28.03.2024

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09.09.00 Die Reform der Reform der Reform?

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 09. September 2000


Die Reform der Reform der Reform?
Klarer Schlußstrich unter eine verfahrene Angelegenheit
Von R. G. KERSCHHOFER

Stellt Euch vor, es ist Reform, und keiner geht hin!" Das Vorstellungsvermögen der Rechtschreib-Reförmlinge war zweifellos unterentwickelt, denn die Volksabstimmung mit Kugelschreiber und Tastatur brachte ein klares Ergebnis: Das oktroyierte Reförmchen wird von einer überwältigenden Mehrheit abgelehnt bzw. ignoriert, und neben ein paar Gesinnungstätern macht nur mit, wer beruflich dazu gezwungen ist. Für diesen Ortho-Murks wurden also Milliarden verpulvert, Energien vergeudet und Gräben aufgerissen! Immerhin haben Management-Schulen nun ein Fallbeispiel anzubieten, wie man’s nicht machen soll: Unklare Zielsetzungen und Kompetenzen, keine Kosten-Nutzen-Analyse und keine persönliche Haftung für Resultate.

Wer standhaft geblieben war und es auf sich genommen hatte, dafür ins erzkonservative oder ultranationalistische Eck gestellt zu werden, darf aber wieder hoffen: Die normative Kraft des Praktischen veranlaßt so manchen früheren Konformisten zu reuiger Umkehr, und die "FAZ" könnte dabei den entscheidenden Impuls geliefert haben! Es geht daher mehr denn je um gezielte Öffentlichkeitsarbeit, um Vermittlung jenes Grundwissens und jener Kernargumente, die zur Abwehr von Manipulation und Scharlatanerie unerläßlich sind: Das betrifft die politischen Aspekte, das heißt deklarierten Beweggründe und (heimtückischen) Nebenabsichten, die linguistischen Aspekte, von denen eine echte Reform ausgehen müßte, und die Möglichkeiten, im Rahmen der alten Ordnung – quasi evolutionär – Verbesserungen herbeizuführen.

Wozu eigentlich eine "Reform"? Reform ist wie eine Investition: Der Soll-Zustand muß besser sein als der Ist-Zustand, und der Umstellungsaufwand darf keinesfalls den Gewinn übersteigen. Eine Rechtschreib-Reform muß also der Sprachgemeinschaft in ihrer Gesamtheit nützen, nicht bloß den Verlagen, Kulturbürokraten und Experten. Und schon gar nicht den marxistischen Agitatoren: Denn so wie die Bolschewiken und Maoisten nach ihrer Machtübernahme Schriftreformen durchführten, angeblich zur Bekämpfung des Analphabetismus, so treten auch ihre Epigonen mit pseudo-pädagogischen Vorwänden für radikale Reformen ein. (In der neuaufgeflammten Debatte wurde bereits wieder die extreme Kleinschreibung aufs Tapet gebracht!) Es ging und geht aber immer nur darum, das "Alte" für die Jungen möglichst unlesbar zu machen, – wie etwa auch durchs Abwürgen von Kurrentschrift und Fraktur! Kulturkommissare können dann bestimmen, was gedruckt und gelesen werden soll. Unerwünschte Schriften – ob Bücher oder Feldpostbriefe – kommen heute allerdings nicht auf den Scheiterhaufen, sondern ins "Recycling".

Nun, die totalitaristischen Pläne sind zwar nicht aufgegangen, doch die Globalinskis können sich trotzdem freuen: Das angerichtete Rechtschreib-Chaos paßt durchaus zum Ziel der Entdeutschung. Es paßt zur Muttersprachlosigkeit, wie man sie bereits in den Kindergärten durchzusetzen versucht. Es paßt zum EU-Sprachenstreit. Es paßt zu einem unter marktwirtschaflichen Vorwand geführten Kampf gegen die Buchpreisbindung, der ein Kampf gegen das Qualitätsbuch ist. Es paßt ganz allgemein zur Untergrabung etablierter Normen und Autoritäten. Und es paßt zur Schwächung unserer Kultur und Wissenschaft, unserer Wirtschaft und Überlebensfähigkeit!

Das publikumswirksamste Argument der Reformer lautet bekanntlich, daß es um "Erleichterungen" beim Schreiben und beim Erlernen der Regeln gehe. Unterschwellig wird dadurch die Zielvorstellung vermittelt, möglichst so zu schreiben, "wie man spricht". Doch genau wie der Zweck der Sprache nicht im Sprechen, sondern im Verstandenwerden liegt, muß es auch bei der Schrift in erster Linie um die Lesbarkeit gehen! Erleichterungen für den Schreiber können Nebenwirkung sein, doch kein Ziel an sich. Dazu noch eine zeitökonomische Überlegung: Es wird um ein Vielfaches mehr gelesen als geschrieben!

Um das Grundproblem jeder Rechtschreibung zu illustrieren, empfiehlt sich ein Rückblick auf die Entwicklung unserer Schrift: Am Anfang standen bildliche Darstellungen, die bestenfalls Gedächtnisstütze waren, aber keinen Bezug zur Sprache hatten. Mehrere frühe Hochkulturen schafften unabhängig voneinander den nächsten Schritt: Analog zum linear empfundenen zeitlichen Ablauf gesprochener Worte, also akustischer Symbole, wurden in ebenso linearer Weise bildliche Darstellungen angeordnet, die dasselbe bezeichnen sollten. Auch hier gab es noch keine Beziehung zwischen Laut und Schrift, wohl aber Entsprechungen im bezeichneten Inhalt – mit sequentieller Analogie von zeitlicher und räumlicher Dimension. In der Folge kam es zu Stilisierung und Abstraktion der bildlichen Symbole, wobei das jeweils verfügbare Schreibmaterial eine bedeutende Rolle spielte. Chinesisch steht nach wie vor auf dieser Stufe, und das ist weder Zufall noch Nachteil, denn wesentlich ist stets die Struktur der zu schreibenden Sprache: Für monosyllabische Tonsprachen wie das Chinesische ist die Symbol-Schrift eher geeignet als ein Alphabet und dient obendrein als einigendes Band für Volksgruppen, die mündlich oder in Lautschrift nicht miteinander kommunizieren könnten!

Im Niltal und in Mesopotamien gelang die Bezeichnung von Silben und Einzellauten: Ausgewählte bildliche Symbole wurden zu Symbolen für akustische Merkmale, speziell für den Anlaut des zugehörigen Wortes ("Akrophonie"), und diese rudimentäre phonetische Schrift ermöglichte es auch, Neues – etwa Namen und Lehnwörter – zu schreiben. Darauf aufbauend schafften die Phönizier den nächsten Schritt, nämlich den gänzlichen Verzicht auf Bildzeichen. Auch das war kein Zufall, denn ihre auf einem bedeutungstragenden Konsonantengerüst beruhende Sprache legte die Abstraktion zur reinen Buchstabenschrift nahe – zu einer Konsonantenschrift ohne Bezeichnung der Vokale. Auf die phönizische Schrift gehen sämtliche Alphabete zurück – auch jenes, mit dem das jahrhundertelang mündlich überlieferte "Buch der Bücher" nachträglich aufgezeichnet wurde. Die indogermanische Struktur des Griechischen inspirierte letztlich die Erfindung von Vokalzeichen, und von da an gibt es eine kontinuierliche Entwicklung zur lateinischen bzw. zyrillischen Schrift und zu diversen Ansätzen normierter Rechtschreibung.

Die eindeutige Entsprechung von Laut und Schrift bleibt jedoch Illusion! Unsere Wörter bestehen aus "Phonemen", aus idealisierten Lauten, die – abhängig von den Nachbarlauten – unterschiedliche "phonetische", das heißt akustische Ausprägungen haben. Andererseits kann, was in phonetischer Hinsicht gleich scheint, Ausprägung unterschiedlicher Phoneme sein. Rein phonetische Schriften aber sind – außer als Hilfsmittel beim Erlernen von Fremdsprachen – unbrauchbar, und selbst die Zuordnung von Phonemen zu "Graphemen", das heißt Schriftzeichen, birgt Widersprüchlichkeiten. Die Fähigkeit des Lesens und Schreibens ist und bleibt daher undenkbar ohne profunde Kenntnis von Wortschatz und Grammatik der jeweiligen Sprache, und Sprache bleibt undenkbar ohne jenes Weltwissen, in dem sie quasi "aufgespannt" ist. Es bringt nichts, das Erlernen der Rechtschreibung "erleichtern" zu wollen! Freiräume sind sogar didaktisch verfehlt, denn der altväterische Spruch von Hänschen und vom Hans, der’s nimmermehr lernt, ist heute neurophysiologisch untermauert: Gerade im sprachlichen Bereich gibt es frühe, prägende Entwicklungsstadien!

Jede Schreibung ist irgendwie defektiv – und trotzdem ist Reglementierung nötig, um Mißverständnisse zu minimieren. Jede Norm ist ein Kompromiß aus Ideal und Ökonomie, Präzision und Alltagserfordernis, Aktualität und Tradition – und trotzdem ist nicht jede Norm gleich gut! Es geht um eine Optimierung unter Berücksichtigung aller lexikalischen, syntaktischen, morphologischen, phonologischen und phonetischen Besonderheiten der betreffenden Sprache – sowie der Lebensinteressen ihrer Sprecher!

Eine ernstzunehmende Reform setzt also ein großangelegtes, zwischen allen beteiligten Ländern akkordiertes Forschungsprojekt voraus, das auf ein gestecktes Ziel hin alle theoretisch möglichen Änderungen vorurteilslos zu analysieren hat – sowohl einzeln als auch in ihrem Zusammenwirken. Das betrifft Länge und Kürze von Vokalen, Konsonantenverdopplung, S–Schreibung (s, ss, ß), zusammengesetzte Grapheme und diakritische Zeichen ("ae" statt "ä"?), Stammprinzip bei Erb- und Lehnwörtern, Schreibung von überlieferten Fremdwörtern (griechisch, lateinisch) und von neuen (englisch), Groß- und Kleinschreibung, Getrennt- und Zusammenschreibung, Abteilungsregeln und Interpunktionen. Obwohl in der Linguistik nach wie vor eher die mechanistischen Vorstellungen dominieren, lassen die heute verfügbaren empirischen Methoden zusammen mit den Erkenntnissen von Natürlichkeits-Theorie und Neurolinguistik für viele Einzelfragen brauchbare Aussagen erwarten, auf die dann eine Gesamtempfehlung aufbauen kann.

Vielleicht wird sich herausstellen, daß in einer zur Nominalisierung neigenden Sprache das Substantiv nicht zufällig "Hauptwort" heißt und daß seine Großschreibung ein Vorteil für den Leser ist! Vielleicht auch, daß es wegen des Sinnzusammenhangs von Ableitungen aus dem Griechischen vorteilhaft ist, weiterhin zwischen "Theta" und "Tau" zu unterscheiden und orthographische Bastarde zu vermeiden! Und vielleicht, daß pseudo-phonetische Vereinfachungen eher nachteilig sind – siehe Hänschen und Hans! Da die überlieferte deutsche Orthographie ohnehin nicht an historischer Überfrachtung oder anderen Extremen leidet, wird sich vielleicht herauskristallisieren, daß eine Reform völlig unrentabel ist – dann war das Geld für die Studie besonders gut angelegt!

Das ist Überleitung zur Frage, welche Verbesserungen ohne Reform möglich sind – stets unter dem Primat der Lesbarkeit. Man sollte die assoziative Funktionsweise unseres Gehirns berücksichtigen: Das Verstehen gehörter oder gelesener Sprache läuft nämlich keineswegs so linear ab, wie es Bandaufnahmen oder Schriftzeilen suggerieren! Die Abarbeitung des Wahrgenommenen erfolgt vielmehr parallel, überlappend und in Blöcken, welche – der Natur des Kurzzeitgedächtnisses entsprechend – nicht zu lang sein dürfen. Der Prozeß ist konditioniert durch sprachliche und außersprachliche Umstände, spielt sich also im Rahmen einer Erwartungshaltung ab, die hilfreich – oder irreführend sein kann.

Die zu dekodierende Information steckt nicht nur in den segmentalen Elementen, also den Phonemen, Morphemen und Lexemen (Wörtern), sondern auch in suprasegmentalen Merkmalen, die als Intonation oder Prosodie bekannt sind: Variationen des Schalldrucks (Wort- und Satzakzent), Hebung oder Senkung des Tonfalls, Dehnungen und Pausen beeinflussen die Erwartungshaltung und tragen wesentlich zum Verständnis des Gesprochenen bei. Die gleiche Wortsequenz kann – je nachdem – Feststellung oder Frage, Vorwurf, Überraschungsreaktion etc. sein, aber gerade diese Aspekte sind in der Schrift nicht oder bloß mangelhaft berücksichtigt! Es erscheint deshalb zweckmäßig, das Geschriebene besser "aufzubereiten", es zu strukturieren und zu "portionieren", wofür – abgesehen von Satzbau und Stilistik – graphische Hervorhebungen, Bindestriche, Gedankenstriche, Beistriche und andere Satzzeichen in Frage kommen.

Überlegt verwendete Bindestriche machen zusammengesetzte Wörter leichter lesbar, insbesondere wenn sie nicht-lexikalisierte spontane Kombinationen sind ("Bleistift-Mörder") oder aus mehr als zwei Wortstämmen bestehen ("Autobahn-Raststätte") oder mindestens ein Fremdwort enthalten ("Frustrations-Schwelle", "Inzest-Tabu") oder zahlreiche Ableitungs-Morpheme aufweisen ("Verteidigungs-Anstrengungen") oder Eigennamen umfassen ("Schröder-Versprechungen") oder wenn falsche Assoziationen vermieden werden sollen. (Bei "Druckerei-Erzeugnissen" und "Europa-Parlament" etwa könnten ohne Bindestriche "Eier" bzw. "Opapa" mitschwingen!)

Gedankenstriche und Beistriche sind geeignet, jene minimalen Pausen und Tonschwankungen anzudeuten, die beim Hören eine Beiordnung oder Unterordnung von Satzgliedern erkennen lassen. Wer sich dessen bewußt ist, hat auch nur selten Schwierigkeiten mit Beistrichregeln! Gedankenstriche signalisieren, wie der Name sagt, Gedankensprünge oder Einschübe. Bei ihrer – wohlgemerkt: sparsamen – Verwendung läßt sich eher als mit Beistrichen jener Schachtelsatz-Effekt vermeiden, der das Verständnis so erschwert.

"Schreiben, wie man liest" muß oberste Maxime der Rechtschreibung sein, und das spricht auch für Zusammenschreibung gemäß dem prosodischen Wort, also etwa für "mithilfe", "zugunsten", "leidtun": Denn wo Substantive ihren substantivischen Charakter verloren haben, führen Großschreibung und Trennung in die Irre!

Abschließend noch ein Kommentar zu Versuchen, die gescheiterte Reform durch nachträgliches Herumbasteln zu sanieren: Es ist stets besser, eine Fehlinvestition sofort und gänzlich abzuschreiben, als dem schlechten Geld gutes nachzuwerfen.