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30.09.00 Über den jenseits der Öffentlichkeit geschaffenen Entwurf der Grundrechtecharta

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. September 2000


Europäische Union:
Ungefragt existentielle Staatlichkeit einbüßen?
Über den jenseits der Öffentlichkeit geschaffenen Entwurf der Grundrechtecharta
Von BERNHARD KNAPSTEIN

Seit Anfang August liegt der erste Entwurf der "Charta der Grundrechte der Europäischen Union" vor. Eine überarbeitete Version soll Anfang Oktober veröffentlicht werden.

Und um es gleich vorwegzunehmen: Den Schutz von nationalen Minderheiten sieht sie nicht vor, die neue Grundrechtecharta. Das Recht auf die Heimat ist nicht genannt. Auch wenn die Charta erst in einem ersten Entwurf vorliegt, so gilt zuvor Gesagtes auch für die zweite überarbeitete Version als sicher, da die Auffassungen über die Definition von Minderheiten in den Mitgliedstaaten der EU weit auseinandergehen. Darüber hinaus haben zu viele Mitgliedstaaten der Union Probleme mit den eigenen nationalen Minderheiten, die nach kultureller Freiheit und Autonomie streben. Innerhalb der Union befinden sich etwa Basken und Korsen auf Unabhängigkeitskurs. Doch gerade auch die östlichen Anrainerstaaten der EU haben bis heute Probleme im Umgang mit den nationalen Minderheiten, so etwa Polen mit der deutschen Volksgruppe.

Der Entwurf der Charta, der von dem sogenannten "Grundrechtekonvent"erarbeitet worden ist, liegt ansonsten ganz in der Tradition der französischen Revolution und den Grundsätzen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (Kap. II: Freiheit, Kap. III: Gleichheit, Kap. IV: Solidarität). Diese Grundsätze sind indessen stark überwürzt mit Regelungen zum Europäischen Wirtschaftsraum. Die treibenden politischen Köpfe des EU-Europa möchten seine vorhandenen Konturen ganz offensichtlich ausbauen. Kritik und Beschwichtigungen in den Mitgliedstaaten bleiben dementsprechend auch nicht aus. Den Briten gehen die Rechtspositionen in dem Entwurf zu weit, den Franzosen nicht weit genug und nach Ansicht Roman Herzogs, dem Präsidenten des Grundrechtekonvents, enthält der Chartaentwurf nichts, was in Deutschland nicht schon Recht und Gesetz sei. In der Bundesrepublik Deutschland geht die nicht unberechtigte Kritik insbesondere gegen die fehlende demokratische Legitimation des Grundrechtekonvents.

Zu Recht stellt sich daher die Frage nach dem Wozu? Diese Frage, die u. a. in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" seit Wochen zu einer umfangreichen halb juristischen, halb politischen Debatte geführt hat, ließ Bundespräsident Johannes Rau in diesen Tagen selbst zur Feder greifen: "Wir brauchen eine europäische Verfassung."

Europa muß nach Ansicht des Bundespräsidenten über eine Art von Drei-Komponenten-Kleber, "nämlich Verfassung, Kompetenzkatalog und Institutionen", "sei- ne Handlungsfähigkeit wiedergewinnen". Er ließ indessen in seinem Anfang September in "Die Welt" abgedruckten Artikel offen, wann "Europa" schon einmal als Einheit handlungsfähig gewesen sein soll.

Man kommt nicht umhin, den Entwurf und die Kritik daran einmal näher zu betrachten. Der ellenlange Entwurf der Charta besteht aus 52 Artikeln in sieben Kapiteln und einer Präambel. Zu den klassischen Rechtsgütern gehören: Menschenwürde, Leben und körperliche Unversehrtheit. Als klassische Freiheitsrechte werden genannt: Freiheit der Person, Achtung der Privatsphäre, Eheschließung und Familiengründung, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Meinungs- und Informationsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Forschungsfreiheit sowie die Berufsfreiheit. Hinzukommen Eigentumsrecht, Asylrecht und die Gleichheit der Geschlechter vor dem Gesetz. Dies alles sind Rechtspositionen, die sich auch in den ersten 20 Artikeln des deutschen Grundgesetzes wiederfinden.

Neben diesen Grundrechten enthält der Chartaentwurf die klassischen Bürger- und die justitiellen Rechte, nämlich das aktive und passive Wahlrecht (Kommunalvertretung und Europäisches Parlament) sowie rechtliche Anhörung, faires Verfahren und Prozeßkostenhilfe.

Würden die Völker Europas über eine solche Verfassung nach einem entsprechenden internationalen Werbefeldzug abstimmen, so fände sich möglicherweise sogar eine Mehrheit für den Grundrechtekatalog. Doch erstens wird über die Charta nicht in Referenden abgestimmt werden, und zweitens machen die genannten Rechtspositionen nur 30 Prozent des Textvolumens der Charta aus, weshalb auch der Begriff Grundrechtecharta irreführend ist.

Für Menschen mit durchschnittlicher Schulbildung sind die weiteren 70 Prozent des Textes weniger eingängig als die zuvor angerissenen Textpassagen. Detailverliebt meinen die Schöpfer des Entwurfs beispielsweise in Artikel 3 das Recht auf "körperliche und geistige Unversehrtheit" noch näher erläutern zu müssen. Im Rahmen der Medizin und Biologie geht es dabei um die "freie Einwilligung in Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit nach vorheriger Aufklärung", das "Verbot eugenischer Praktiken", das "Verbot, den menschlichen Körper und Teile davon zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen" sowie das "Verbot der Menschenklonung". Gehört all dies wirklich in den Grundrechtekatalog, der traditionell eine kurze und klare Manifestation all dessen sein sollte, was das Menschsein definiert? Daher nennt die Präambel den nachfolgenden Text wohl auch schwammig "Grundlage gemeinsamer Werte". Mut- und willenlos fehlt die Bekräftigung der historischen und ideengeschichtlichen Grundlagen des europäischen Grundrechtsschutzes, gestützt etwa auf die Vorstellungen eines Immanuel Kant oder Thomas von Aquin. Weder Gott noch Sittlichkeit finden wirklich Eingang in den Katalogtext.

Ein ganzes Konvolut an Bestimmungen befaßt sich im dritten Kapitel "Solidarität" mit den Rechten von Arbeitnehmern und Unternehmern. In diesem Rahmen befindet sich unter Artikel 31 auch gänzlich unsystematisch der Schutz der Familie, der im Grundgesetz "wie übrigens auch in Artikel 12 der EMRK "in einer Einheit" zur Ehe steht. Die systematische Neuerung läßt Rückschlüsse auf die Zulassung der homosexuellen Ehe zu.

Noch schlimmer muten verquere Formulierungen in der Präambel an, in der von "der Würde der Männer und der Frauen" die Rede ist. Manche Passagen ringen indessen ein Schmunzeln ab. So beispielsweise jene Stelle, an der die Freiheit der Kunst fehlt – jawohl fehlt! Damit wäre nicht mehr jeder Misthaufen geschützt, wenn der Kuhfladen nur von einem Künstler berührt und für formschön erklärt würde.

Respekt verdient dagegen der geplante Schutz der Kinder in Artikel 23 (Anspruch auf Schutz und Fürsorge).

Doch auch die besten Grundrechte müssen ohne Wert bleiben, wenn sie nur deklaratorischen Charakters und somit nicht vor Gerichten einklagbar sind. Genau das ist aber den Ausführungsbestimmungen zu entnehmen. Gemäß Artikel 49 Absatz 1 des Entwurfs soll die Charta nur für die Organe und Einrichtungen der Union sowie für die Mitgliedstaaten gelten, soweit diese Unionsrecht ausführen. Der vormalige deutsche Bundespräsident und derzeitige Präsident des Grundrechtekonvents, Roman Herzog, hat betont, daß die Charta durch einen kleinen juristischen Kniff in vollem Umfang und für jede Person justitiabel werden könnte.

Es stellt sich damit zeitgleich die Frage, ob wir dies angesichts des fragwürdigen Verfahrens, mit dem die Charta ins Leben gerufen wird, überhaupt wollen. Der Grundrechtekonvent, der die Charta entworfen hat, ist eine kleine berufene Schar von 62 Vertretern der Mitgliedstaaten und der Union selbst. Hinter verschlossenen Türen hat diese Gruppe von "Fachleuten" sodann den Entwurf gebastelt. Dabei sah sich der Konvent außerstande, irgendwelche Eingaben überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn darüber zu beraten. So hatte beispielsweise die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zwar eher beiläufig, aber immerhin, das Recht auf die Heimat einbringen wollen. Diskutiert wurde der Minderheitenschutz indessen nur vor den Türen. Die Arbeit des Konvents stand zudem von vornherein unter dem Druck von Terminierungen. So soll die Proklamation der Charta bereits im Rahmen der Regierungskonferenz in Nizza Anfang Dezember 2000 erfolgen. Zeit für eine ausführliche Debatte über das Für und Wider zu einer Grundrechtecharta, die für alle europäische Staaten in der Union mehr oder weniger verbindlich gelten soll, bleibt da freilich keine. Gleichwohl wird der identitätstiftende und integrative Charakter der Charta aus dafür bezahlten Mündern laufend neu beschworen.

Wie aber soll der von Bundespräsident Rau und einigen Parlamentariern, von denen die meisten den Inhalt der Charta gar nicht kennen, geforderte integrative Charakter des Katalogs zustande kommen, wenn erstens gar nicht über die Charta abgestimmt werden soll, zweitens die Charta eher als Richtschnur für die über uns hereinstürzende Globalisierung (Sicherstellung des Verbraucherschutzes, Recht auf Zugang zu Arbeitsvermittlungsstellen, Recht auf bezahlten Jahresurlaub, Recht auf gute Verwaltung) anmutet, drittens die Grundrechte nicht einklagbar sind und viertens in verfassungswidriger Weise die existentielle Staatlichkeit der Europäischen Union ohne Zweifel herbeikonstruiert wird. Die Menschen Europas werden hier, ohne demokratische Legitimation der Handelnden, durch eine übergestülpte Verfassung in den großen europäischen Wettbewerbs- und Wirtschaftsprozeß hineingepfercht.

Der Staatsrechtler Karl A. Schachtschneider nennt die den europäischen Völkern aufgenötigte Charta völlig zu Recht ein Oktroi!

"Die Charta wird in ähnlicher Weise einen Konsens hinsichtlich der für Europa gültigen Grundrechtsgewährleistungen festlegen. Ehe es zu einem verbindlichen Vertragswerk kommen kann, ist aber noch viel juristische Feinarbeit zu leisten."

Prof. Dr. Christian Tomuschat Humboldt-Universität Berlin in "FAZ" vom 7. August 2000

 

"Natürlich führt der europäische Einigungsprozess dazu, daß jeder Mitgliedsstaat auf einen Teil nationaler Souveränität zu Gunsten gemeinschaftlichen Handelns verzichten muß. Dieser Prozess vollzieht sich seit 40 über Jahren. [...] Die politische Union Europas ist auch darauf die Antwort, weil die Souveränität, demokratisch bestimmte Macht, wiedergewinnt, die die einzelnen Staaten, auf sich allein gestellt, im Zuge der Globalisierung längst verloren haben." Johannes Rau

Bundespräsident in "Die Welt" vom 15. September 2000

 

"Die Charta verfolgt ein verfassungswidriges Ziel, nämlich die existentielle Staatlichkeit der Europäischen Union durch einen Prozeß der Verfassungsgesetzgebung voranzutreiben, ohne daß die Völker Europas danach gefragt worden sind, ob sie ihre existentielle Staatlichkeit zugunsten einer solchen Europas aufgeben wollen. [...] Jeder Widerspruch gegen die Charta ist angezeigt, damit sie nicht Grund zum Widerstand gibt.

Prof. Dr. Karl A. Schachtschneider Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, in "FAZ" vom 5. September 2000

 

"Ob auch ein Minderheiten-Artikel in einer primär individualrechtsorientierten Charta sinnvoll ist, sollte angesichts der in der staats- und völkerrechtlichen Lehre erörterten Frage, ob dies nur für nationale oder auch für fremde Minderheiten gilt, sorgfältig überlegt werden."

Prof. Dr. Albrecht Weber Universität Osnabrück in "FAZ" vom 26. August 2000