20.04.2024

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11.11.00 Utopische Versessenheit

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 11. November 2000


Gedanken zur Zeit:
Utopische Versessenheit
Leitkultur ist unerläßlich / Von Vera Lengsfeld

Die Diskussion über die "Leitkultur" war überfällig. Und sie sollte mit Konsequenz und von der Union offensiv geführt werden. Denn es geht um eine Frage von grundlegender gesellschaftlicher Bedeutung. Und Tabus können wir uns nicht mehr leisten. Wenn die Zahl der Schulklassen in unserem Land steigt, in denen Kinder mit der Muttersprache Deutsch in der Minderheit sind, dann ist das ein Problem – und also steht es auf der politischen Tagesordnung.

Leitkultur sagt, und das ist das Wenigste, daß es im Zusammenleben einen gemeinsamen Wertekanon geben muß. Der Kanon kann weit sein, aber nicht beliebig. Ausländer, die in unser Land kommen, haben unsere Gepflogenheiten zu akzeptieren. Warum muß man diese Selbstverständlichkeit rechtfertigen? Integration kann es nicht auf der Basis gleichmäßiger Teilung von Traditionen und Kultur geben, das Thema Einwanderung kann ohne das Thema Leitkultur nicht diskutiert werden. Und um Einwanderung geht es. Bevor Deutschland zum Einwanderungsland erklärt wird (das heißt, wenn man sich damit abgefunden hat), muß den Deutschen klar gesagt werden, was das bedeutet. Und sie müssen gefragt werden, ob sie ihren politisch-pluralistischen Staat als einen multikulturellen Staat wollen. Denn der entspricht dem Modell der Linken. Dieses multikulturelle Modell geht von der Gleichberechtigung der deutschen Kultur mit "einwandernden" Kulturen aus. Die Kulturen sollen unverbunden, gleichbedeutend nebeneinander bestehen. Da die Einwanderung nach Deutschland zunehmen wird, geht diese Vorstellung letztlich von der Marginalisierung der deutschen Kultur aus.

Die Diskussion über die Leitkultur verrät viel über uns Deutsche und unser fehlendes Selbstbewußtsein. Eine solche Debatte würde in Frankreich, Italien oder England als gespensterhaft betrachtet werden, so fraglos ist dort (noch) die Dominanz der eigenen nationalen Kultur. Kultur bedeutet nicht nur Sprache und politische Verfassung, aber beides sind zentrale Elemente. Und insofern unsere politische Leitkultur eine freiheitliche und rechtsstaatliche ist, schützt sie vor Intoleranz. Nur so vermag sie, anderen Kulturen Raum zu geben. Darin liegt kein Absolutheitsanspruch und keine Ausgrenzungsabsicht. Leitkultur bedeutet, daß die Entfaltung verschiedener Kulturen zu einem gemeinsamen Wohl erfolgen muß. Es darf keine Parallelgesellschaften geben. Wer sich vom Begriff der Leitkultur verabschiedet, verabschiedet eigentlich den Begriff des Gemeinwohls. Und wer sich nur auf den Begriff des Verfassungspatriotismus zurückzieht, der hat Geschichte, Herkunft, Tradition – und damit die eigene Kultur – aufgegeben.

Der Stil der gegenwärtigen Diskussion sagt viel über unsere politische Kultur. Der Streit vollzieht sich auf der Grundlage von Verdächtigung, Verdrängung, Unsachlichkeit und utopischer Versessenheit. Das Ziel heißt Einschüchterung. Von der Linken ist keine geistige Offensive mehr zu erwarten. Schon in der Debatte um die "doppelte Staatsbürgerschaft" ging es um die zentrale Frage der Neudefinition des Staatsvolkes.

Eine Gesellschaft ist gewachsen, sie hat ihre Geschichte, ihre Gewohnheiten. Man muß das Deutsche nicht lieben – aber niemand muß hier leben. Kultur ist nicht zu definieren, sie ist offensichtlich. Sie muß nicht mit rationalen Argumenten begründet werden. Es gibt keinen Grund, sich in einen Erklärungsnotstand setzen zu lassen. Zumal der Begriff der multikulturellen Gesellschaft selber voraussetzt, daß es viele Kulturen gibt, die offensichtlich "definiert" sind. Oder sollten alle Kulturen ihre Identität und ihr Recht haben dürfen – nur die deutsche nicht?

Die Debatte ist wichtig, weil sie das Gerede von der "Neuen Mitte" als unpolitisch entlarvt. Gesellschaftspolitische Entwürfe sind von der Union zu lange defensiv behandelt worden. Es geht um Positionen, um das Bekenntnis zu eigenen Interessen. Man muß nicht vor jeder unsinnigen Anschuldigung zurückweichen. Botho Strauß schrieb im "Anschwellenden Bocksgesang": "Der Widerstand ist heute schwerer zu haben, der Konformismus ist intelligent, facettenreich, heimtückischer und gefräßiger als vordem, das Gutgemeinte gemeiner als der offene Blödsinn [...]."

Der Streit um die Leitkultur entlarvt den geltenden Begriff des Politischen. Das Gewünschte wird mit Realität verwechselt. Den Deutschen wird eingeredet, Politik habe nichts mit starken Interessenkonflikten, auch solchen, die nicht im Konsens zu lösen sind, habe nichts mit Selbstbehauptung zu tun. Der gängige Glaube an eine universale civil society, die ohne Repression wohltätig wirkt, an den liberalen Weltstaat, sind vorerst Zeichen einer tiefsitzenden antipolitischen Einstellung. Es wird Zeit, das utopische Denken aus der Politik zu verbannen.