20.04.2024

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11.11.00 Stettins "Tor zur Welt":

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 11. November 2000


Stettins "Tor zur Welt":
Fortschritt in Kaisers Namen

Polen feiern 120 Jahre "Kaiserfahrt"-Kanal / Von Friedrich Nolopp

In Swinemünde und in Stettin feiert man in diesem Jahr den 120. Geburtstag der sogenannten "Kaiserfahrt". Dieser Kanal durch die Südostspitze der Insel Usedom ermöglicht es den großen Frachtschiffen, die pommersche Hauptstadt Stettin direkt anzulaufen. Andernfalls müßten die Kolosse, die vom Atlantik kommend über die Nordsee die Ostsee erreichen, in Swinemünde anlegen und dort ihre Waren auf Binnenschiffe umladen.Die Polen nennen die Wasserstraße "Pistowski-Kanal" und sind stolz auf das technische Meisterwerk, das ihnen 1945 durch die Annexion von Stettin in die Hände fiel. Andrzej Montwill, Präsident des Vorstandes der "Stettin-Swinemünde Seehafen Aktiengesellschaft", betonte anläßlich der Feiern, daß zwar jede Zeit und jedes Jahrhundert das Gesicht der Häfen neu gestalte, das heutige Aussehen der Hafenanlagen von Stettin und Swinemünde aber zum größten Teil ein Ergebnis des Kanalbaus vor 120 Jahren sei. Zweifellos habe die Kaiserfahrt, so Montwill, für Stettin das "Tor zur Welt geöffnet".

Im Zusammenhang mit dem Jubiläum wird zwar darauf hingewiesen, daß der Kanal "Kaiserfahrt" hieß, doch daß an seinen Ufern und in der ganzen weiten Umgebung früher Deutsche gelebt haben und sie es waren, die den Kanal bauten, ist den Geburtstagsrednern keinen Hinweis wert.

Überhaupt fällt auf, daß die Ansprachen und Broschüren zweisprachig polnisch und englisch abgefaßt sind, während eine Übersetzung in die deutsche Sprache offenbar nicht für sinnvoll erachtet wurde. Von der vielbeschworenen guten Nachbarschaft konnte hier also nicht die Rede sein.

Für die Deutschen ist die ganze Angelegenheit ohnehin ein trauriges Kapitel. So wie man in einer Familie von Generation zu Generation das "Familiensilber" mehrt und vererbt, versucht ein Staat, den volkswirtschaftlichen Wohlstand stetig zu erhöhen. Doch von dem, was einst die alten Pommern schufen, haben die heutigen – vertriebenen – Pommern und der deutsche Staat nichts mehr. Weder Kaiserfahrt noch Brücken noch Freihafen nutzen ihnen etwas. Statt dessen versucht die polnische Verwaltung nach Kräften, dem Rostocker Hafen bei der Belieferung Berlins Konkurrenz zu machen. Zwischen den beiden Ostseestädten Rostock und Stettin hat sich ein handfester Wettstreit entwickelt. Schließlich geht es bei der Versorgung der über drei Millionen Einwohner der deutschen Hauptstadt und der Industrieregion an Spree und Havel um viel Geld. Eine Menge Geld war bereits bei der Planung und dem Bau des Kanals im Spiel, nämlich die für damalige Verhältnisse beachtliche Summe von 3,5 Millionen Reichsmark. Erste Überlegungen zu dem Großprojekt hatte es angesichts der schlechten Wasserverbindung nach Stettin schon 1862 gegeben. Wie so oft, haperte es zunächst allerdings an den nötigen Finanzen. 1875 wurde endlich mit Planung und Bau begonnen, und binnen fünf Jahren war der neue, siebeneinhalb Kilometer lange Wasserweg fertiggestellt. Am 26.6.1880 wurde die Kaiserfahrt feierlich eröffnet. Damals hatte sie eine Tiefe von 9,15 Metern, heute sind es 10,5 Meter.
Die Arbeiten an dem Kanal waren mit der Eröffnung allerdings längst nicht abgeschlossen. Immer wieder mußten neue Anlagen – hauptsächlich Brücken – gebaut werden, viele entstanden erst in den 1920er und 1930er Jahren.

Ein besonders wichtiger "Ergänzungsbau" war der Freihafen. Bei der Eröffnungsfeier am 23.4.1898 gratulierte Kaiser Wilhelm II. dem Stettiner Oberbürgermeister Haken mit den Worten, man habe dieses Vorhaben in "altem pommerschen Geist" umgesetzt, und beendete die Rede mit seiner (trügerischen) Lieblingsvision: "Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser".

Zu wilhelminischer Zeit und noch bis 1945 war Stettin der Vorhafen der Reichshauptstadt und erfuhr einen enormen Aufschwung, Rostock hingegen war deutlich kleiner und rein auf den Verkehr innerhalb der Ostsee ausgerichtet.

Doch die Zeiten haben sich gründlich geändert. Zwischen der wilhelmischen Epoche und dem Jahr 2000 liegen die Vertreibung der Deutschen, die 1991 bestätigte polnische Annexion Hinterpommerns und – nicht zuletzt – 40 Jahre DDR.

Der "Arbeiter- und Bauernstaat" besaß keinen Überseehafen – weder Hamburg noch Stettin waren verfügbar. Daher wurde Rostock mit erheblichem Kraftaufwand zum "Tor der DDR zur Welt" ausgebaut und erhielt seinen Überseehafen. Tanker, Container und Stückgutfrachter konnten fortan an der Warnow gelöscht werden. Und in den 70er Jahren wurde auch noch die Autobahn Berlin – Rostock gebaut.

Die Wiedervereinigung hat die Episode DDR beendet und die Pommernmetropole in der alten und neuen Hauptstadt Berlin neu ins Gespräch gebracht. So streben die Berliner Hafen- und Lagerhausbetriebe (Behala) eine Zusammenarbeit mit dem Stettiner Seehafen an.

Die zentrale Frage lautet heute: Will man den Polen – zum Schaden Rostocks – den Zugang zum Berliner Markt gestatten? Berlins Wirtschaftsstaatssekretär Dieter Ernst will dies und glaubt, daß die zunehmende ökonomische Verflechtung mit den östlichen Ostseeanrainern eine "Reaktivierung des Handelsweges nach Stettin" erfordere.