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11.11.00 Nach 118 Jahren: Abschied von der Ostpreußischen Herdbuch-Gesellschaft

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 11. November 2000


Landwirtschaft:
Vorbild für ganz Europa
Nach 118 Jahren: Abschied von der Ostpreußischen Herdbuch-Gesellschaft

Die Ostpreußische Herdbuch Gesellschaft e.V. wurde im Jahre 1882 gegründet und hat bis 1945 einen beispiellosen Aufschwung genommen. Ihre Bedeutung für die Entwicklung der Landwirtschaft in Ostpreußen und vielen benachbarten Gebieten des In- und Auslandes kann auch heute noch zu den herausragenden Kulturleistungen fortschrittlich denkender Menschen gezählt werden.

Auch nach dem Verlust Ostpreußens und seiner wertvollen Zuchten hat die Ostpreußische Herdbuch-Gesellschaft wichtige Aufgaben für ihre ehemaligen etwa einhundert Mitarbeiter und ihre mehr als 6000 Mitglieder wahrgenommen. Nachdem die Zahl ihrer Mitglieder aus biologischen Gründen stark gesunken ist und alle wichtigen dokumentarischen Aufgaben, die vor allem ein Vergessen der großartigen Leistungen verhindern sollen, erfüllt sind, hat der Vorstand einstimmig beschlossen, bei der dafür einzuberufenden Mitgliederversammlung den Antrag auf Auflösung des Vereins zustellen.

Mit der Mitgliederversammlung am 14. Oktober 2000 in der Lehr- und Versuchsanstalt für Tierzucht der Landwirtschaftskammer Niederschsen in Echem, bei der 90 Prozent der anwesenden Mitglieder dem Antrag auf Auflösung zustimmten, verband die Ostpreußische Herdbuch-Gesellschaft eine Feierstunde mit rund einhundert Mitgliedern und Gästen, in der eine 118 Jahre dauernde Geschichte würdig beendet wurde.

Dr. Wilhelm Brilling, der letzte Vorsitzende, berichtete über 118 Jahre Ostpreußische Herdbuch-Gesellschaft, die sich von 1882 bis 1945 mit zu Ende des Zweiten Weltkrieges 6084 Mitgliedsbetrieben und etwa 350 000 Tieren zur größten Rinderzucht-Vereinigung Deutschlands und Europas entwickelt hatte. Sie gewährte Beratung in allen Fragen der Zucht und der Aufzucht, der Pflege, Haltung und Fütterung der Tiere.

Durch planmäßige Zucht und Härte, Anspruchslosigkeit und Leistung wurde eine Verbesserung der Qualität erreicht. Die ersten Leistungsprüfungen wurden bereits 1889 durchgeführt. 1903 wurde der erste Kontrollverein in Heinrichswalde gegründet. 1908 schlossen sich die bis dahin entstandenen Kontrollvereine zusammen. Die Leistungsprüfung auf Milchmenge und Fettgehalt unter Berücksichtigung der Fütterung ist die entscheidende Grundlage für die Züchtung gewesen und hat ihre Bedeutung bis heute erhalten. Die ostpreußischen Züchter und Landwirte haben dabei für das ganze Deutsche Reich eine Vorreiterrolle gespielt.

Um auf Dauer erfolgreich zu sein, hat die Ostpreußische Herdbuch-Gesellschaft schon bald nach ihrer Gründung besonderen Wert auf die Gesundheit der Tiere gelegt. Zur damaligen Zeit waren es vor allem die Maul- und Klauenseuche und die Tuberkulose, die große Schäden anrichteten. Besonders der Bekämpfung der Tuberkulose, der sich 1901 alle Mitglieder anschließen mußten, wurde besonderer Wert beigemessen und mit dem Ostertagschen Verfahren eine erfolgreiche Methode eingeführt, die später auch in den übrigen deutschen Provinzen und im Ausland angewandt wurde. Die Herdbuch-Gesellschaft hat später bis zu zehn Tierärzte beschäftigt, die auch die Bekämpfung von Kälberkrankheiten, seuchenhaftem Verkalben und Euterschäden durchführten. Daraus erhellt die hohe Verantwortung, die der Zuchtverband der Gesundheit seiner Tiere beimaß, der auch für den Verkauf und Export von Zuchttieren überragende Bedeutung zukam.

Wegen der Ferne der Märkte konzentrierten sich von Anbeginn die Bemühungen der ostpreußischen Herdbuch-Gesellschaft vornehmlich auf Vermarktung und Absatz ihrer Produkte. Schon ein Jahr nach der Gründung beschickte der junge Verband die internationale Tierausstellung in Hamburg und erregte dort mit der hervorragenden Qualität der Tiere großes Aufsehen. Seit 1888 beteiligte er sich an sämtlichen Ausstellungen der Deutschen Landwirtschafts Gesellschaft in Nord- und Ostdeutschland. Bereits seit 1886 wurden eigene Zuchtviehausstellungen und Absatzveranstaltungen durchgeführt. Noch während des Ersten Weltkrieges hatte der Vorstand 1917 beschlossen, in Königsberg eine eigene Auktionshalle zu bauen. Die Zahl der jährlichen Versteigerungen stieg bis auf 40 ab dem Jahre 1938. Nach dem Ersten Weltkrieg stiegen auch die Exporte von Zucht- und Magervieh – vor allem nach Sachsen und Sachsen-Anhalt – stetig an.

Die Aktivitäten der ostpreußischen Herdbuch-Gesellschaft dehnten sich derart aus, daß zu Ende des Zweiten Weltkrieges in einem eigenen Gebäude, Händelstraße 2 in Königsberg, rund hundert Mitarbeiter mit eigener Altersversorgung beschäftigt waren.

Nach dem Verlust Ostpreußens wurden zunächst die Mitglieder (im Westen Deutschlands) gesammelt. Sie wurden, soweit das möglich war, bei der Antragstellung zum Lastenausgleich beraten. In einem mühevollen Prozeß wurde die Rückerstattung finanzieller Mittel erstritten, mit denen Ansprüche der ehemaligen Mitarbeiter ausgeglichen wurden. Nach der Sammlung von Betriebsbeschreibungen wurden die beiden Bände des Buches "Ostpreußens Rinder und ihre Zuchtstätten" herausgegeben.

In seinen Grußworten führte Wilhelm v. Gottberg, Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen, aus, daß die Auflösung der Ostpreußischen Herdbuch-Gesellschaft nach 55 Jahren im Exil einen vorläufigen Schlußpunkt setzt, der zu Wehmut Anlaß gibt. Viele Details haben zur aktiven Zeit der Herdbuch-Gesellschaft durch eine blühende Landwirtschaft zu einer blühenden Kulturlandschaft geführt, was besonders deutlich wird im Norden Ostpreußens, wo durch Verwahrlosung des Bodens Sumpf und Steppe entstanden sind.

Henning Beinsen, Vorstandsmitglied des Deutschen Holstein Verbandes, überbrachte die Grüße seiner Organisation und erwähnte die langjährige gute Zusammenarbeit. Dr. Paul Grothe, ehemals Hauptgeschäftsführer des Verbandes Deutscher Schwarzbuntzüchter, betonte, daß Ostpreußen in der Geschichte der deutschen Rinderzucht eine besondere Rolle eingenommen habe, da es Einfluß auf alle anderen Zuchten genommen habe. Als vierte der in Deutschland gegründeten Rinderzuchtverbände habe die Ostpreußische Herdbuch-Gesellschaft ihre Organisation ohne Vorbild aufgebaut und sei 1920 die am besten durchorganisierte Herdbuch-Gesellschaft gewesen. Sie repräsentierte den größten Auktionsplatz und exportierte in die anderen deutschen Provinzen sowie ins Ausland. Als erste führte sie, so Grothe, die Pflichtleistungsprüfung für alle Betriebe ein und beteiligte sich an Vergleichsprüfungen mit anderen Rassen. Die Ostpreußen seien die Avantgardisten der Leistungszucht gewesen und waren im Viehabsatz allen anderen voraus.

In seinem Vortrag über die Situation in Nordostpreußen hob Professor Jürgen Bloech, der seit 1992 an der Staatlichen Universität Königsberg lehrt, ab auf Menschen, Kultur und Landschaft. Menschen und Kultur befänden sich im Westen, das Land ist in Ostpreußen geblieben. Das Land werde zu geringen Teilen bewirtschaftet von Kapitalgesellschaften ohne Kapital oder von Selbständigen mit rührender Hilflosigkeit. Es habe eine kulturelle Verödung des Landes stattgefunden, da nur die Städte gefördert werden. Die Milchleistung betrage, so Bloech, etwa 2000 bis 2500 Liter, was bei Überwiegen saurer Gräser und Distelflächen, soweit das Auge reicht, nicht verwundern könne. Seit 1992 seien etwa drei Viertel der Herden verschwunden, die Ställe seien zum Teil abgerissen worden. Die bestellte Fläche sei stark zurückgegangen, es gebe nur geringe Schweinebestände, Fleisch werde billiger aus dem Westen bezogen. Überall herrsche großes Mißtrauen, das nur durch persönliche Kontakte überwunden werden könne.

In Königsberg betrage, so Bloech, die Produktion etwa 50 Prozent der des Jahres 1992. Erzeugt werden Fischprodukte, Waggons, Bernsteinwaren und BMW-Fahrzeuge. Die Automobildichte ist mit die größte in Rußland, wobei überwiegend westliche Fabrikate gefahren werden. Daraus resultiert eine große persönliche Bewegungsfreiheit.

Mit der Auflösung der ostpreußischen Herdbuch-Gesellschaft bestehe ein Forum des Wissens weniger. Veröffentlichungen müßten nicht nur vorhanden, sondern auch bekannt sein. Wichtig sei es, altes Wissen für die junge Generation ins Internet zu bringen, zumal in drei bis fünf Jahren eine große Diskussion über Ostpreußen zu erwarten sei. Soweit Professor Bloech.

Wilhelm Brilling schloß: "Nun ist der Zeitpunkt gekommen, das großartige Werk vieler Generationen zu beenden. Wir tun es in der Gewißheit, daß Überragendes geleistet wurde, dem wir aber nichts mehr hinzufügen können. Der Abschied ist mehr als schmerzlich, vor allem für die, die mit ganzem Herzen dabei waren. Was bleibt, ist die Erinnerung an eine außergewöhnliche Leistung vieler passionierter Züchter, auf die wir mit Stolz zurückblicken können!" Hans-Henning Reichel