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30.09.00 Zum 150. Geburtstag des deutschen Agrarwissenschaftlers Johann Heinrich v. Thünen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. September 2000


Zum 150. Geburtstag des deutschen Agrarwissenschaftlers Johann Heinrich v. Thünen

Er war einer der bedeutenden deutschen Wirtschaftstheoretiker und Agrarwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Bekannt wurde er als Mitbegründer der landwirtschaftlichen Betriebslehre. Durch praktische Studien versuchte er seine Thesen über Renten, Erträge und Standort der Landwirtschaft zu untermauern. Er entwickelte in einem Modell seine grundlegende und noch heute gültige Lehre vom Standort der Landwirtschaft: Johann Heinrich v. Thünen. Er wies nämlich nach, daß sich die Anbausysteme mit wachsender Entfernung zur Stadt ändern müssen. Die Höhe der Marktpreise und die Transportkosten bestimmen die Art und Intensität der Bodennutzung (Thünensche Kreise).

In engem Zusammenhang damit stehen Thünens Theorie der Grundrente sowie seine Lohn- und Zinstheorie. Der neoklassische Gedanke der "wirtschaftlichen Ritterlichkeit" trifft das Wesen des Thünenschen Schaffens, das auch unter das Leitwort "Da sein für andere" gestellt werden könnte. Thünen als Sozialökonom – allein das wäre Grund genug, sich seiner aus Anlaß des 150. Todestages zu erinnern. Thünens wissenschaftliche Leistungen erstrecken sich aber auch auf die Bodenfruchtbarkeit, seinerzeit als "Bodenstatik" bezeichnet, und schließlich erwarb er seinen weltweiten wissenschaftlichen Ruf als Nationalökonom. In der Nationalökonomie war Adam Smith und in der wissenschaftlichen Landwirtschaft war Thaer Thünens Lehrer.

Die Rostocker Landesuniversität erteilte Thünen 1830 honoris causa die Würde eines Doctor philosophiae. Die wissenschaftliche Welt erfüllte eine moralisch selbstverständliche Pflicht, als sie Thünen am 22. September 2000 angemessen ehrte. Dies geschah auf einer internationalen Konferenz unter dem Motto "Thünensches Gedankengut in Theorie und Praxis". Sie begann am 21. September in Rostock und wurde nach Ortswechsel am 24. September in Tellow abgeschlossen.

Um die Erhaltung und Pflege des wissenschaftlichen Erbes mühen sich erfolgreich die seit 1990 bestehende Thünengesellschaft und das schon seit 1969 im Aufbau befindliche heutige Thünen-Museum in Tellow.

Thünen wurde am 24. Juni 1783 in Canarienhausen (Kreis Jever, damals Großherzogtum Oldenburg) geboren. Seine eigentliche landwirtschftliche Ausbildung begann er 1802 in der erst 1798 eingerichteten Landwirtschaftlichen Lehranstalt in Groß-Flottbek bei Hamburg unter Lucas Andreas Staudinger. Er setzte sie in Celle bei Albrecht Daniel Thaer (1752–1828) fort und schloß seine akademische Laufbahn in Göttingen 1804 ab. Hier hörte er unter anderem auch Vorlesungen über Kant. Der Einfluß der Kantschen Philosophie sollte für seine spätere geistige Grundhaltung von entscheidender Bedeutung sein.

Auf Grund des im Jeverland herrschenden Jüngstenerbrechts konnte Thünen als Erstgeborener das väterliche Gut nicht erben. Nachdem er 1806 geheiratet hatte, fand er seine Existenz zunächst als Pächter des vorpommerschen Gutes in Rubkow. Widrige Umstände veranlassen ihn nach zwei Jahren, Rubkow aufzugeben. Die Zeit der Gutssuche, bis er 1810 das mecklenburgische Gut Tellow pachtet, verbringt die Familie in Liepen bei Friedland auf dem Gut des Schwagers Otto Berlin. Hier ist Thünen im Herbst 1809 Gastgeber seines Lehrers Albrecht Daniel Thaer und dessen damaligen Schülers Graf Lehndorff aus Ostpreußen. Lehndorff wird als ein "Mann von ausgezeichnetem Verstande und außerordentlicher Feinheit des Benehmens" beschrieben.

Thünens Gutssuche zog sich in die Länge. Er suchte ein kleines Gut, und er fand es schließlich 1810 in dem 465 Hektar großen Gut Tellow (zehn Kilometer nördlich von Teterow an der B 108 Richtung Rostock). Hier arbeitete, wirkte und forschte Thünen 40 Jahre bis zu seinem Tode am 22. September 1850. Als Hörer von Vorlesungen über Kant während seiner Göttinger Studienzeit ist sein Wirken und Tun von diesem Geist geprägt. Auf der Suche nach der Wahrheit über die Bestimmung des Menschen und das Geschehen in der Natur findet er keine Ruhe. Vor allem aber war Thünen praktischer Landwirt, der er auch als Theoretiker stets geblieben ist. Um diese Seite recht zu würdigen, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß es noch keinen Mineraldünger, keine Pflanzenschutzmittel gab und der Ökologiebegriff erst 1866 durch Ernst Haeckel definiert wurde. Die von Thünen erzielten Ertragssteigerungen kamen also ohne Einsatz von Fremdenergie zustande. Worauf das Geheimnis einer Ertragsverdoppelung im Vergleich zum Reichsdurchschnitt in Tellow beruhte, soll an einigen Beispielen nachgewiesen werden:

• In der Zeit von 1810 bis 1824 wurden 80 Prozent des Ackerlandes "durchgemergelt", dabei aber gleichzeitig auch die Erkenntnis gewonnen, daß Mergel die "Dungkraft" nicht erhöht.

• Aushub aus Söllen, Teichen und Gräben (Modde) wurde zur Bodenmelioration eingesetzt. Die ertragssteigernde Wirkung einer Kombination von Mergelung-Moddung wurde auf 2,5 Zentner Roggen pro Morgen berechnet.

• Mit dem "Besanden" von Niedermoor wurde nicht nur die Nutzbarkeit des Standortes hergestellt und seine Leistungsfähigkeit erhöht, sondern die Torfsubstanz zugleich dauerhaft konserviert.

• Über die verbesserte Bodenbearbeitung und die Vertiefung der Ackerkrume mit Hilfe des Tellower Hakenpfluges von 12 auf 18 Zentimeter errechnete Thünen eine Ertragssteigerung von 59 Prozent.

• Nicht ackerfähige Standorte wurden aufgeforstet.

Die Einführung neuer Kulturpflanzen (Klee, Kartoffeln, Raps) und eine kluge Fruchtfolgegestaltung runden das erfolgreiche praktische Wirken ab.

Aus heutiger Sicht liegt der ökologische Inhalt dieser Maßnahmen zweifelsfrei auf der Hand. Äußerungen Thünens über die Natur könnten sogar dazu verleiten, in ihm den Ahnherrn des ökologischen Landbaus zu sehen: "Leicht kann die Natur sich an dem Leichtsinn der Menschen und Regierungen für die Nichtachtung aller früheren Erfahrungen auf eine furchtbare Weise rächen."

Dem landwirtschaftlichen Fortschritt aus innerem Antrieb verpflichtet, war Thünen unentwegt bestrebt, auch dem Wesen der Dinge auf die Spur zu kommen, "die Einheit des Zwecks in den Gesetzen der Natur zu erkennen …" Thünens Wirtschaft war etwa ein halbes Jahrhundert lang die großartigste Versuchsanstalt im Dienste wissenschaftlicher Betriebsmodelle für die Praxis. Für ein erfolgreiches Wirtschaften ist der Reinertrag letztlich die entscheidende betriebswirtschaftliche Größe. Mit Hilfe ausgedehnter Rechnungen gelang es ihm, die Boden-fruchtbarkeit (nach Thünen Reichtum des Bodens), die Preise des Produktes und die Entfernung des Gutes zum Absatzort als bestimmende Größen des Reinertrages mathematisch zu analysieren und nachzuweisen, daß ihr Einfluß folglich entscheidend ist für die Wahl des Wirtschaftssystems. Die Berechnungen führten im Modellfall zur Festlegung von Grenzen für die einzelnen Wirtschaftssysteme. In der Fachwelt verbindet man damit sofort die bildliche Vorstellung von den konzentrischen Kreisen, allgemein nur als "Thünensche Kreise" bekannt.

Der 1826 erschienene Erste Teil seines Werkes "Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Ökonomie" enthält eine tiefgründige Untersuchung über den Einfluß des Weltmarktes auf die Gestaltung des landwirtschaftlichen Produktionsprozesses, der zu damaliger Zeit im Mittelpunkt jeglicher wirtschaftlicher Tätigkeit stand. Im 1850 herausgegebenen Zweiten Teil des "Isolierten Staates …" geht es unter anderem um die Klärung der Grund- bzw. Landrente. Der klassischen Theorie ("Bonitätsrente") von Adam Smith und David Ricardo fügt Thünen die Lage- und Intensitätsrente hinzu.

Thünens theoretisches Betätigungsfeld erstreckt sich aber nicht nur auf den Ertrag selbst, sondern ebenso auf die gerechte Verteilung des erarbeiteten Produktes. Sein soziales Engagement umfaßt die Arbeiten zum naturgemäßen Arbeitslohn und Gewinnbeteiligungsmodell. Der naturgemäße Arbeitslohn fand schließlich den in der Fachwelt bekannten mathematischen Ausdruck, die berühmt gewordene Thünensche Lohnformel. Ihr wesentlicher Inhalt besteht darin, daß der Arbeiter nicht nur den Mindestlohn zur Reproduktion seiner Arbeitskraft erhält, sondern einen weiteren Teil aus dem erarbeiteten Produkt. Lange Zeit beschäftigt sich Thünen mit dem Gedanken eines Gewinnbeteiligungsmodells. Sein Grundgedanke dabei ist, daß ein zufriedener Arbeiter mehr leistet, als der, der nur sein Leben fristet. Angesichts der wirtschaftlichen Erfolge, der seit 1846 abgetragenen Schuldenlast, die auf Tellow ruhte, und nicht zuletzt auch in Anbetracht der politischen Situation verfügte er im April 1848, die Gewinnbeteiligung rückwirkend ab 1. Juli 1847 einzuführen. Die Gültigkeitsdauer wird bis 1896 festgeschrieben. Jährliche Gewinnanteile verbessern die soziale Situation der Arbeiter spürbar. Der Zinsbetrag wird alljährlich ausgezahlt. Das Kapital ist ab dem 60. Lebensjahr zum Zwecke der Altersversorgung verfügbar. Bevor sich Thünens Leben seinem Ende zuneigte, errichtete er – auch angesichts scheiternder 48er Hoffnungen – seinen "isolierten Tellower Sozialstaat", der nach seinem Tode noch bis zum Ende des Jahrhunderts real existierte.

Zu den Gutsbesitzern, die Thünens Beispiel folgten, gehörte vor allem der im Jahre 1886 verstorbene Johann Neumann auf Posegnick bei Gerdauen in Ostpreußen. Durch die Lektüre des "Isolierten Staates …" angeregt, führte er eine Gewinnbeteiligung auch für seine Arbeiter ein, die er bis an sein Lebensende beibehielt. Neumann versicherte gegenüber Theodor v. der Goltz, die Gewinnbeteiligung habe sich mit der Zeit so günstig ausgewirkt, daß der höhere finanzielle Aufwand durch den größeren Fleiß der Arbeiter ersetzt worden sei. (Goltz war während seines Ostpreußenaufenthaltes von 1862 bis 1886 unter anderem Ordinarius für Landwirtschaft und Prorektor an der Albertina.)

Mit der Lohnformel, die sich als Inschrift auf Thünens Grabstein in Belitz findet, wies er den Weg, die Lage der Arbeiter unter Berücksichtigung der im kapitalistischen Wettbewerb notwendigen Kapitalbildung dennoch zu verbessern. Mit den Arbeiten zur Lohntheorie erwies er sich als Mitbegründer der Grenzproduktivitätstheorie.

Thünens umfassendes Wirken ist ohne eine gefestigte solide weltanschauliche Bindung nicht denkbar. Er erarbeitet sie sich selbst und empfängt sie zum anderen Teil aus der überlieferten christlichen Tradition. Sein tätiges Christentum praktiziert er aber abseits von kirchlicher Frömmigkeit. In dem Satz "Tue, was Dir, wenn alle andern ebenso handeln, zum Heil gereichen würde, und bringe willig die Opfer, die dieses Prinzip fordert, wenn andere dasselbe nicht befolgen" ist der abgewandelte Kantsche Imperativ erkennbar.

In Thünens geistiger Grundhaltung finden sich christliche Gesinnung und philosophische Bildung übergreifend vereint. Das in einer 40jährigen Schaffensperiode in Tellow entstandene Gesamtwerk verdient uneingeschränkte wissenschaftliche und auch allgemeine öffentliche Beachtung. In der wissenschaftlichen Welt zeigt es bis heute eine bedeutende Nachwirkung. Eine angemessene Ehrung zum 150. Todestag wird deshalb zur moralischen Pflicht. Die im Bundesgebiet und darüber hinaus in der ganzen Welt verstreut lebenden Menschen aus der verlorenen Provinz Ostpreußen ehren Thünen mit zwei inzwischen mannshohen Kastanien auf dem heutigen Museumsgelände in Tellow. Es handelt sich um Exemplare aus den Früchten wuchtiger Kastanienbäume vom Roßgärter Tor in Königsberg, die der Verfasser im September 1994 mit nach Mecklenburg brachte.