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07.10.00 Unter Hammer und Zirkel: eine Jugend in einer norddeutschen Kleinstadt

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 07. Oktober 2000


10 Jahre Vereinigung:
"Sie war ein richtiger Kumpel ..."
Unter Hammer und Zirkel: eine Jugend in einer norddeutschen Kleinstadt
Von THORSTEN HINZ

Wenn ich vor dem Fernseher sitze und PDS-Politiker für Menschenwürde und Gerechtigkeit streiten, rumort schon mal mein Magen und werden meine Hände feucht. Gegen diese Gefühlsaufwallung würden selbst die stärksten Verstandesgründe, wenn es sie denn gäbe, nichts ausrichten können. Das hat wirklich nichts mit Vaterkomplexen zu tun, auch wenn mein Vater, SED-Mitglied seit 1950, verkündet hat, daß er, komme was da wolle, weiter als PDS-Mitglied zu leben und schließlich auch zu sterben gedenke. Ich finde es zwar unzeitgemäß und dumm, die eigene Existenz und Würde über die Loyalität zu einer politischen Partei zu definieren – zu einer Partei zumal, die geschichtlich total gescheitert ist und eine solche Erblast mit sich trägt wie die PDS. Doch darüber rege ich mich nicht mehr auf. Ich sehe das pragmatisch. "Laß ihn doch ruhig zu seiner Parteiversammlung gehen", sagte meine Mutter. "So hat er wenigstens eine Beschäftigung. Kommt unter die Leute, raucht zu Hause nicht die Gardinen voll und steht mir auch nicht im Wege, wenn ich saubermache." Die übriggebliebenen PDS-Genossen der norddeutschen Kleinstadt, erzählt sie weiter, seien ohnehin schon fast alle mit Herzschrittmacher und Krückstock versehen. Von dieser Veteranenversammlung, das sehe ich ein, geht nun wirklich keine Gefahr für die Freiheitlich-Demokratische Grundordnung aus. Und wenn ich meine Eltern alle paar Wochen besuche, bringe ich vom Bahnhof sogar das "Neue Deutschland" mit.

Und, das gebe ich unumwunden zu, ich freue mich ja ebenfalls, wenn Talkshow-Star Gregor Gysi im Disput mit einem Unionsabgeordneten, der von der Ex-DDR sichtlich keine Ahnung hat, mitgeteilt bekommt, er habe keine Ahnung. Wenn Gysi dann, scheinbar demütig, dazu nickt: Das mit der Ahnungslosigkeit könne schon sein, – nur – und in der leisen Vibration des kurzen Wortes kündigt sich bereits die vernichtende Volte an: Hier seien ja auch keine Ahnungen, sondern Kenntnisse gefragt! Und wenn der Unionsmann sich dann unter dem Gelächter des Publikums gedemütigt auf die Lippen beißt, dann klatsche ich mir schon mal auf die Schenkel. Denn vieles, was über die fehlgeleitete innere Einheit moniert wird, trifft ja zu einem guten Teil zu: Die übergestülpten und dabei selber re-formbedürftigen "westlichen" Strukturen, die Arroganz mancher "Wessis", die die kleinste Änderung im Tarif- oder Beamtenrecht als Terrorangriff auf ihre eigene Person ansehen, aber von den "Ossis", für die sich vom Miet- bis zum Arbeitsvertrag so gut wie alles geändert hat, verlangen, sie sollten doch gefälligst ein bißchen flexibler sein. Hier vermisse ich die fehlende authentische "Ost-Stimme", die unsere wirklichen Belange aufgreifen und mit Nachdruck formulieren könnte.

Doch meine Abneigung gegen die PDS überwiegt solche heiteren Momente. Der tiefste Grund dafür ist eine lang zurückliegende Geschichte mit einer Frau, die – sagen wir mal – Karin hieß. Karin war damals, in den siebziger Jahren, Anfang oder Mitte zwanzig, und ich war zwölf. Karin war blond, blauäugig, hübsch anzusehen. Sie rauchte, sie war ein richtiger Kumpel und nicht so betulich wie die anderen Lehrer an unserer Schule. Wenn Wandertag war, drängten wir uns um sie, damit sie und keine andere uns beaufsichtigte. Sie reagierte nicht so kleinlich, wenn wir länger als erlaubt am Eisstand stehenblieben, die Zeit vor den Schaufenstern der Spielzeuggeschäfte verbummelten oder über den Rasen latschten. Stets trug sie ein FDJ-Hemd, denn sie war Pionierleiterin an unserer Schule. Sie konnte gut beschreiben, wie es im verheißenen Kommunismus sein würde: Die Leute hätten dann einen so hohen Bewußtseinsstand erlangt, daß sie, wenn sie beispielsweise einen Pullover benötigten, nur in das Geschäft nebenan zu gehen brauchten, um sich unentgeltlich diesen einen Pullover zu holen, anstatt, wie die noch unvollkommenen Menschen dies heute zweifellos noch tun würden, sich soviel Gratispullover raffen würden, wie sie nur immer zu schleppen vermochten. Kommunismus, das war also hohes Bewußtsein plus materieller Überfluß. Ganz genau wußte sie selbst noch nicht, wann das seien würde. Aber schon, daß es so kommen würde. Wir wußten ebenfalls: Mit Karin würde der Kommunismus wahr und schön werden!

Auch in meinen schlimmsten Träumen hatte ich mir nicht ausgemalt, daß Karin mir bald darauf um Haaresbreite mein Abitur versauen würde. Und das kam so: An unserer Schule wurde eine große Pionierversammlung einberufen, an der die Schüler der Klassen vier bis sieben teilzunehmen hatten und auf der der Schuldirektor zu einer großen Rede anhob. Er fand und fand kein Ende. Vage habe ich in Erinnerung, daß es ihm um den Zusammenhang von guten Lernergebnissen, der Sauberkeit in den Klassenzimmern, dem Sammeln von Altpapier und der Stärkung des Sozialismus ging. Der Schuldirektor war keineswegs ein böser Mensch, der uns seine Macht fühlen lassen wollte. Wahrscheinlich wäre er ebenfalls lieber zu Hause geblieben, um ein Buch zu lesen oder im Vorgarten Unkraut zu zupfen. Nichtsdestotrotz galt auch für ihn: Was sein muß, muß sein! Und dabei hatte er sich an die übliche, hohle Liturgie verloren, die für solche Versammlungen kennzeichnend war. Mit wichtiger Miene und einem Notizbuch war ich in die Versammlung gegangen. Nun durchlitt ich Langeweile. Den Ertrag dieses Nachmittags hielt ich in einem einzigen, bündigen Satz fest: "Der Direktor quasselte dummes Zeug." Dummerweise ließ ich mein Notizheft nach der Versammlung liegen. Meine zufällige Nachbarin war eine kleine Person aus der vierten Klasse, die hier Simone heißen soll. Sie nahm das Heft an sich, blätterte darin und entdeckte, wie ich den Ertrag dieses Nachmittags eingeschätzt hatte. Alles hätte noch gutgehen können, denn Simone war die Freundin meiner jüngeren Schwester. Sie war aber auch, wie man so sagt, "auf Zack". Sie lieferte das Heft nicht etwa bei uns zu Hause, sondern bei Karin ab. (Simones ältere Schwester übrigens begann später beim Volkspolizeikreisamt zu arbeiten, und der Schwager kam bei der Stasi unter. Das ist so gewesen, klingt aber, wie ich zugebe, so sehr nach Klischee, daß ich es hier nur in Klammern gesetzt anzuführen wage.) Ich weiß nicht, in welcher Stimmung Karin war, als sie den Satz las. Ich will zu ihren Gunsten annehmen, daß sie sich auf der Versammlung genauso gelangweilt hatte wie ich, vielleicht hatte sie wegen der langen Rede ihren Freund verpaßt oder war sonstwie in Nöten. Am wahrscheinlichsten aber ist, daß sie vom Impuls revolutionärer Wachsamkeit getrieben wurde, den sie sich beim Pionierleiterstudium (wenn nicht schon früher) antrainiert bekommen und damit zugleich jegliches Schamgefühl ausgetrieben hatte. Sie las also, was ich über den Pioniernachmittag notiert hatte, und es erschien der 25jährigen als das Selbstverständlichste von der Welt, einen Zwölfjährigen zu denunzieren. Schnurstracks brachte sie das Heft zum Direktor, bei dem ich von da ab natürlich unten durch war. Als die Lehrerkonferenz der Schule ein Jahr später festlegte, wer dem Kreisschulrat zur Delegierung an die zwölfklassige Erweiterte Oberschule vorzuschlagen sei, hatte ich keine Chance. Zum Schluß wurde doch noch alles gut, weil ich meine totale Zerknirschung demonstriert und mein Vater sich mit dem Direktor von Genosse zu Genosse unterhalten hatte. Von nun an aber haßte ich Karin und nicht nur sie, sondern in ihr auch den Typus der Pionierleiterin überhaupt, der seitdem für mich mit Petzerei und Spitzelei verbunden war. Von diesem Zeitpunkt an, glaube ich, war ich auch für die Sache des Kommunismus verloren. Was aus Karin wurde, weiß ich nicht. Eines Tages war sie nicht mehr da. Vielleicht hatte man sie wegen besonderer Fähigkeiten zur Parteihochschule delegiert, möglicherweise stieg sie in verantwortungsvolle Funktionen in der FDJ- oder SED-Bezirksleitung auf, wo ihre revolutionäre Wachsamkeit gebraucht wurde.

Ich hatte Karin zwischenzeitlich längst vergessen und hätte wohl nie wieder an sie gedacht, wenn nicht Mitte der neunziger Jahre, als ich längst in Berlin wohnte, wie aus heiterem Himmel Petra aufgetaucht wäre. Ich trat aus der Haustür und sah – Petra. Ich flüchtete in die Straßenbahn und fuhr panisch drei Stationen stadteinwärts. Doch als ich ausstieg, war Petra schon lange da. Ich hatte einfach keine Chance, ihr zu entkommen. Die Wahlen standen vor der Tür, und das Plakat, das eine pausbäckige junge Frau mit lustigen Sommersprossen, kurzen Haaren und großen Kulleraugen zeigte, war überall: Wohin ich auch ging, Petra Pau, die PDS-Kandidatin, ausgebildet am Zentralinstitut der Pionierorganisation Droysig und 1983 mit dem Abschluß als Freundschaftspionierleiterin entlassen, blickte mich an. "Ganz schön rot", verkündete die Aufschrift. Meine Pionierleiterin griff nach mir. Sie wollte meine Stimme!

Es ist gut möglich, daß Petra als Pionierleiterin tatsächlich so patent und kumpelhaft war, wie das Bild sie darstellt, und wenn sie mir jetzt versichern würde, daß sie Karins Verhalten zum Kotzen findet und etwas ähnliches nie gemacht habe, würde ich ihr auch ohne Schwurhand glauben. Mir ist trotzdem unerklärlich, wie eine Frau, die genau in meinem Alter ist, ebenfalls eine DDR-Schule besucht hat und der, wenn sie diese Jahre mit halbwegs offenen Augen und Sinne durchlebt hatte, Erfahrungen wie die meinen nicht ganz entgangen sein dürften, auf den Gedanken gekommen ist, Pionierleiterin zu werden. Vielleicht würde sie mit dem Glauben an die "gute Sache" antworten. Doch war dieser "Glauben" Anfang der achtziger Jahre denn noch? Eine Mischung aus intellektuellem und moralischem Stumpfsinn, aus Geltungsdrang und fehlendem Schamgefühl! Es gibt einen moralischen und intellektuellen Typus, der geradezu zum Pionierleiter prädestiniert scheint.

Es ist mir deshalb egal, was die Berliner PDS-Vorsitzende und Bundestagsabgeordnete Petra Pau im Fernsehen erzählt: Sie mag vom Berliner Senat (den ich auch nicht berauschend finde) verlangen, seine finanzpolitischen ""Hausaufgaben" zu machen, sie mag fordern, die Bürgerbeteiligung an Entscheidungsprozessen zu verstärken (wofür ich ebenfalls bin), sie kann ausländerfeindliche Übergriffe verurteilen (was eine Selbstverständlichkeit ist), sie mag den "Antifaschismus" der DDR hochleben lassen (was der antitotalitäre Konsens ist, kann sie ohnehin nicht begreifen) – ganz egal, was Petra Pau sagt, jedes Mal schiebt sich vor ihr Fernsehbild das Bild von Karin, der Petze, der Denunziantin. Ich habe, wie gesagt, keine Ahnung, was Karin heute macht, aber welche Partei sie wählt, das kann ich mir denken.

Pionierleitertypen und Denunzianten gibt es auch unter Liberalen, Sozialdemokraten und demokratischen Christen zuhauf, und daß im Zweifelsfall die "Rechte" in Sachen Hinterfotzigkeit der "Linken" in nichts nachsteht, ist mir klar. Doch eine partei- und staatsgewordene Niedertracht ist von ganz anderer Qualität, und eine Partei, die es heute nötig hat, eine dermaßen typische Figur jener niederträchtigen Zeiten als Ikone vor sich herzutragen, der traue ich nicht über den Weg.

Sagen wir’s mal so: Nie wieder will ich eine Pionierleiterin über mir haben! Und deshalb mag ich auch die PDS nicht!