich um. Kurz vor dem fast zugewachsenen Waldweg schlängelte sich eine Blindschleiche zum Gras hin.

Der Korb war fast voll, und es war Zeit für den Rückweg. Beim Blick hinüber zur Schonung sah sie einen schmalen Nebelstreif. Bei dieser Tageszeit war das verwunderlich. Langsam ging sie darauf zu, aber als sie näher kam, wehte der Nebel tiefer in die Schonung hinein, und sie folgte ihm. Da lag vor ihr ein Reh. Die Schlinge, die ein Wilddieb gelegt hatte, war tief um den Hals gezogen. Mit nach hinten gebogenem Kopf, offenem Maul und heraushängender Zunge rang das Tier röchelnd nach Luft. Die Beine hatten bei dem Versuch, der Qual zu entfliehen, den Waldboden aufgerissen. Jetzt lagen sie still, ohne jede Kraft.

Sie läßt sich auf die Knie fallen und versucht, die Schlinge zu lösen. Vergebens. Auch das Messer kann den Draht nicht zerschneiden. Ein Ende ist fest um den restlichen Draht gewickelt. Mit größter Anstrengung versucht sie es loszudrehen. Tief dringt die Spitze in ihre Finger und wirklich, das fast Unmögliche geschieht, und die Schlinge löst sich endlich.

Leicht streichen ihre Hände über die Einkerbung am Hals des Tieres. Dessen aufgerissene Augen sehen sie immer noch starr und zu Tode erschrocken an, aber die Atemzüge werden ruhiger.

Am liebsten hätte sie tröstende Worte gesagt, aber diese wurden dann nur gedacht. Ganz vorsichtig steht sie auf und verbirgt sich hinter dem Baum. Allmählich erholt sich das Tief, die Ohren bewegen sich etwas, und es versucht, sich zu erheben. Immer wieder knicken die Beine ein, schließlich steht es schwankend aufrecht. Der von ihr fast vergessene Nebel wabert um die Tiergestalt, hüllt kurz seine Retterin ein und löst sich dann auf. Als wieder klare Sicht ist, sieht sie das Reh mit staksigen Schritten langsam in der Schonung verschwinden.

Ihr scheint, als habe die ganze Zeit über der Wald den Atem angehalten. Kein Vogellaut war zu hören gewesen; nun piepst, klopft und singt es wie ein einziger Freudenruf. Aufatmend lehnt sie sich an die Douglasfichte und öffnet mit ihren blutenden Fingern eine Blase in der Baumrinde, so daß der konzentrierte Harzduft austritt. Sie sieht zu den Wolken auf. Wenn der Herrgott ein wenig Zeit hat, lächelt er sicher jetzt zu ihr hinunter.