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30.09.00 Literaturlandschaften: Polnische Lesevorlieben und die Krise "schöner Literatur"

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. September 2000


Literaturlandschaften: Polnische Lesevorlieben und die Krise "schöner Literatur"
Blicke hinter Buchdeckel
von Ewa Maria Slaska

Was lesen die Polen im Jahr 2000? – Die Antwort ist einfach: weder das, worüber in Polen die Literaturkritiker streiten, noch das, was die deutschen Kenner zu wissen glauben.

Die Stimme der Kritiker ist im normalen Leben eines polnischen Lesers kaum von Bedeutung, sie kommt aber um so stärker zum Tragen bei der Nominierung der Kandidaten für die wichtigsten Literaturpreise des Landes: den "Nike"- und den "Koscielski"-Preis.

Nike (röm.: Viktoria) war die griechische Siegesgöttin. Ein in sozialistischer Zeit errichtetes, ihr gewidmetes Denkmal steht in Warschau, und so trägt der 1997 von der größten polnischen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" sowie der Firma Nikon gestiftete Literaturpreis ihren Namen. Nike symbolisiert die neue – auch literarische – Souveränität Polens. Der Preis ist mit 80 000 Zloty (etwa 40 000 Mark) für polnische Verhältnisse gut dotiert und wurde sofort zum nationalen Nobelpreis hochstilisiert.

Die bisherigen Preisträger waren Wieslaw Mysliwski, Czeslaw Milosz (der tatsächliche Nobelpreisträger von 1980) und Stanislaw Baranczak. Die Auszeichnung wird immer am 1. Oktober verliehen. Wer der diesjährige Laureatus sein wird, steht also noch offen; 20 Kandidaten warten in diesen Tagen auf die Entscheidung der Jury.

Schon die Nominierung zum Nike-Preis ist für den Autor und seinen Verlag ein begehrtes Zeichen der Anerkennung. Als Favorit des 2000er "Rennens" gilt Marek Bienczyk mit seinem Roman "Tworki", der Geschichte einer schwierigen und paradox dargestellten deutsch-jüdisch-polnischen Beziehung zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Sie spielt in einer Irrenanstalt namens "Tworki" bei Warschau, und man muß wissen, daß "Tworki" in Polen ein feststehender Begriff ist.

Während der Nike-Preis ein neues Element der Literaturszene ist, blickt der Koscielski-Preis auf eine 40jährige Tradition zurück. Er wurde 1961 im Exil von der Witwe des Dichters und Übersetzers Wladyslaw Koscielski zur Ehrung ihres früh und tragisch verstorbenen Sohnes ins Leben gerufen. Der Preis ist als unabhängige Förderung der Jugendliteratur gedacht; die Geehrten müssen jünger als 40 Jahre sein.

Die Liste der Koscielski-Preisträger weist alle wichtigen Namen der polnischen Literatur auf, Namen, die dann auch in Deutschland bekannt wurden. Beide Auszeichnungen bilden zusammen mit dem Trakl-Preis der Österreicher für polnische Literatur den strukturellen Rahmen des zeitgenössischen Literaturlebens in Polen und vermitteln sozusagen in alle Welt ihre Laureaten, die dann im Westen übersetzt, verlegt, besprochen und manchmal sogar gelesen werden.

Die Preisträger sind natürlich auch im eigenen Land bekannt, jedoch zeigen die von den Buchhändlern zusammengestellten Bestsellerlisten andere vorrangige Interessen des Lesers. So war das vom wichtigsten polnischen Verlag Prószynski&Ska verlegte "Schwarzbuch des Kommunismus" der Kassenschlager 1999.

Dicht hinter dem epochalen Werk der Historikerriege um Stéphane Courtois und Nicolas Werth rangierte die literarische Reportage "Heban" (Ebenholz) des Auslandskorrespondeten Ryszard Kapuscinski. Er ist der einzige Autor, der gleichermaßen von den Kritikern in Polen, der westlichen Leserschaft und seinem treuen polnischen Publikum anerkannt ist.

Das seit diesem Jahr auch in deutscher Sprache unter dem Titel "Afrikanisches Fieber" verfügbare Buch ist eigentlich schon 1976 veröffentlicht worden und wurde nur um Überlegungen Kapuscinskis zum Wesen des modernen Krieges erweitert. Es handelt sich um eine Reportage über den Unabhängigkeitskrieg in Angola 1975, bei dem Kapuscinski als einziger ausländischer Korrespondent vor Ort war.

Den ersten Platz in den diesjährigen polnischen Bestsellerlisten nimmt mit großem Abstand der brasilianische Schriftsteller Paulo Coelho ein, den seine als Romane getarnten philosophischen Trak-tate über den Weg des Menschen zu seinem höheren Ich bekannt machten. Coelhos Werke vermitteln eine unmißverständliche ethische Botschaft: Suche nach dir selbst und nicht nach Rummel und Ruhm.

In den Popularitätslisten mit ihren jeweils fünf Positionen für literarische Werke sowie für Sachbücher landete Coelhos neuestes Buch "Veronika beschließt zu sterben" in ersterer Kategorie sofort auf Platz eins, während dort sein Dauerbrenner "Der Alchimist" seit fast drei Jahren ständig in der Spitzengruppe zu finden ist.

Ansonsten lesen die Polen – und das gilt für beide Sparten – vor allem polnische Autoren. Zwar verkaufen sich auch ausländische Neuerscheinungen wie die anmutige Kindergeschichte "Harry Potter und der Stein der Weisen" von Joanne K. Rowling oder die Werke Stephen Kings, Terry Pratchetts und William Whartons, jedoch nimmt solcherart "leichte" Literatur meistens keine oberen Plätze in der Verkaufsrangliste ein.

Der einzige derzeit sonst noch in der Spitzengruppe vertretene ausländische Autor ist der Amerikaner George Weigel mit "Der Zeuge der Hoffnung. Die Biographie des Papstes Johannes Paul II.", einem Buch mit einem ausgeprägt "polnischen" Charakter also. Alle anderen Autorennamen kennt trotz ihrer großen Popularität in Polen in Deutschland kaum jemand.

Waldemar Lysiak setzt sich in seinem Buch "Das Jahrhundert der Lügner" unter ethischen Aspekten kritisch mit den letzten hundert Jahren der europäischen und der polnischen Geschichte auseinander, und der äußerst beliebte Priester und Dichter Jan Twardowski sinnt ebenso kritisch über die conditio humana und das Bewahren des Humanen im Alltag nach ("Das Grundlehrbuch von Priester Twardowski für Kleine, Größere und ganz Große zum Nachdenken").

Kazimierz Z. Poznanski, Ökonom und Professor an der Washington University in Seattle, nimmt in "Der große Schwindel" das "Polnische Wunder", also die Wirtschaftsreformen der letzten Dekade, unter die Lupe und zerpflückt sie als Ausverkauf des polnischen Staates an den westlichen Kapitalismus.

Nicht zuletzt gehört Gustaw Herling-Grudzinski zu den häufig gelesenen Autoren. Der unlängst verstorbene Altmeister aus dem Exil und jahrzehntelange Mitarbeiter des wichtigsten Exilverlags "Kultura" in Paris erzählt in "Der kürzeste Leitfaden zu mir selbst" von seinem Leben und seinen Überzeugungen.

Die heutigen polnischen Verkaufsschlager bezeugen allesamt den markanten, im Westen längst vollzogenen Bruch der Leserschaft mit der "schönen Literatur", wie man Dichtung, Romane und Theaterstücke in Polen nennt. Das Interesse gilt statt dessen dem anspruchsvollen Sachbuch, vor allem dem, welches sich mit der Problematik der modernen Welt befaßt.

Auch in Deutschland hat schon manches derartige Buch den Durchbruch geschafft, wobei oft der erfolgreiche Weg eines Individuums "nach oben" im Mittelpunkt steht, während in Polen speziell philosophisch-kritische Betrachtungen sehr gut ankommen.

Der Pole, der so plötzlich ein "Bürger der globalisierten Welt" geworden ist, braucht offensichtlich das Buch als Wegweiser, um sich an der Schwelle des neuen Jahrtausends nicht gleich zu verlaufen.

Ewa Maria Slaska ist Schriftstellerin und Journalistin und lebt seit 1985 in Berlin. 1994 gründete sie den "WIR" e.V. – "Verein zur Förderung der Deutsch-Polnischen Literatur" und ist Chefredakteurin der zweisprachigen Literaturedition "WIR".