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23.09.00 Über die neuere russische Literatur

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 23. September 2000


"Westler" gegen Slawophile
Über die neuere russische Literatur

Die russische Literatur zählt zu den großen Weltliteraturen. In ihr liegt ein ungeheurer Reichtum und eine unvergleichliche Vielfalt der schöpferischen Richtungen. Bereits im 11. Jahrhundert existierte ein ostslawisches Schrifttum, jedoch gelangte es erst spät – durch die petrinischen Reformen und die allgemeine Europäisierung Rußlands – ins Bewußtsein der Westeuropäer. Die ständige Spannung zwischen dem "modernen" Fremdeinfluß aus dem Westen gegenüber einem vorzivilisatorischen Slawentum, wie sie beispielsweise in den Bezeichnungen "Slawophiler" und "Westler" Ausdruck fand, führte zugleich zu einer Mannigfaltigkeit der Formen und Richtungen.

Professor Reinhard Lauer, Direktor des Slawischen Seminars der Universität Göttingen, hat in einer umfassenden Geschichte der russischen Literatur einen Überblick über die Literaturentwicklung vom 17. Jahrhundert bis heute dargestellt. Der Autor beginnt mit der Epoche der Europäisierung der russischen Literatur in der Zeit Peters des Großen. Dabei ist ein Hauptanliegen des Autors, neben dem Aufweisen der Gattungsgeschichte sowie der chronologischen, typologischen und geneti-schen Literaturverbindungen, nicht nur die Feststellung von sogenannten "Einflüssen" aufzuführen, die bereits in der petrinischen Epoche stattgefunden haben, sondern darüber hinaus auf den literarisch-kulturellen Dialog zwischen den Völkern hinzuweisen.

Seit den politischen Veränderungen in Rußland gegen Ende des 20. Jahrhunderts zeigt sich die russische Literatur erstmals in ihrer Vollständigkeit, ohne die Ausgrenzungen und Unterschlagungen, die sowohl in der sowjetischen als auch in der Zarenzeit stattgefunden haben. Insofern muß es heute Aufgabe der Wissenschaftler sein, das Bild der russischen Literatur neu zu zeichnen. Das Werk Lauers beschränkt sich auf die neue russische Literatur (17. Jh. bis heute), während die altrussische (11. bis 17. Jh.) außer acht gelassen wird. Besondere Beachtung der umfangreichen Literaturgeschichte verdienen die Kapitel, die sich mit Entwicklungen und Tendenzen seit der Phase der Perestroika bis heute befassen.

Die Perestroika hat die Voraussetzungen für eine Reintegration aller Teile der russischen Literatur geschaffen, wobei sie zugleich neue Wege und Möglichkeiten eröffnet hat, deren weiterer Verlauf und Ergebnisse längst noch nicht absehbar sind. Während in vorsowjetischer Zeit niemals die gesamte zur Verfügung stehende Textwelt veröffentlicht werden konnte – zum Teil aus politischen, religiösen oder auch ästhetischen Gründen – bestehen heute erstmals unbegrenzte Möglichkeiten, die allenfalls durch finanzielle Ressourcen auf der Produktions- und Rezeptionsseite eingeschränkt werden. So entstand ein breitgefächerter Pluralismus der Richtungen und Gruppierungen, der nicht nur höchst verschiedene künstlerische Methoden, Schreibweisen und Textherstellungsverfahren hervorgerufen, sondern auch zu unterschiedlichen Auffassungen von der Rolle des Schriftstellers und der Funktion von Literatur in der neuen russischen Demokratie geführt hat. Die weitere Entwicklung der russischen Literatur dürfte insofern auch im Westen von besonderem Interesse sein. MRK

Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart, C. H. Beck Verlag, München 2000, 1072 Seiten mit 33 Abb., Leinen, 98 Mark