26.04.2024

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21.10.00 "Wohin stürmst du, Rußland?"?

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 21. Oktober 2000


Versuch einer Annäherung (Teil II):
"Wohin stürmst du, Rußland?"
Blick in die Geschichte des großen Nachbarn: Ein Reich der Rätsel und Widersprüche
Von MANFRED BACKERRA

 

Kontinuierliche Rechtssicherheit hat sich entsprechend dem bisher (siehe OB Folge 41) Gesagten im russischen Kaiserreich bis zuletzt nicht entwickelt, weder in der Gesetzgebung per Ukasen o.ä., die oft geheim blieben(!), noch in der Verwaltungspraxis, die weithin mit Willkür, Mißbrauch und Korruption gleichbedeutend war, noch in der Rechtsprechung. Russen sprechen deshalb heute von russischem "Rechtsnihilismus".

Hierfür steht beispielsweise die völlige Rechtlosigkeit der Leibeigenen gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Oder auch, daß Mündlichkeit und Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren sowie Unabhängigkeit und Unabsetzbarkeit der Richter erst ab 1864 galten. Und selbst diese vorbildliche Reform wurde bald wieder ad absurdum geführt, weil für politische Straftaten Militärgerichte (die von der Reform nicht erfaßt waren) zuständig wurden oder per Verwaltungsverfahren ohne Berufungsmöglichkeit Verbannung verfügt werden konnte. Die Masse der Bevölkerung schließlich, die Bauern, unterlag weiterhin herkömmlicher Gerichtsbarkeit.

Gewerbe und Industrie zur Produktion hochwertiger Güter blieben weitgehend unterentwickelt und nicht mit westlichen Pendants konkurrenzfähig. Exportiert wurden fast nur Rohstoffe sowie land- und forstwirtschaftliche Produkte, wie auch heute. Eine Folge: Selbst die Großindustrie hatte bis 1905 keine politisch wirksame Interessenvertretung.

Ein mächtiger, nach außen drängender und im Ausland aktiver Handel hat sich nicht entwickelt. Großkaufleute (gosti = Gäste, ursprünglich die westlichen, in Rußland tätigen Kernkaufleute) gab es wenig, außerdem waren sie zum großen Teil, oft zwangsverpflichtet, im Auftrag des Herrschers tätig, der traditionell größter Händler und Monopolist war.

Wirtschaftliche Basis des Staates blieb also die Landwirtschaft: Noch 1913 stammten von ihr zwei Drittel aller Einkünfte des Landes. Um 1900 gehörten fast 80 Prozent der Russen zur landwirtschaftlichen Bevölkerung. Vor der Bauernbefreiung 1861 waren davon über die Hälfte leibeigen (wie darüberhinaus noch ein Großteil der abhängigen Stadtbevölkerung).

Dabei blieb das Ertragsverhältnis (Aussaat zu Ernte) noch im 19. Jahrhundert wie 400 Jahre zuvor bei eins zu zwei bis allergünstigenfalls eins zu fünf – während im klimatisch gleich ungünstigen Skandinavien schon im 18. Jahrhundert eins zu sechs erreicht wurden (ähnlich das genauso ungünstig gelegene russisch beherrschte Deutsch-Baltikum). Eine bessere Kultivierung des Bodens unterblieb nicht zuletzt, weil der Boden nicht auf Dauer in der Verantwortung einer Bauernfamilie blieb, sondern im Rahmen der Bäuerlichen Gemeinde (Mir) immer wieder nach Familiengröße umverteilt und dabei nach Bodengüte – gerecht aber unwirtschaftlich – zerstückelt wurde. Der geringe Gewinn verhinderte bessere Anbaumethoden, so daß noch im 19. Jahrhundert der primitive Hakenpflug üblich war. Außerdem wurde im kollektiv haftenden Mir auch alles kollektiv bestimmt (Fruchtfolge, Aussaat, Ernte, Flurzwang), was eigenständige Neuerungen verhinderte; alle waren gleich und sollten es bleiben. Erst mit den Stolypin´schen Agrarreformen (ab 1906) und in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik Lenins (1921–27/28) entwickelten sich aus dem Mir die selbständigen Mittelbauern, die gleich anschließend als Kulaken der Kollektivierung und dem Neid zum Opfer fielen.

Insgesamt blieben also sowohl geistige als auch materielle Potentiale als Träger des Staates im Vergleich zum übrigen Europa sehr schwach. Grundlage der Staatsmacht war die Ausbeutung, Ausbeutung der Menschen (nicht nur in Form der Leibeigenschaft), des Bodens und der Natur. Dabei waren staatlicher Paternalismus und gesellschaftliche Kollektivität weithin bestimmende Merkmale.

Die Allmacht des Staates wurde in keiner Weise durch starke selbständige und eigenverantwortliche Kräfte irgendeiner Art relativiert (wie etwa Territorialherren und Städte in West- oder Mitteleuropa) und zur Herstellung korporativer oder gar individueller Freiheit und Rechtssicherheit gezwungen. Bestehende Elemente der Freiheit (Norwgorod) wurden vernichtet, außerhalb sich bildende Elemente (Kosaken) bald wieder Rußland einverleibt und dienstbar gemacht. (Andererseits: Bombenanschläge auf den Zaren fanden erst statt, nachdem der Zar von sich aus die Leibeigenschaft aufgehoben und den Anfang von Rechtsstaatlichkeit gemacht hatte. Der "Zar-Befreier" Alexander II. war der erste Zar, der aus seinem Volk heraus – 20 Jahre nach der Bauernbefreiung – durch einen Bombenanschlag ermordet wurde ...)

Die Staatsmacht unternahm zwar immer wieder ruckartige Anstrengungen, die Wirtschaftskraft und die Effizienz des Staatsapparats und des Militärs zu stärken und mit den äußeren Merkmalen europäischer Errungenschaften zu versehen, aber man hütete sich, die dazugehörigen fundamentalen geistigen und Wert-Grundlagen zu übernehmen; vor allem: Freiheit und Selbständigkeit, besonders korporativer Art, sah man bis zuletzt als Gefahr an. Noch im Ersten Weltkrieg wurde der Verband der Semstwa, (50 Jahre vorher eingeführte Organe ländlicher Selbstverwaltung) in seiner selbständigen und erfolgreichen Arbeit im Sinne der Kriegsanstrengungen aufs äußerste behindert, weil der Innenminister darin ein Trojanisches Pferd für die Zarenherrschaft sah.

In keinem Bereich hat sich Freiheitlichkeit, Selbständigkeit, Rechtsbewußtsein und eine dem Gemeinwohl verpflichtete Loyalität, Einsatzbereitschaft und -fähigkeit, in dem Maße entwickelt, wie zur gleichen Zeit im übrigen Europa. Gerade die großartigen russischen Beiträge zur europäischen Literatur legen davon Zeugnis ab, daß Rußland insofern nicht der Kulturtradition west- oder mitteleuropäischer Prägung zuzurechnen ist.

Zur geschichtlichen Prägung gehört ferner, daß Patriotismus für den Russen nur "Loyalität zur Staatsmacht" ist, solange, wie die Macht auch Stärke zeigt (A. A. Amalrik, Dissident). Diese Macht läßt sich mit konsequenter Repressivität im Inneren leicht beweisen. Aber außerdem gab es immer noch etwas, auf das man als Russe trotz aller Misere stolz sein konnte – die Macht nach außen:

Seit Iwan Kalita hat das Moskauer Großfürstentum stetig expandiert. Er und seine nächsten Nachfolger sammelten noch russisches Land, also Teilfürstentümer des schon vor dem Mongolensturm zerfallenen Kiewer Reichs, vorwiegend per Kauf, per Erbverträge, als verfallenes Pfand oder durch Heiratspolitik; allerdings half Iwan auch mit mongolischen Truppen nach und verwüstete Mittelrußland für über 50 Jahre. Nach dem letzten Kauf eines Territoriums 1474 expandierte Moskau indes nur noch gewaltsam – stetig und in atemberaubenden Dimensionen, nicht nur in die quasi freien Räume von Sibirien und Fernost, sondern auch in Staaten und Staatsgebilde des Westens und Südens (!), bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit 22 Millionen Quadratkilometern allergrößenteils nichtrussischen Territoriums das nach dem britischen Empire größte Kolonialreich der Geschichte entstanden war, von dem sogar heute noch über 17 Millionen Quadratkilometer übrig sind (fast zweimal USA mit Alaska).

Diese Expansion geschah meist durch selbstgewählte Offensive, gelegentlich aber auch aus der Defensive. Die Territorialgewinne wurden unabhängig von innenpolitischer und wirtschaftlicher Stärke oder Schwäche, auch gegen hartnäckigen, zum Teil über 50jährigen Widerstand (Kaukasus) erzielt. Rußland hat bei dieser Entwicklung konsequent alle schwächeren Nachbarn geschluckt und erst im 19. Jahrhundert gelernt, die Grenzen Schwächerer aufgrund einer Politik der Machtbalance anderer Mächte anzuerkennen (Türkei, Afghanistan).

Die ständige Expansion diente dem Stolz der Russen und damit der Legitimation der Staatsmacht. Sie trug aber sicherlich auch ganz wesentlich zur mangelnden inneren "Durchzivilisierung" und "Durchaktivierung" der Gesellschaft und des Staates bei, weil dieser sich für seine Militärmacht verausgabte. Hier verströmte das Reich seine Kräfte, statt sie auf sich zu konzentrieren. Dies sah offenbar auch Nikolaus I. so, als er 1839 gegenüber dem Marquis de Custine äußerte: "Ich möchte nur gegen die Not und Barbarei Eroberungen machen: das Los der Russen zu verbessern wäre besser als neue Provinzen zu gewinnen!" Dennoch führte er die Unterwerfung des Kaukasus fort und hatte 16 Jahre später den unnötigen, unseligen Krim-Krieg mitzuverantworten.

Wie wird sich die nostalgische kollektive Erinnerung an die einstige machtvolle Größe auf das Legitimationsbedürfnis der Staatsmacht auswirken, jetzt, da der Staat nach innen nicht mehr so repressiv sein kann und ein Aufschwung der Wirtschaft mit besseren Lebensverhältnissen als Beitrag zur Legitimation noch in unabsehbarer Zukunft liegt? (Was sagt es im übrigen dem Kreml über die Bedeutung der schieren Größe, wenn Rußland von den großen Sieben der Weltwirtschaft hofiert wird, obschon es nur in etwa das Bruttosozialprodukt der Niederlande vorweisen kann?)

Wird eine russische Staatsführung sich eine passende Gelegenheit entgehen lassen können, die Schwäche von Nachbarn zur Expansion zu nutzen, wenn sie, wie meist in der russischen Geschichte, mit relativ wenig Risiko und Aufwand zu erreichen ist?

Per saldo wäre zu wünschen, daß die deutsche Politik die geschichtlichen Erfahrungen Rußlands verinnerlicht und keine Wunder von der russischen Entwicklung erwartet. Sie sollte vielleicht bei aller Hilfsbereitschaft auch das Wort des slawohpilen Lyrikers Fjordor Tjuttschew (1803–73) hören, eines feinfühligen Nachdichters von Goethe, Schiller und Heine, der 17 Jahre als Diplomat in München und Turin lebte und später Zensor und Vorsitzender der Zensurbehörde für ausländische Literatur war:

"Rußland ist mit dem Verstand allein nicht zu begreifen, mit normalem Maßstab nicht zu messen. An Rußland muß man einfach glauben."

Letzteres sollten wir den Russen überlassen. Wir müssen begreifen, daß Rußland von außen kaum zu helfen ist, auf keinen Fall mit frei verfügbarem Geld, auch nicht mit großer Nachsicht, da sie als Schwäche mißverstanden wird; daß nicht wir Rußland integrieren können, sondern daß Rußland sich selbst integrieren muß. Außerdem sollte die deutsche Politik dazu beitragen, daß Rußland sich endlich auf sich selbst konzentriert und bei sich selbst Recht, Ordnung und Wohlstand schafft. Dazu wäre es sehr hilfreich, der Staatsmacht jede Aussicht zu nehmen, sich auf Kosten des "nahen Auslands" Legitimationsbeiträge verschaffen zu können.

Denn wer weiß, ob das russische Selbstbild, welches der nicht als sendungsbewußter Eiferer verdächtige Gogol im Jahre 1842 in "Die Toten Seelen" zeichnet, nicht doch noch Bedeutung hat?

"Ach meine Troika, mein Dreigespann, das wie ein Vogel dahinfliegt. ... Nur von einem lebhaften, phantasiebegabten Volk konntest du ersonnen werden und nur in diesem Volk, das ernst genommen werden will und sich einförmig und beharrlich über die ganze Welt ausbreitet ... Du bist kein spitzfindiges, ausgeklügeltes, mit eisernen Schrauben zusammengehaltenes Gebilde, sondern irgendein gewitzter Jaroslaw´scher Bauer hat dich einfach mit Beil und Stemmeisen gleichsam aus dem Handgelenk gezimmert ... Dein Kutscher trägt keine feinen deutschen Stulpenstiefel – mit Bart und Fausthandschuhen sitzt er weiß der Teufel wie da ... die Straße donnert, der Fußgänger stößt einen Schreckensruf aus und starrt wie angewurzelt der davonfliegenden Troika nach ... Stürmst nicht auch du, Rußland, so dahin, wie die kühne Troika, die niemand einholen kann? ...

Wohin stürmst du, Rußland? Die vor Deinem Anstum zurückflutende Luft wird zum heulenden Sturm. Alles auf Erden weicht dir aus, und es geben dir den Weg frei alle Völker und Reiche." (Schluß)