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23.12.00 Flucht aus Braunsberg: Erinnerungen eines 12jährigen

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 23. Dezember 2000


Flucht aus Braunsberg: Erinnerungen eines 12jährigen
von Gerhard Schulz

Vor mir liegt das Wehrmachtsmerkbuch von 1945, das meiner Mutter, Martha Schulz, geb. Kolberg, geboren am 21. Februar 1907 in Pettelkau, gehört. Sie wohnte seit März 1945 in Schwallingen, wohin sie nach der Flucht aus Ostpreußen verschlagen wurde. Seit Mai 1997 wohnt sie nun im Alten- und Pflegeheim "Der Tannenhof" in Schneverdingen in der Lüneburger Heide.

Im Wehrmachtsmerkbuch von 1945 beginnen die Eintragungen am 5. Februar 1945: Fliegeralarm. Vor unserem Haus, wir wohnten am Rande der Stadt Braunsberg in der Angerstraße Nr. 17, fällt eine Bombe. Die meisten der acht Familien befinden sich wie ich im Keller. Ich, Gerhard Schulz, war zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. Nach zwei Tagen ist der Fliegerangriff vorbei, aber jetzt hatte auch bei uns der Krieg begonnen. Wir hatten kein Wasser mehr im Haus und so haben wir von dem zwischen der Kreuzkirche und der Kussallee hinter dem Lehmberg liegenden Bauernhof aus einer Schwengelpumpe Wasser geholt. Wir Jungen aus dem Haus, mein Bruder Franz, die Kolberg-Jungen und ich, waren dann viel unterwegs, vor allem um Lebensmittel zu besorgen. Nach dem Fliegerangriff hatten wir viel zu essen, z. B. schwarzes Körnerbrot aus Dosen und Schokolade in Dosen, Fliegerschokolade haben sie die Erwachsenen genannt. Der Sportplatz an der SA-Straße war voll von Flüchtlingen mit Fuhrwerken, Kühen und Pferden. Wir Kinder haben viel Milch geholt. Die Schweine wurden von den deutschen Soldaten geschlachtet, in einer Bäckerei in der Nähe der Hindenburgstraße wurde Brot gebacken. Wir Kinder haben alles ohne Lebensmittelkarten erhalten. Auf unseren Streifzügen haben wir auch nackte tote Menschen gesehen, die auf Pferdeschlitten zum Friedhof gebracht und dort in ein großes Loch geworfen wurden. Die deutschen Soldaten haben uns jedesmal verjagt, aber wir haben uns immer wieder herangeschlichen. Auch viele tote Pferde wurden in die Lehmkuhle am Pulverschuppen hineingeworfen. Am Ufer der Passarge, zwischen dem Hafen und der Brauerei Bergschlößchen, in der mein Opa Franz Schulz Kellermeister war, hat die Post Briefe und Schriftstücke verbrannt. Das Feuer war ausgegangen und wir Kinder haben die Briefe aufgemacht. Wir haben darin Geld und Bilder gefunden. In der Scheune in der Angerstraße war der Volkssturm untergebracht. Hier haben wir aus der Gulaschkanone immer Essen bekommen. Als der Volkssturm die Scheune verlassen hat, haben sie viel liegenlassen. Zusammen mit meinem Bruder Franz habe ich dort einen ganzen Koffer voll Geld gefunden.

Meine Mutter hat nach dem Fliegerangriff die Koffer gepackt und viele Dinge in unserem Holz- und Kohleschuppen vergraben, sie wußte wohl schon, daß wir Braunsberg verlassen mußten. Und so war es auch: am 11. Februar 1945 wurden wir von der SA gegen 16.00 Uhr aufgefordert, frühmorgens am nächsten Tag Braunsberg über das Frische Haff zu verlassen. Meine Mutter hatte zum Glück alles schon gepackt. Jeder hatte einen Tornister oder einen Rucksack, ich hatte sogar zwei Tornister, einen hinten auf dem Rücken und einen vorne auf der Brust. In den Tornistern waren nur Lebensmittel, vorn 10 Pfund Zucker. Jedes meiner Geschwister hatte die Reichskleiderkarte und die Lebensmittelkarte, seinen Rosenkranz, ein paar Geldscheine, einige Bilder und den Impfausweis bei sich. Ich besitze diese Dinge heute noch. Wir hatten auch einen kleinen Sprossenhandwagen, darauf kamen zwei Koffer voller Lebensmittel. Wir hatten viel gesammelt und es war auf einmal genug da, aber zu trinken hatten wir nichts. Das sollte noch schlimm werden.

Am 12. Februar 1945 um 5.00 Uhr früh haben wir mit mehreren Familien unsere Wohnung in der Angerstraße Nr. 17 in Braunsberg (Ostpreußen) verlassen. Meine Mutter Martha Schulz flüchtete mit vier ihrer fünf Kinder: Irmgard, Franz, Gerhard und Erika. Unser Vater war irgendwo in Rußland und meine älteste Schwester Luzia war schon mit ihrer Herrschaft, wie Mutter immer sagte, noch mit dem Zug aus Braunsberg hinausgekommen. Wir haben sie im Dezember 1945 wiedergefunden.

Meine Schwester Irmgard war zu dieser Zeit auch bereits in der Lehre, und zwar bei der Firma Harry Piehl im Sägewerk, Seydlitzstraße, in der Nähe des Obertor-Bahnhofs. Wir drei jüngeren Geschwister gingen noch zur Schule, mein Bruder Franz und ich in die Hindenburgschule, meine Schwester Erika in eine katholische Mädchenschule, die Adolf-Hitler-Schule.

Das erste Ziel unserer Flucht war Alt-Passarge auf der anderen Seite der Passarge. Warm angezogen, es war noch eisiger Winter, mein Bruder und ich hatten Komißstiefel an, gingen wir los. Meine Mutter und meine Schwester Irmgard zogen den Handkarren. Wir gingen die Angerstraße und dann die SA-Straße an der Zigarrenfabrik entlang. Dort lag ein toter SA-Mann, neben sich ein Schild. Meine Mutter sagte: Jetzt erschießen sich die Deutschen schon gegenseitig. Es ging weiter durch einen kleinen Park, weiter über die Holzbrücke und dann immer an der Passarge entlang. In Alt-Passarge angekommen, mußten wir unseren Handwagen stehen lassen, eine Deichsel war gebrochen. Nun hatten meine Mutter und meine Schwester noch mehr zu schleppen. Später haben wir einen alten Mann in Stutthof gesehen, der sich unseren zurückgelassenen Handkarren wieder fertig gemacht hatte. In Alt-Passarge war alles voller verwundeter Soldaten, Flüchtlinge und Fuhrwerke, es war ein furchtbares Durcheinander. Unsere Flucht ging von da an weiter über das Eis des zugefrorenen Frischen Haffs. Wir sind zu Fuß immer ganz gut vorangekommen, die Fuhrwerke dagegen häufig nicht, da sie sich nicht an die vorgegebenen Markierungen gehalten haben. Die deutschen Soldaten hatten für die Fuhrwerke eine Fahrstrecke markiert, auf der die Wagen in einem Abstand von 50 bis 100 Metern fahren sollten. Viele der Fuhrwerke, die außerhalb dieser Markierungen gefahren sind, sind mit Pferd und Wagen eingebrochen.

Mitten im Haff taucht vor uns eine Wasserrinne auf. Deutsche Soldaten bauten an einer Holzbrücke, sie waren schon fast fertig und wir konnten auf die andere Seite hinüber. Wir erfuhren, daß ein Eisbrecher diese Rinne ins Eis gebrochen hatte.

Drei Flüchtlingstrecks fuhren über das Frische Haff: von Heiligenbeil, von Alt-Passarge und von Frauenburg, alle zur Frischen Nehrung. Am Abend des 12. Februar 1945 hatten wir die Frische Nehrung in Neukrug erreicht. Deutsche Soldaten haben für uns einen Sandbunker frei gemacht, sie müßten weiter, haben sie gesagt. Den Bunker, der mit viel Stroh ausgestattet war, haben wir uns mit drei Familien geteilt. Wir waren zirka 15 Personen. Es war ein ruhiger Tag, an dem es keine Fliegerangriffe gegeben hatte.

Am 13. Februar früh morgens ging es weiter die Nehrung entlang. Eine Wehrmachtskolonne mit Pferd und Wagen hat Flüchtlinge mitgenommen, auch meine Schwester Irmgard mit unseren zwei großen Lebensmittelkoffern. Lebensmittel hatten wir zu der Zeit noch genug, bloß mit dem Trinken war es schlecht. Wir haben deshalb Schnee zu uns genommen. Mutter hatte grüne Tropfen mit und so haben wir immer grüne Tropfen mit Zucker bekommen. Weil die Wehrmachtskolonne immer wieder zum Stehen kam, sind meine Mutter und wir drei Kinder zu Fuß vorangelaufen, so daß wir am frühen Nachmittag in Kahlberg waren. Wo aber war meine Schwester Irmgard mit der Wehrmachtskolonne? Alle hatten sie Angst, denn es wurde bereits dunkel, und dann kamen sie endlich. Wir haben dann in einem Hotel in der Eingangshalle auf der Treppe übernachtet.

Am 14. Februar früh morgens sind wir dann wieder zu Fuß weiter die Frische Nehrung entlang. Mutter wurde es schlecht, sie konnte nicht mehr weiter, und wir Kinder standen um sie herum. Soldaten gaben ihr Knäckebrot, und nach einer Weile ging es ihr dann wieder besser und wir konnten weiter. Wir hatten am Vortag Kaninchenfleisch, das wir noch im Koffer hatten, gegessen, alles eiskalt. Abends waren wir in Schellmühl, wo wir in der Kirche übernachtet haben. Es wurde ein Kind geboren, die Leute suchten einen Arzt.

Am 15. Februar wieder weiter, immer zu Fuß. Wir hatten viel Glück, die ganze Zeit keine Tiefflieger. Wir kamen durch die Dörfer Neue Welt und Vogelsang, am Nachmittag waren wir dann in Stutthof. Wir wurden in große Hallen geleitet, die mit viel Stroh ausgelegt waren. Es soll sich um ein ehemaliges KZ gehandelt haben. Hier haben wir dann übernachtet.

Am 16. Februar, wir hatten nicht mehr zu essen, haben wir Kinder etwas zu essen gesucht. Am Tor des Lagers gab es ein Pförtnerhaus, wo Brot verteilt wurde. Es gab pro Person ein halbes Komißbrot. Es wurde aus dem Fenster herausgereicht und wir mußten die Arme hochstrecken, damit wir es fassen konnten, und so sind wir öfters vorbeigegangen. Wir haben Stutthof an diesem Tag um 13.00 Uhr mit einem Kohlefrachter verlassen, es gab keine Toiletten und das Schiff war total überfüllt, es war schlimm.

Am 17. Februar um 4.00 Uhr morgens waren wir in Danzig. Zunächst wurden wir in ein Kino gebracht, dann um 9.00 Uhr wurden wir von der SA in Baracken geführt. Am Nachmittag kamen die Leute der SA zurück und brachten uns etwas zu essen. Es war viel und gut. Wir blieben dann bis zum 21. Februar 1945 in diesen Baracken. Mutter hatte am 21. Februar Geburtstag, sie wurde 38 Jahre alt. Mutter hatte etwas gebacken, ich weiß aber nicht mehr, was es war. An diesem Tag kam die SA und teilte uns mit, daß wir abends um 18.00 Uhr Danzig mit dem Zug verlassen müßten. Um 21.00 Uhr waren wir dann in Stolp, auch hier war wieder alles überfüllt.

Am 22. Februar waren wir dann um 4.30 Uhr auf dem Bahnhof in Groß Pychow. Von hier ging es mit einem Fuhrwerk weiter nach Schmenzin, Pommern, Kreis Belgard. Hier wurden wir in dem Haus eines Sägewerksbesitzers untergebracht, sein Name war August Altenberg. Es war eine schöne Villa, die von den Besitzern bereits verlassen war. Die Soldaten haben geschlachtet, so daß wir reichlich zu essen hatten. Dann hieß es, die Russen kommen. Am 27. Februar brachten uns deutsche Soldaten dann um 12.30 Uhr von Schmenzin mit dem Fuhrwerk zum Bahnhof nach Groß Pychow. Um 14.30 Uhr kamen wir an, um 17.00 fuhren wir von Groß Pychow bereits weiter.

Am 28. Februar waren wir um 5.30 Uhr in Stargard, am 1. März um 11.00 Uhr in Güstrow. Abends um 20.00 Uhr ging es weiter. Wir sind die ganze Nacht durchgefahren. Am Morgen des 2. März waren wir wieder in Güstrow. Von hier erneuter Aufbruch mit einem Güterzug auf offenen Waggons. Unterwegs hielt der Zug auf offener Strecke, außer Wiese und Wald war nichts zu sehen. Viele Menschen kletterten von den Waggons zum Austreten. Da wir nichts zu trinken hatten, sind viele zur Lokomotive gelaufen, um Wasser zu holen. Das Wasser, was der Lokomotivführen uns gegeben hat, war warm und schmeckte scheußlich. Dann fuhr der Zug wieder an. Alle Leute liefen zurück, viele sind aber nicht mehr mitgekommen. Die Menschen haben geschrien, aber der Zug hat nicht mehr angehalten. Wir sind an Lallendorf und Bad Kleinen vorbeigefahren. Um 14.30 Uhr haben wir Schwerin erreicht. Dort mußten wir in Viehwaggons umsteigen.

Am 3. März waren wir dann morgens in Soltau. Wir wurden mit Fuhrwerken abgeholt und in der Lüneburger Heide verteilt. Unsere Familie kam nach Schwallingen, zuerst zu der Familie Möhrmann, am selben Tag sind wir dann noch zur Familie Lünzmann umgezogen. Meine älteste Schwester Luzia haben wir dann am 19. Dezember 1945 wiedergesehen. Unseren Vater haben wir erst nach fünf Jahren wiedergesehen. Er ist in der DDR geblieben.