29.03.2024

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14.10.00 Als erster wehrübender Marineoffizier zur Einberufung nach Pillau (Teil II)

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 14. Oktober 2000


Geschwaderfahrt mit humanitärem Aspekt
Als erster wehrübender Marineoffizier zur Einberufung nach Pillau (Teil II)
Von Peer Schmidt-Walther, Kapitänleutnant d. R.

Der Zerstörer "Nastojtschi wy" ("Sovremenny"-Klas se), Kieler-Woche-’93-erfahren, bunkert derweil Verpflegung: Matrosen schleppen körbeweise "Chleb" (Brot) über die Gangway an Bord. Uns beschleicht die Frage, ob es noch etwas anderes gibt. Kartoffeln – doch in welch erbärmlichem Zustand! Der aussortierte Haufen auf der Pier ist größer als das, was übrigbleibt. Die Männer winken ab, als wir fotografieren. Wenn ich dagegen unsere Verpflegung so sehe …

Nebenan hievt ein Autokran den Hauptantriebsmotor aus einer "Parchim"-Korvette. Nach 2000 Stunden muß er raus und an Land grundüberholt werden.

Der Abend steht im Zeichen eines Empfangs auf der "Lüneburg". Offiziere, Angehörige und Zivilisten dicht an dicht bei Bier, Sekt, Saft oder Wein. Der festlich geschmückte Laderaum ist der Resonanzboden für zahllose Gespräche. Es brummt und summt wie in einem überdimensionalen Bienenstock. Überraschung am Rande: ein leibhaftiger Admiral mit Riesentellermütze und offener Uniformjacke über einem respektablen Bäuchlein reicht mir Feuer und duzt mich spontan. Sachen gibt’s …

Alexander, Korvettenkapitän auf einem Zerstörer, ist ein bestens informierter Gesprächspartner. Auf englisch geht es stundenlang hin und her über Marine, Politik und Lebensverhältnisse. Unsicherheit ist das alles beherrschende Stichwort, Partnerschaft daher ein immer wieder vorgetragener Wunsch. Verständlich und sicher zukunftsträchtig. Die Toasts auf Seefahrt, deutsch-russische Freundschaft und – natürlich! – die Frauen nehmen kein Ende. Zum Abschied am frühen Morgen, fortgesetzt auf dem Schlepper "Norderney", der auf Seite von "Spessart" liegt, schenkt er mir seine Offiziersmütze.

Pillaus Bürgermeister Kuznetzow gibt mir Grüße mit für seinen Eckernförder (Partnerschaft)-Kollegen Buß, der ein Schulkamerad von mir war.

Am nächsten Morgen fahren, bei strömendem Regen, zehn russische Marine-Lkws vor. Große Rotkreuzflaggen wehen über den Ladeflächen der Dreiachser. Die bordeigenen Kräne hieven insgesamt 60 Tonnen Hilfsgüter an Land. Russische und deutsche "blaue Jungs" verladen sie Hand in Hand. Bestimmt sind die Spenden für Krankenhäuser in Pillau und Königsberg. Zwei Kieler Krankenhäuser, das Eckernförder Krankenhaus sowie das Deutsche Rote Kreuz Nordfriesland waren maßgeblich an der Aktion beteiligt. Claus-Oskar Friedrichsen, mitreisender Schleswig-Flensburger DRK-Kreisbeauftragter für Katastrophenschutz, garantiert dafür, daß alle Gaben in die richtigen Hände kommen und nicht auf dem Schwarzen Markt landen.

Neben vier Tonnen Geschirr, Matratzen für 50 Betten, 50 Nachtschränken und vielen anderen Gebrauchs- und nützlichen Medizingegenständen aus öffentlichen Beständen wurden auch Privatleute aktiv. Das 1. Versorgungsgeschwader rief zu einer eigenen Spendenaktion auf – mit großer Resonanz übrigens. Die Marinekameradschaft Lüneburg lieferte kistenweise Medizin an, ein Dentist aus Bayern eine komplette Zahnstation. Hotels und Textilhäuser beteiligten sich, Bürger aus Kappeln, Eckernförde, Wilhelmshaven und Kiel. Aus einem Werk in Pfaffenhofen kamen zehn Tonnen Babynahrung, von einem Spielzeughersteller eine Großspende an Barbie-Puppen. Ein Lütjenburger Textilhaus hat kistenweise neue Kleidung gespendet. Kapitän z. S. Kinast dazu: "Wir haben regelrecht eine Lawine losgetreten."

Mit einem der SIL-Laster fahre ich nach Pillau hinein. Ohne Kontrolle geht’s durch das weit geöffnete Tor. Die städtische Poliklinik ist unser Ziel. Der schwere Lkw hat keine Mühe mit den knietiefen Pfützen, Matrosen-Fahrer Sascha um so mehr damit, die Krankenhaus-Einfahrt zu finden. Russische und deutsche Offiziere fackeln nicht lange, entledigen sich ihrer Uniformjacke und packen gemeinsam mit den Matrosen zu. Gleichzeitig ist das auch eine Art Überwachung, daß alles auch dorthin kommt, wo es hin soll. Am Ende sind wir klatschnaß. Macht nichts – ist ja für einen guten Zweck!

Ludmilla, die Verwaltungschefin der Klinik – ihr Mann ist Marineoffizier –, lädt uns zum Dank in ihr Büro. Wir sind überrascht: der Tisch quillt über von belegten Broten, Torten und Obst. Darauf Wodka-Toasts aus Fingerhutgläschen. Man halte sich einmal die Versorgungssituation des Hauses vor Augen. Es fehlt schlicht an allem, sogar an Wasser (die maroden Leitungen stammen noch aus der Kaiserzeit). Das Dach offen, die Wände feucht, Fußböden morsch, null Technik. Wie kann hier einer gesund werden!?

Zum Ausgleich wird im traditionsreichen "Haus der Offiziere und Klub der Matrosen" abends eine Disco aufgezogen. Blaue Jungs und Pillauer Mädchen kommen in Strömen. Es soll dort ziemlich rund gegangen sein in dieser Nacht …

Auch die Umgebung lockt. Schließlich haben wir die legendäre Samlandküste sozusagen vor der Tür. Peter Pöverlein von der "Spessart", Korvettenkapitän d. R., und ich schlendern durch die Stadt Richtung Leuchtturm und Mole. Zuvor hat uns ein russischer Oberst sein Buch über die Geschichte Pillaus (auf deutsch) verkauft. Wir wissen damit auch, was wir vor uns haben. Bau- und Militärgeschichte, Flüchtlings- und Soldatenleben anno ’45 – auf Schritt und Tritt blutgetränkter Boden. Das geht schon durch und durch! An der Mole, vor Kriegsende Hoffnungsträger für Tausende von Flüchtlingen und Verwundeten, stoppt plötzlich neben uns ein Auto – völlig unerwartet hier draußen an der offenen See. Im Nu sind wir umringt. "Daß wir das noch erleben dürfen, deutsche Marineoffiziere an diesem Ort!" begrüßt uns einer der Umstehenden in breitestem Ostpreußisch. Ehemalige Pillauer aus Kiel-Heikendorf auf Spurensuche in der alten Heimat, frisch eingetroffen mit der "Akademik Sergej Wawilow". Anhand eines Bildbandes zeigt uns der Senior der Familie mit zitternden Händen, wie das Gebiet früher einmal ausgesehen hat. Relikt aus jener Zeit: ein vor sich hin rostender Kriegsmarine-Torpedo auf dem Strand. Uns beschäftigt auch die Frage, wie sie denn in die geschlossene Stadt Pillau gekommen seien. "Ganz einfach", lautet die Antwort, "auf Einladung des Pillauer Polizeichefs". Der steht daneben und freut sich über diese kuriose Begegnung, die er ermöglicht hat.

Der Chief und ich wandern am einsamen Strand entlang, klauben Bernsteinsplitter aus dem schneeweißen Samland-Sand und sehen einem jungen Mann im Taucheranzug zu, der zwischen Seetang versteckte dicke Klumpen des ostpreußischen Goldes mit einem Kescher aus der Brandung fischt. Ohne es gemerkt zu haben, hat uns der Marsch herausgeführt aus der "gesperrten Stadt", noch dazu in Uniform. Wir sind einfach nur baff! Andernorts bestehen scharf bewachte Kontrollpunkte, die nur mit Sonderausweis passiert werden dürfen. Sogar ein hoher Marineoffizier wurde knallhart abgewiesen, weil er das Papier vergessen hatte. "So soll verhindert werden, daß das organisierte Verbrechen samt Drogenszene nach Pillau herüberschwappt und die Moral der Flotte vollends untergräbt", begründet Korvettenkapitän Alexander diese rigorose Regelung. Die schillernden Mafia-Gestalten, die wir in einigen Königsberger Gaststätten beobachtet haben, scheinen ihm recht geben.

Auf unserem Rückweg durchstreifen wir die gesprengten oder zerschossenen Festungsanlagen im Dünenwäldchen. Bis kurz vor Kriegsende war ein Geschütz besonders erbittert umkämpft. Russische Soldaten teilten hier ihre letzte Machorka-Ration mit den Deutschen, bevor sie in die Gefangenschaft gingen.

In der Nähe des ehemaligen Kurfürsten-Denkmals, das heute in Eckernförde steht, bieten uns Jugendliche eine Flagge der sowjetischen Kriegsmarine an, russische Matrosen beschenken uns durch den Zaun mit Abzeichen.

Nachmittags "open ship" für die Bevölkerung und Pressekonferenz. Der Abend ist ausgefüllt mit Besuch und Gegenbesuchen auf den Schiffen. Zum Beispiel auf einem Energieschiff der Nordmeerflotte aus Seweromorsk bei Murmansk. Dabei sind auch Atom-U-Boot-Fahrer, die von Störfällen und Untergängen zu berichten wissen, auch von Nuklear-Abfall-Verklappungen im Eismeer.

Glasnost wird in unseren freundschaftlichen Gesprächen groß geschrieben. Abschied mit herzlicher Umarmung – nach russischer Sitte. Ihr großer Wunsch: uns hier eines Tages wieder begrüßen zu können. Dennoch wird dies für die Russen vorerst der letzte ausländische Flottenbesuch gewesen sein. Sie haben sich verausgabt, so daß es keine Mittel mehr für derartige repräsentative Zwecke gibt. Also haben die russischen Marineoffiziere tief in die eigene Tasche gegriffen (welch ein Opfer bei Monatsgehältern zwischen 200 und 300 Mark), um von dem wenigen, was sie haben, auch noch unsere Bewirtung finanzieren zu können. Hut ab!

Nach der Seeklar-Meldung an den Kommandeur am 6. September um 9 Uhr läuft der Verband ab 9.45 Uhr Schiff für Schiff aus. Das Marine-Musikkorps der baltischen Flotte beschallt die Szene mit Märschen. "Klingt gut", meint Sören Steckner, 1. Wach-Ing. und Kapitänleutnant d. R., neben mir und lädt mich zu einem Maschinenbesuch ein: "Unsere zwölf Zylinder im Keller machen auch gute Musik", empfiehlt er mir grinsend.

Viele Arme winken hinüber und herüber. Der eine oder andere wird die Kontakte auch privat aufrechterhalten und vertiefen, denn es ist heute kein Problem mehr, zumindest nach Königsberg zu kommen (Bahn ab Berlin jede Woche, Flüge, Schiffahrtslinien).

Auf Reede vor der Mole wartet der Passagierliner "Albatros". Er braucht – wir können nur staunen – unseren Liegeplatz im Marinehafen. Die Passagiere sollen von dort per Bus zu einer Ostpreußen-Rundfahrt starten.

Während unseres seegangsmäßig bewegten Rückmarsches nach Kiel werden, wie schon auf der Ausreise, eine ganze Reihe von Übungen durchgefahren. Die 300 Mann Besatzung, darunter viele Reservisten, müssen auf dieser Ausbildungsreise zeigen, was sie (noch) können und dies auffrischen, ob bei Übungen wie Herstellen der Verschlußzustände, Bekämpfen von Bränden, Leckabwehr, Hilfeleistung in See, Minenabwurf, Towing, verschiedene Manöver im Bereich Antrieb, E-Technik, ABC-Maßnahmen, Postbeutelübergabe, Abbergen von Personal, Mann über Bord, Beibootfahren etc. Eine enorme Leistungspalette, die da in kürzester Zeit bewältigt werden muß. Wäre das Wetter sommerlicher, hätten sich die "Spessart"-Fahrer nach hartem Übungsalltag sogar im bordeigenen Swimming-Pool entspannen können. Das größte Schiff der deutschen Marine, ursprünglich ein dänischer Säuretanker, mit seinen 14 000 tdw gilt nicht nur deswegen als "Luxusliner der Flotte". Unterbringung, Bewirtung und Verpflegung sind fast so luxuriös wie auf einer Kreuzfahrt.

Der Tag wird durch den Absturz eines Marineflieger-Tornados überschattet. Einer unser Schlepper ist zum Wracktauchen abgestellt. Der Anblick der um die Absturzstelle herum positionierten Marinefahrzeuge macht uns alle ernst. Dennoch, das Übungsprogramm muß routinemäßig weiterlaufen.

Über Nacht ankern in der Geltinger Bucht. Die Kommandanten treffen sich an Bord der "Spessart" zu einem Abschlußgespräch mit dem Kommandeur.

Marsch nach Kiel. Pünktlich um 14 Uhr Festmachen an der Scheermole. Kapitän zur See Klaus Kinast läßt die Besatzung antreten zur Kommandeurs-Musterung. Er betont, daß diese Reise "zu einer Normalität in den gegenseitigen Beziehungen nach der Wende im früheren Ostblock" beitragen möge. Last but not least auch dies: "Nicht nur Vergnügen, sondern auch Arbeit hat es gegeben, vor allem eine hervorragende Zusammenarbeit zwischen Stammbesatzungen einerseits sowie den eingeschifften Reservisten andererseits."

Ende der Reise mit dem Wegtreten ins verdiente Wochenende, sicher ein wenig nachdenklicher und beeindruckter als sonst. (Schluß)