26.04.2024

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14.10.00 Warum ist Rußland so?

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 14. Oktober 2000


Versuch einer Annäherung (Teil I):
Warum ist Rußland so?
Wer dieses Land begreifen will, muß seine Geschichte kennen

Von MANFRED BACKERRA

Bei jedem neuen Kopf an der Spitze Rußlands schießen die Wogen der Erwartung hoch, daß das Land jetzt auf dem richtigen Weg in eine demokratische Gesellschaft sei. Sogleich ertönt es dann auch allerseits, vor allem aber in Deutschland: "Rußland helfen", "Rußland nicht ausschließen, "Rußland integrieren", "auf Rußlands Empfindlichkeit Rücksicht nehmen" etc., etc.

Alle hehren europäischen Prinzipien und bitteren Erfahrungen mit Rußland werden von dieser Woge weggeschwemmt: Rußland wird Mitglied des Europarats, es erhält Kredite ohne Ende, Stundungen obendrein – höchstens, daß einmal mit dem Finger gedroht oder die Auszahlung eines Kredites verschoben wird.

Sind wir eigentlich des Teufels? Warum messen wir immer mit einer speziellen Elle für Rußland? Man stelle sich vor, Frankreich, das im Algerienkrieg ja sicherlich nicht zimperlich war, hätte vor rund 40 Jahren die 400 000-Einwohner-Stadt Oran so dem Erdboden gleich gemacht, wie Rußland vor kurzem die gleich große Stadt Grosnyj!

Gerade wenn man für die Russen Sympathie hat und auch aus vielen politischen Erwägungen an einem guten Verhältnis zu Rußland interessiert ist, muß man die andersartige Prägung Rußlands nüchtern ins Kalkül ziehen und darf nicht versuchen, die Andersartigkeit mit "Europa bis zum Ural" (de Gaulle) oder "Europa bis Wladiwostok" (Bundespräsident v. Weizsäcker) zu übertünchen.

Sicher prägt Mentalität die Geschichte eines Volkes und Geschichte ihrerseits die Mentalität. Da nun Volksmentalität schwer zu fassen und als politisch unkorrektes Argument wenig schlagkräftig ist, will ich mich an die Fakten der geschichtlichen Erfahrung Rußlands halten, die noch heute als Faktoren wirken. Dies hat auch gegenüber unseren Gutmenschen, für die Fakten kein Argument sind, den unbestreitbaren Vorteil, daß Russen selbst so argumentieren. Der deutsch gebildete, gemäßigte Slawophile Iwan Kirejewski schrieb um die Mitte des 19. Jahrhunderts: "Unsere Religion, unsere geschichtlichen Erinnerungen, unsere geographische Lage, unser gesamtes Sein sind so verschieden vom übrigen Europa, daß es uns physisch (sic) unmöglich ist, uns in Franzosen, Engländer oder in Deutsche zu verwandeln." Und Gorbatschow sagte rund anderthalb Jahrhunderte später: "Man kann uns oder unser Handeln nicht verstehen, wenn man unsere Geschichte nicht kennt." (Hervorhebungen vom Verfasser.)

Nun wurde und wird diese geschichtliche Erfahrung häufig auf die Angstkomplexe der Tatarenherrschaft und der Kriege mit westlichen Nachbarn (Deutscher Ritterorden, Polen Anfang des 17. Jahrhunderts, Napoleon, Erster und Zweiter Weltkrieg) reduziert, um den übersteigerten Sicherheitskomplex zu erklären. Dabei wird Wesentliches unterschlagen, das sich lange vor der Sowjetzeit entwickelte und durch Lenin und Stalin nur verstärkt wurde.

Da uns die Sowjetzeit noch einigermaßen präsent ist, beschränke ich mich auf die Zeit davor und beginne mit dem 14. Jahrhundert, als Iwan Kalita (Geldsack) als Großfürst von Moskau und Tributeintreiber des Chans der Goldenen Horde die "Sammlung des russischen Landes" eingeleitet hat. Zeitgründe zwingen mich natürlich zu Holzschnitt-Manier. Aber zunächst: Was heißt "so" in meinem Thema "Warum ist Rußland so?"

Hören wir dazu zusammengefaßt Putin in seiner Rede zur Lage der Nation am 8. Juli dieses Jahres:

– Der Staat ist zu schwach, da nicht effektiv, aber

– sehr stark im Paternalismus und in der Behinderung einer freien Wirtschaft

– Regionale "Machtapparate" han-deln eigenmächtig, verfassungswidrig und willkürlich

– Funktionen des Staates werden durch private Korporationen und Klans gekauft

– Es herrschen Korruption und andere Kriminalität

– Rechtsgarantien für individuelle, politische und ökonomische Freiheit fehlen.

Soweit Putin. Was sind die geschichtlichen Erfahrungen dazu, die ahnen lassen, was zu erwarten ist?

Das Staatsoberhaupt, zunächst Großfürst, seit Iwan Grosnyjs (des Schrecklichen) Krönung (1547) offiziell Zar, seit Peter dem Großen (1721, nach Sieg im Nordischen Krieg) Allrussischer Imperator / Kaiser, war zunächst nur Gospodin (Herr), seit dem 15. Jahrhundert Gossudar (Herrscher) und wurde dementsprechend immer unangefochtener Autokrator (Selbstherrscher) – und blieb es cum grano salis bis zum bitteren Ende. Von ihm hing alles ab. (Siehe heute Putin: "Ich weiß, daß in Rußland das Staatsoberhaupt immer ein Mann gewesen ist und immer sein wird, der für alles, was im Land geschieht, verantwortlich ist.") Das Land unterstand nicht nur seiner Herrschaft/Imperium, sondern wurde praktisch sein unbeschränktes Eigentum/Dominium; die Unterscheidung des römischen Rechts galt nicht. Der Herrscher genoß nahezu göttliche Verehrung, die selbst den vieltausendfachen Mörder und Landesverwüster des 16. Jahrhunderts, Iwan den Schrecklichen, überstand.

Die großen Aufstände von Bulatow (1606/7) und Pugatschow (1773–75) richteten sich nicht gegen den Zaren, sondern gegen die Willkür und Auspressung durch die Werkzeuge und Nutznießer seiner Herrschaft. Der Zar blieb für das Volk der Gnädige.

Die zentralistische Herrschaft erstickte fast jede aufbauende Selbständigkeit, förderte aber den Machtmißbrauch in der Provinz ("Rußland ist groß und der Zar ist weit"), was seinerseits wiederum zur Rechtfertigung zentralistischer Herrschaft diente (Katharina die Große), weil nur dadurch Recht und Ordnung zu wahren sei. (Siehe Putins Einsetzung von sieben Generalgouverneuren.)

Es gab keinen Adel mit sicheren, korporativen politischen Rechten und Privilegien sowie entsprechendem Standesbewußtsein. Auch wenn die Gelegenheit günstig war, versuchten die Adligen es entweder nicht, sich Standesrechte verbriefen zu lassen (bei Zarenwahl des ersten Romanow 1613), oder setzten sich damit nicht durch (Berufung Annas 1730).

Nach moskowitischem Hofzeremoniell mußte jeder Bojar (in etwa Hochadel), auch aus alten und Fürstengeschlechtern, und Dworjanin (in etwa niederer Adel) den Gossudar oder später den Zaren so ansprechen: "Ich Iwaschka (Diminutivform des Vornamens, hier von Iwan), Euer Cholop (Knecht/Leibeigener)." Peter der Große schaffte dies ab, aber noch im ganzen 18. Jahrhundert bezeichneten sich die hohen und niedrigen "Herren" dem Zaren gegenüber als Raby (Sklaven) und erhielten die Knute, was erst Katharina die Große 1785 abschaffte.

Der Status eines Dworjanin (von Dwor = Hof, also Höfling, nicht Ritter) blieb bis ins 19. Jahrhundert unsicher, er konnte ohne Berufungsrecht zum einfachen Untertanen ("Bürger" wäre eine unzutreffende Begrifflichkeit) degradiert werden. Richard Pipes spricht von gelegentlichen "Säuberungen", so stufte beispielsweise Nikolaus I. ab 1840 64 000 polnische Dworjanine zurück.

Der Adel war wenig herkunftsstolz und landverwurzelt: in kaiserlicher Zeit schrieb man sich gerne eine ausländische Abstammung zu. Von fast 3000 Inhabern oberster Ämter von 1700 bis 1917 waren fast 40 Prozent ausländischer, vorwiegend deutscher Herkunft.

Schließlich waren Adelstitel als solche bedeutungslos, da für gewöhnlich alle Abkömmlinge den Titel und gleiche Besitzanteile erbten, was zu einer Inflation bettelarmer Fürsten führte, weshalb der Status letztlich vom Rang (Tschin) in der von Peter dem Großen eingeführten 14stufigen Rangtabelle des Staatsdienstes abhing (Fähnrich oder Postmeister bis Generalfeldmarschall oder Kanzler).

Katharina die Große hatte zwar den Adel von der Dienstpflicht befreit und ihm Freiheiten und Privilegien (u. a. Grundbesitz) garantiert und ständische Wahlverwaltungen in Kreisen und Gouvernements unter Adelsmarschällen geschaffen, doch der Adel nutzte die politischen Möglichkeiten kaum. Die meisten waren existentiell vom Staatsdienst abhängig, einige lebten als unpolitische "lischnie ljudy" (überflüssige Menschen) auf Gütern, wenige wurden Dekabristen (Bezeichung für Teilnehmer an einem gescheiterten Putschversuch im Dezember 1825, meist junge adlige Offiziere) oder revolutionäre Intelligenzija.

Trotzdem kann man nicht sagen, der Adel habe für den Zaren nicht gezählt: Er war zwar unbeschränkt in seiner Macht gegen den einzelnen, mußte aber auf die existentiellen Bedürfnisse und den Eigennutz der Gesamtheit als der Basis seiner Herrschaft sehr wohl Rücksicht nehmen (siehe die Nomenklatura und ihre Privilegien).

Im großen und ganzen aber hat der Adel keine Tradition persönlicher und ständischer Freiheit bei verantwortungsvoller Loyalität zum Staat entwickelt.

Es gab keine Bürgerfreiheit und städtische Selbstverwaltung; die Ausnahmestädte Nowgorod ("Der Große Herr Nowgorod") und Pskow (Pleskau) waren 1575 endgültig davon "befreit".

Peter der Große hat, beeindruckt von den deutschen Selbstverwaltungen in Reval und Riga (Eroberung Estlands/Livlands 1710), Magistrate oder Ratuschi (von Rathaus) geschaffen mit einem vom Kaiser ernannten Präsidenten sowie von der Kaufmannschaft zu wählenden zwei bis vier Burmistry (Bürgermeistern) und zwei bis acht Ratsmännern. Sie brachten aber keine Selbstverwaltung, da sie rasch auf Steuerumlegung und Gerichtswesen begrenzt, damit Organe der Moskauer Zentrale wurden und deshalb wenig Neigung erzeugten, sich freiwillig zur Wahl zu stellen.

– Es gab keine Kirche als eine der Staatsmacht selbständig gegenüberstehende Macht und Gewissensinstanz. Sie war im Gegenteil Dienerin des Staates und Gestalterin der autokratischen und imperialen Doktrin für die Herrscher (Gottähnlichkeit, Moskau als "drittes Rom").

– Es gab keine Renaissance als geistige Bewegung, die den Menschen und seine Rechte in den Mittelpunkt stellte. Hätten im Moskauer Kreml nicht einige italienische Baumeister des 15. Jahrhunderts ein paar Spuren der Renaissance hinterlassen, gäbe es in Rußland keinen Hinweis darauf.

– Es gab keine Reformation als eine die Staats- und kirchliche Macht herausfordernde emanzipatorische Bewegung. Im Gegenteil: die Reform des Patriarchen Nikon in der Mitte des 17. Jahrhunderts kam von oben, war nur eine textliche und rituelle Rückführung auf die griechische Urform (so etwa Drei- statt Zweifinger-Bekreuzigung) und führte nach erbittertem Widerstand von unten zur Abspaltung der "Altgläubigen". Frühere, eher westliche Häresien wurden vernichtet und blieben bedeutungslos.

– Die Aufklärung sollte nach der Vorstellung Katharinas der Großen, später auch Alexanders I., im Sinne des aufgeklärten Absolutismus die Untertanen zu gebildeten, kritischen, aber system- und kaisertreuen Bürgern und damit das Reich in Europa konkurrenzfähig machen. Zensur und Buchdruck wurden freier, russische und westliche, meist übersetzte französische Literatur erlebten einen Aufschwung, ebenfalls Kritik am System, nicht zuletzt an der Leibeigenschaft.

Aber trotz eigenhändiger, aufgeklärter Schriftstellerei der Kaiserin, liberaler Bildungsreform unter Alexander I. und geistiger Verselbständigung von Teilen der Gesellschaft hatte die Kritik weder für die Selbstherrschaft noch den Adel oder die übrige Gesellschaft ernsthafte Folgen. Sie blieb im Endeffekt Salon-Dekoration für wenige Tausende der Oberschicht. Katharina selbst hat nach den polnischen Teilungen Hunderttausende zu Leibeigenen gemacht.

(Forstsetzung folgt)