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04.11.00 Europa und die Deutsche Nation

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. November 2000


Wiedervereinigung – nur ein Zwischenziel auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat?
Europa und die Deutsche Nation
von GERD SCHULTZE-RHONHOF

Auf einer Veranstaltung zum 10. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung, zu der die konservative Journalistenvereinigung "Stimme der Mehrheit" gemeinsam mit dem "freiheitlichen Akademikerverband" und dem "neuen Club" nach Salzburg eingeladen hatte, hielt der Publizist, Buchautor und frühere Generalmajor der Bundeswehr, Gerd Schultze-Rhonhof, den Festvortrag. Sein Thema lautete "10 Jahre deutsche Wiedervereinigung – Europa und die deutsche Nation". Die wesentlichen Passagen dieser bemerkenswerten Rede, die bei den deutschen wie bei den österreichischen Zuhörern großen Beifall fand, dokumentiert Das Ostpreußenblatt in mehreren Fortsetzungen.

Zehn Jahre Wiedervereinigung" und "Europa und die deutsche Nation" – zwei Themen, die sich nahtlos ineinander fügen. Die Frage ist nur – wie. Haben sich zwei Teile des deutschen Volkes wiedervereinigt, um als eine Nation in einem Nationalstaat zu leben? Oder haben sich die zwei Teile vereinigt, damit auch die DDR über dieses Zwischenziel Teil der Europäischen Union werden darf, wie Altbundeskanzler Dr. Kohl den Vorgang nachträglich interpretiert hat?

Um die Frage "War die Wiedervereinigung Ziel oder Zwischenziel?" einigermaßen schlüssig zu beantworten, will ich in zwei Schritten vorgehen. Erstens: Was versteht man in unserem Land unter deutscher Nation? Zweitens: Was stellt man sich in Deutschland, Frankreich und England unter einem gemeinsamen Europa vor?

Im Begriffspaar "Deutsche Nation" steckt als ein Teil die Nation. Die Worte Nation und Volk werden im Umgangsdeutsch und im politischen Sprachgebrauch synonym verwendet. Im internationalen Sprachgebrauch unterscheidet man sie ohnehin meist nicht. So heißt der Völkerbund auf Französisch "Société des nations", und Völkerrecht nennt man auf Englisch "Law of nations". Erlauben Sie also, daß auch ich zwischen Volk und Nation hin- und herspringe.

Die meisten Deutschen – da bin ich sicher – fühlen sich dem deutschen Volke zugehörig. Und dennoch, wenn ich hin und wieder vor größerem Kreis vom deutschen Volk spreche, gibt es in aller Regel merkwürdige Diskussionen. Da fragen Leute: "Wer gehört zum deutschen Volk, auch Türken mit deutschem Paß?" Den Sinn der Frage kann ich noch nachvollziehen. Manche aber sagen auch: "Deutsches Volk, das klingt nach völkisch, nach Drittem Reich. Der Begriff ist belastet. Ich mag ihn nicht." Viele Leute allerdings äußern das nicht so direkt. Sie vermeiden den Begriff und sprechen statt dessen von Gesellschaft.

Eine Mehrheit der Bundestagsabgeordneten in Berlin – auch das gehört dahin – fühlt sich allen Bewohnern unseres Landes verpflichtet und nicht nur den Deutschen. Sie haben eine Umwidmung des Bundestags versucht, indem sie in einem Innenhof in monumentalen Lettern die Widmung "Der Bevölkerung" anbringen ließen. Die alte Widmung "Dem Deutschen Volke" vom Portal des Reichstags abzunehmen haben sie bis dato nicht gewagt. So gewöhnen wir uns in der Bundesrepublik mit der Zeit daran, kein Volk und keine Nation zu sein. Statt dessen sind wir Gesellschaft, Bevölkerung, deutsche Staatsangehörige oder "die Menschen da draußen im Land".

Die Ängste und Aversionen vor dem eigenen Namen "Deutsches Volk" hat jüngst ein deutscher Politiker formuliert. Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Zöpel, wird im Magazin "Der Spiegel" damit zitiert, daß er die Deutschen nicht mag. Von der Wochenzeitung "Junge Freiheit" dazu befragt, verweist er zunächst darauf, falsch und aus dem Zusammenhang gerissen zitiert worden zu sein. Dann antwortet er in Frageform.

So fragt er nach dem deutschen Verständnis von Nation. Ist nur deutsch, wer deutscher Abstammung ist? Wenn ja, dann wären die Masuren, Kaschuben und weitere Bevölkerungsgruppen anderer Abstammung im Deutschen Reich keine Deutschen gewesen.

Ist deutsch, wer die deutsche Sprache spricht? Wenn ja, dann wären auch die Österreicher, die Mehrheit der Schweizer und ein Teil der Belgier und der Italiener Deutsche.

Der Staatsminister zeigt damit eine Problematik in unserer ethnographischen Begriffswelt an. Er mag außerdem – das kann man seinen weiteren Antworten entnehmen – weder den Begriff deutsch noch das Wort Volk noch die Nation. Staatsminister Dr. Zöpel begreift die Nationalität, wie es die Franzosen tun, als Zugehörigkeit zu einem Staat. Und er bekennt, daß er die Menschen, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, mit ausgesprochenem Stolz und Engagement vertritt.

Auch diese zwei Aussagen fahren auf zwei verschiedenen Gleisen. Er bekennt sich zur Gemeinschaft der deutschen Staatsangehörigen, und er vertritt mit Stolz die Wohnbevölkerung unseres Landes. Auch das sind ja wieder zwei verschiedene Personenkreise.

Nun ist es einerseits Dr. Zöpels Privatmeinung, wen er gerne vertritt und mit wem er sich identifiziert. Doch andererseits ist er Amtsperson. Das ist er mit unserem Mandat. So darf ich seine Meinung kommentieren.

Wer die Nation und das Volk durch eine Gemeinschaft von Staatsangehörigen ersetzt, ersetzt ein Ganzes durch die Summe seiner Teile. Was beide unterscheidet, ist der Kitt, der aus den Teilen erst ein Ganzes macht. Dieser Kitt ist die empfundene Gemeinsamkeit, die Solidarität und das Bewußtsein einer Identität, die der Nation innewohnen, nicht aber der Summe von Staatsbürgern als Individuen. Der Unterschied des Ganzen von seinen Teilen war und ist und bleibt nicht ohne Wirkung. Ich beginne mit der Vergangenheit.

Es war ja gerade die Frucht dieser Geisteshaltung, daß ein großer Teil der westdeutschen politischen Elite nur noch die eigenen Staatsbürger wahrnahm und vertrat und nicht mehr die Nation. Dieser Teil der politischen Elite empfand deshalb auch keine Verpflichtung mehr, dafür zu sorgen, daß die Staatsbürger des deutschen Honecker-Staates mit uns Westdeutschen zu einem gemeinsamen Staat vereinigt wurden: Noch kurz vor der Wiedervereinigung warb die westdeutsche SPD für die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR.

Auffallend ist auch, daß ein Teil der politischen Elite darauf versessen war, die Staaten Europas zu vereinen, und gleichzeitig kein Interesse zeigte, die beiden Teile Deutschlands zu vereinen. Man erklärte das mit der Wertegemeinschaft, die die Völker Westeuropas bilden und die es mit der DDR nicht gab. Die Erklärung übergeht das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Einheit der Nation als Werte, und sie übersieht, daß die Menschen in der alten DDR überwiegend an die gleichen Werte glaubten wie die Menschen in der alten Bundesrepublik. Der Werteunterschied betraf wohl weniger die Menschen als ihre Regierungs-, Rechts- und Wirtschaftsformen. Doch auch da sollte man die Wertedifferenzen der Staaten Westeuropas nicht übersehen. Nun zur Gegenwart: Im Oktober 1989 riefen die Deutschen in Leipzig, Dresden und andernorts: "Wir sind ein Volk!" Ich glaube, daß sie riefen, was sie meinten. Die Menschen in der DDR wollten mit uns in der Bundesrepublik eine Nation sein, ein Volk und ein Staat. Viele westdeutsche Verantwortungsträger aber hatten nichts Wichtigeres im Kopf, als den sogenannten nationalen Überschwang der Gefühle zu unterdrücken. Die meisten evangelischen Landeskirchen zum Beispiel untersagten das Kirchengeläut am Tag der Wiedervereinigung. Die Führung der Bundeswehr verbot Wiedervereinigungsfeiern für ihre Truppen. Daß ich selber mit den Soldaten meiner westdeutschen Panzertruppenschule, mit 200 Soldaten der Nationalen Volksarmee und mit den Bürgern unserer Garnisonsstadt Munster trotzdem eine solche Feier öffentlich abhalten konnte, verdankte ich einer umständlich erwirkten Sondergenehmigung.

Wir hatten in Westdeutschland an jenem Tag offensichtlich nichts Wichtigeres zu tun, als das Gefühl, Nation zu sein, zu unterdrücken. Ich sprach eben von der Gegenwart. Die Fortsetzung dieser Unterdrückung einer natürlichen Freude an der eigenen Nation ist heute, daß den Menschen in den neuen und in den alten Bundesländern immer wieder versichert wird, daß die Wiedervereinigung erstens nur ein Durchgangsstadium der DDR zur Europäischen Union ist. Dr. Kohl, Dr. Zöpel und viele andere wiederholen das so oft, daß es schon wie eine politische Sprechblase wirkt. Und zweitens versucht man den Menschen in der ehemaligen DDR heute weiszumachen, es wäre 1990 vor allem darum gegangen, sie an die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik anzuschließen. Ich zitiere Staatsminister Dr. Zöpel aus einem Interview vom 22. September 2000:

"Ich begreife", so sagt er, "die Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik Deutschland als den schnellsten Weg für 16 Millionen Menschen, die in der DDR lebten, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse herzustellen, welche die Menschen der Bundesrepublik seit 1949 hatten. Das rechtfertigt – bei allen nur denkbaren anderen historischen Abwägungen – die Entscheidung, die 16 Millionen Menschen der ehemaligen DDR zu Bürgern der Bundesrepublik Deutschland zu machen."

Wenn das der Hauptgrund für die Wiedervereinigung der geteilten Nation war, wundert es nicht, daß ein Teil der ehemaligen DDR-Bürger heute unzufrieden ist. Denn ihre wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse entsprechen zehn Jahre nach der Vereinigung immer noch nicht denen der Bürger im Westen. Und man versteht, warum ein Teil der Westbürger darüber unzufrieden ist, daß sie Wohlstand und Steuern abgeben müssen. Wenn es wirklich nur darum gegangen ist, den Staatsangehörigen eines anderen deutschen Staates zu besseren wirtschaftlichen Verhältnissen zu verhelfen, ist das Gefühl der Unzufriedenheit verständlich. Aber es ging am 3. Oktober 1990 um mehr. Das hat Dr. Zöpel so nicht erfaßt. Die Deutschen in den alten und den neuen Bundesländern werden nur zu einer Nation zusammenwachsen, wenn sie sich als eine Nation empfinden. Die viel beklagten Ressentiments der "Ossis" gegen die "Wessis" und umgekehrt verschwinden erst, wenn wir uns wieder als eines begreifen, als ein Volk und eine Nation; nicht aber, wenn wir uns nur als eine Menge von Menschen gleicher Staatsangehörigkeit mit wirtschaftlichem Gefälle begreifen.

 

Gerd Schultze-Rhonhof, Autor des Beitrags "Europa und die deutsche Nation", ist vor einigen Jahren aus der Bundeswehr ausgeschieden, da er die Aushöhlung der Verteidigungsfähigkeit durch politische Entscheidungen nicht länger mitverantwor-ten konnte. Seither tritt er als Buch- und Zeitschriftenautor in Erscheinung. Da er vorzugsweise in konservativen Organen publiziert, geriet er auch mehrfach ins Visier der "political correctness".