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16.12.00 Polnische Zivilcourage

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 16. Dezember 2000


Polnische Zivilcourage
Bogdan Musial brachte die Reemtsma-Ausstellung zu Fall – sein neues Buch dringt in eine sensible Zone der Zeitgeschichte vor, die bislang als tabu galt      (Teil I)
von HANS-JOACHIM v. LEESEN

Bogdan Musial – das ist jener polnische Historiker, der im Gegensatz zu den meisten seiner deutschen Historikerkollegen 1999 den Mut aufbrachte, die Verfälschungen in der Reemtsmaschen Anti-Wehrmacht-Ausstellung aufzudecken und anzuprangern – gemeinsam mit seinem ungarischen Kollegen Ungvary. Vor wenigen Monaten nun legte er ein Buch vor, welches erneut bestätigt, daß bei ausländischen Wissenschaftlern eine weitaus größere Portion Zivilcourage zu erwarten ist als bei den hiesigen.

Reemtsma und Heer hatten bekanntlich in ihrer Ausstellung Fotos von Leichenbergen gezeigt mit der Behauptung, es handele sich um Opfer der deutschen Wehrmacht. In Wahrheit waren es Opfer der Massenmorde des sowjetischen Geheimdienstes in Lemberg und anderen ostpolnischen Städten. Musial, der über die sowjetischen Greueltaten in Ostpolen forscht, erkannte die Irreführung und deckte sie auf. Die Folge war, daß Reemtsma seinen Laden zumachen mußte.

In seinem neuen Buch "Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen" stellt Musial die Frage, ob sich die Entdeckung der sowjetischen Massenmorde im Sommer 1941 in Ostpolen auf die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges und auf die Radikalisierung der nationalsozialistischen Judenverfolgung ausgewirkt habe und wenn ja, in welcher Weise.

Er stellt fest, daß deutsche Greueltaten gegen Juden überall in der Welt bekannt seien, daß die sowjetischen aber bisher "kaum wahrgenommen" worden seien. Und noch viel schlimmer: sie würden sogar von vielen westlichen Historikern geleugnet oder in manchen Fällen gar gerechtfertigt. Strikt abgelehnt werde von den meisten Historikern, daß es einen Zusammenhang zwischen sowjetischen Massenverbrechen und der Judenverfolgung gegeben habe. In Deutschland, so Musial, sei die Aufklärung besonders schwierig, weil hier die Geschichtspolitik ein Instrument der politischen Auseinandersetzung geworden sei, wie das Beispiel der  Wehrmachtausstellung  von Reemtsma zeige.

Es geht Musial darum, zunächst aufzuklären, was in dem östlichen Teil Polens, der nach der Auflösung des polnischen Staates im Herbst 1939 an die Sowjetunion fiel, wirklich geschehen ist.

Die Polen stellten hier nur vierzig Prozent der Bevölkerung. Ein großer Teil der dort lebenden Menschen waren Ukrainer, Weißrussen und Juden, was nicht verwundert, waren doch weite Teile des Gebietes erst 1920 von der polnischen Armee erobert und Polen eingegliedert worden. Polen bildeten indes die bestimmende Schicht und erfreuten sich daher bei den anderen Volksgruppen keiner großen Beliebtheit.

Nach der polnischen Niederlage strömten 200 000 bis 300 000 Juden aus dem deutsch besetzten Gebiet in den sowjetischen Teil. Sie versprachen sich Schutz durch die Sowjets und boten ihnen daher nicht selten ihre Zusammenarbeit an.

Die sowjetische Besatzungsmacht ging daran, die alten polnischen Eliten in Ostpolen auszuschalten. Sie spielten die Volksgruppen gegeneinander aus, indem sie sowjetische Milizen bildeten, die sich vorwiegend aus Ukrainern, Weißrussen und Juden zusammensetzten.

Diese Milizen führten zusammen mit dem sowjetischen Militär und dem Geheimdienst die Verhaftungen vor allem der Polen durch, die ab Februar 1940 zu Hunderttausenden in die UdSSR deportiert wurden.

Wer der zwangsweisen Einführung der sowjetischen Wirtschaftsordnung wie etwa der Kollektivierung der Landwirtschaft, der Enteignung polnischen Besitzes sowie der Verstaatlichung von Industrie, Handel und Dienstleistungsunternehmen Widerstand leistete, wurde in die sowjetischen Gefängnisse gesperrt. Wie im 20. Jahrhundert nicht unüblich, wechselte die Besatzungsmacht die gesamte bisherige Führungsschicht aus.

Die Folge war der Zusammenbruch der polnischen Wirtschaft. Es herrschte Massenelend. Dadurch entstehende Empörung und Widerstand wurde durch Massenterror unterdrückt.

Die Ukrainer, die sich zunächst vom Einmarsch sowjetischer Truppen die Befreiung von polnischer Oberherrschaft versprachen, wurden sehr schnell enttäuscht und bildeten eine zunehmend gut organisierte Widerstandsbewegung, die sogar hie und da den bewaffneten Kampf gegen die Sowjets aufnahm. Auch die Weißrussen widerstanden, wenn ihnen auch der organisierte Widerstand nicht gelang. Die Juden hingegen hätten als Unterdrücker der Polen gegolten, der Ukrainer und der Weißrussen, weil, wie Musial schreibt, vor allem die bolschewistische Idee der Gleichmachung aller Menschen ihnen entgegengekommen sei.

So habe es eine zunehmende Zahl von Juden in den Führungspositionen der Kommunisten gegeben, obgleich sich auch polnische Juden den Sowjets widersetzt hätten und deswegen verfolgt worden seien. Alles in allem aber hätten die Juden in Sowjetpolen "politische und wirtschaftliche Privilegien" genossen. Musial weiter: "Dies verdankten sie ihrer Geschicklichkeit und ihrer Fähigkeit, sich rasch an neue Verhältnisse anzupassen." Die als zu national geltenden Ukrainer und Weißrussen sowie die Polen wurden hingegen unterdrückt. Nachdem die polnischen Studenten weitgehend deportiert worden waren, hätten die Juden beispielsweise an der Universität Lemberg 85 Prozent der Studenten gebildet.

Die Sowjets verboten jeden Antisemitismus. Antisemitische Äußerungen wurden als "Verbrechen gegen das sowjetische System" geahndet. Die judenfreundliche Politik der Sowjets sollte sich bald furchtbar rächen.

Als im Juli 1941 der deutsch-sowjetische Krieg ausbrach, saßen etwa 40 000 Häftlinge in sowjetischen Gefängnissen in Ostpolen; die meisten waren Polen, Ukrainer und Weißrussen. Es gab aber auch einige Juden.

Moskau gab sofort die Anweisung, die Häftlinge ins Innere der UdSSR zu transportieren, doch reichte dazu angesichts des schnellen Vormarsches der deutschen Wehrmacht die Zeit nicht aus, zumal keine ausreichenden Transportmittel zur Verfügung standen. Am 24. Juni 1941 richtete der Chef des sowjetischen Polizei-, Nachrichten- und Sicherheitsdienstes, Berija, ein Geheimtelegramm an die regionalen NKWD-Vertreter, daß alle Gefängnisinsassen zu erschießen seien.

Umgehend begannen die systematischen Liquidierungen, die aber immer mehr unter Zeitdruck gerieten, weil sich die Wehrmacht näherte.

Musial zitiert zahlreiche Zeugenaussagen von Polen, Ukrainern, aber auch von Juden, die Entsetzliches und nahezu Unglaubliches berichteten.

Da werden die Gefängnisinsassen in die Höfe getrieben, um mit Maschinengewehren und Handgranaten umgebracht zu werden. Da schießen die Gefängnisaufseher mit Maschinenwaffen in die in den Zellen zusammengepferchten gefangenen Frauen und Männer. Da wird gemetzelt und abgeschlachtet. Und einige finden immer noch Zeit, auf sadistische Art die wehrlosen gefangenen Polen, Ukrainer und Weißrussen zu martern und zu quälen.

Dann versucht man, in aller Hast die Leichen irgendwo zu verscharren, doch gelingt das nur zum kleineren Teil. Die sowjetischen Truppen, häufig als letzte die NKWD-Mörder, verlassen fluchtartig die polnischen Städte und lassen, so Musials Forschungsergebnisse, 20 000 bis 30 000 ermordete Häftlinge zurück.

Der polnische Historiker merkt an, daß bisher überhaupt noch nicht der Versuch gemacht worden sei, zu untersuchen, wie viele Menschen in den baltischen Staaten, in Bessarabien sowie im östlichen Teil Weißrußlands und der Ukraine ermordet wurden. Nach seiner Einschätzung müssen es gewaltige Opferzahlen gewesen sein.

30 000 bis 40 000 polnische Kriegsgefangene aus den wenigen Wochen des polnisch-sowjetischen Krieges 1939 wurden, sofern sie sich noch in Ostpolen befanden, in Gewaltmärschen nach Osten getrieben. Wer nicht folgen konnte, wurde von den Sowjetwachen liquidiert. Bis heute ist das Schicksal von 10 000 polnischen Kriegsgefangenen in sowjetischer Hand ungeklärt.

Sobald die sowjetischen Peiniger verschwunden waren, "wurde Rache geübt", wie Musial schreibt. Es hatte sich in Blitzesschnelle herumgesprochen, welch’ schrecklichen Dinge in den Gefängnissen geschahen. Die Bevölkerung versuchte, Zugang zu den Gefängnissen und Arrestlokalen zu bekommen, um zu sehen, ob ihre Angehörigen überlebt hatten. Sie fanden nur noch Leichen. Und es begann die Jagd nach den Schuldigen. Das war in den Augen der Ukrainer, Polen und Weißrussen vor allen Dingen die jüdische Volksgruppe.

Der Zorn verkürzte die Fakten, fand den Sündenbock: Waren es nicht Juden, die in großer Zahl in den sowjetischen Milizen Jagd gemacht hatten auf Polen und Ukrainer? Waren sie nicht von den Sowjets bevorzugt worden? Und waren nicht viele bekannt, die in führenden Positionen den sowjetischen Unterdrückern gedient hatten? Nun wurde pauschaliert. Wegen jener Juden, die mit den Sowjets kollaboriert hatten, rächte man sich an allen Juden.

Noch bevor die deutsche Wehrmacht in den Städten eintraf, begannen antijüdische Pogrome. Nach dem Einmarsch stoppte die Wehrmacht die Raserei, hatte sie doch zunächst die Aufgabe, die rückwärtigen Gebiete schnellstens zu befrieden. Die deutschen Soldaten wurden von der polnischen, ukrainischen und weißrussischen Bevölkerung als Befreier empfangen, hatten sie doch verhindert, daß das Sowjetregime noch weitere Opfer forderte. Und überall wurde den Soldaten von den traumatisierten Bewohnern vorgehalten, wer nach ihrer Meinung verantwortlich gewesen sei für die Massenmorde: die Juden.

Die Wehrmacht ordnete an, sofort die Leichen in den Gefängnissen und wo sie sonst lagen zu bergen, damit sie identifiziert und angemessen beerdigt werden konnten. Dort, wo die Sowjets noch Massengräber angelegt hatten, wurden sie geöffnet. Vielerorts zwang man Juden, die man ohne Ansehen der Person kollektiv für die Schuldigen an den grauenhaften Ereignissen erklärte, die Leichen zu bergen und zu waschen, um sie identifizieren zu können. (Schluß folgt)

Bogdan Musial, "Konterrevolutionäre Elemente sind zu erschießen". Die Brutalisierung des deutsch-sowjetischen Krieges im Sommer 1941. 350 Seiten, zahlreiche Bilder, geb. mit SU, Propyläen Verlag Berlin, 2000, 44 Mark