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13.01.01 Start oder Buchlandung: Für Königsberg wird die Ostausdehnung der Union zur Schicksals- frage

© Das Ostpreußenblatt  / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. Januar 2001


Nördliches Ostpreußen:
Nach EU-Erweiterung isoliert?
Start oder Buchlandung: Für Königsberg wird die Ostausdehnung der Union zur Schicksals-
frage
– Offenbar macht man sich in ganz Europa Gedanken über die Zukunft der Enklave - nur in Berlin nicht
– Freihandelszone, Sonderzone ...: Bislang verliefen alle Erlösungsformeln für Nord-Ostpreußen im Sande

Seit einiger Zeit spielt das nördliche Ostpreußen eine hervorgehobene Rolle im Verhältnis der Europäischen Union zu Rußland. Schon 1994 hatte das Europäische Parlament einen Bericht zum Königsberger Gebiet verfaßt, der sich noch sehr allgemein mit diesem bemerkenswerten Stückchen Europa beschäftigte. Heute jedoch entspringt das Interesse dem Umstand, daß Nord-Ostpreußen nach dem Beitritt Polens und Litauens eine Enklave inmitten der EU sein wird. Zuletzt haben die EU und Rußland den Fragenkomplex Königsberg während des Gipfeltreffens am 29. Mai 2000 erörtert. Schon im Oktober 1999 hatte der spätere Präsident Putin in Helsinki der Region Königsberg die Rolle einer Pilotregion im Verhältnis von EU und Rußland zuerkannt.

Was sich konkret hinter dem schneidigen Begriff verbirgt, ist diffus. Es erscheint nicht gerade realistisch, daß der um Gleichschaltung der Regionen der Russischen Föderation bemühte Putin Nord-Ostpreußen mehr Freiheiten geben wird. Um mehr Licht ins Dunkel zu bringen, veranstalteten die britische Botschaft in Belgien (wo war die deutsche?) und die "Trans European Policy Studies Association" (TEPSA) am 29. März 2000 eine Konferenz in Brüssel. Dort wurden die Auswirkungen der künftigen Enklavenlage Königsbergs auf Ostpreußen selbst, seine Anrainer, die EU sowie Rußland untersucht. Ein soeben erschienener Sammelband, zu dem Chris Patten, Ihrer Königin letzter Gouverneur von Hongkong und heutiger EU-Kommissar für Außenbeziehungen – ein (belangloses) Vorwort beisteuerte, faßt die Ergebnisse zusammen.

Ein solches ist, daß weder die EU noch Moskau eine Strategie für Königsberg haben. Ein anderes: Deutsche Perspektiven spielen keine Rolle. Die deutsche Vergangenheit wird korrekt, aber extrem knapp gewürdigt. Unter den zahlreichen Autoren – Briten, Russen, je ein Schwede, Finne, Litauer und Pole – findet sich kein Deutscher oder gar Ostpreuße. Das mag bei dem Thema merkwürdig erscheinen, spiegelt aber leider durchaus die Rolle Deutschlands bei der Gestaltung der Beziehungen zu und der Zukunft von Königsberg.

Im einleitenden Teil wird ein Überblick zur Entwicklung des Königsberger Gebiets im vergangenen Jahrzehnt geboten, der die gegenwärtige Problemlage verdeutlichen soll. Nachdem 1991 erstmals ein Zug von der deutschen in die ostpreußische Hauptstadt fuhr, sind über 90 000 Ostpreußen ins Land geströmt (wenn auch nur als Besucher). Königsbergs militärische Bedeutung als Stützpunkt der Baltischen Flotte und Stationierungsort für aus ehemaligen Ostblockstaaten abgezogene Soldaten verringerte sich nach der Öffnung stetig. Auf dem Höhepunkt waren 200 000 Soldaten in der Region, heute sind es nur noch 16 000–30 000, was die direkte Bedrohung der Nachbarländer, die in den vergangenen Jahren allenthalben an die Wand gemalt worden ist, doch relativ gering erscheinen läßt.

Um die negativen Auswirkungen der Enklavenlage abzufedern, wurde zunächst eine Freihandelszone eingerichtet, welche die zollfreie Einfuhr von Rohstoffen oder Konsumgütern gestattete. Auf diese Weise sollten Investitionen angezogen werden. Boris Jelzin löste die Freihandelszone 1995 auf, nur um sie ein Jahr später als Sonderwirtschaftszone zu exhumieren. Beide waren Totgeburten, was nach dem Urteil der Herausgeber des Sammelbandes auf eine Moskauer Melange von Unterstützung, Gleichgültigkeit und Opposition zurückzuführen ist. Ausführlich weist der Band auf die Rohstoffe hin, die neben dem legendären Bernstein auch Öl umfassen. Insgesamt werden Ostpreußens Ressourcen jedoch für zu leicht befunden, zumal nicht einmal die große landwirtschaftliche Fläche noch produktiv genug ist, den Lebensmittel-Nettoimporteur Königsberg zu ernähren. Zwar sind auch die Exporte stark angewachsen, stehen jedoch einem viel größeren Zuwachs bei den Importen gegenüber, der im nördlichen Ostpreußen ein astronomisches Zahlungsbilanzdefizit anhäufte.

Nach der EU-Osterweiterung besteht aus Sicht der Autoren die Gefahr, daß Königsberg infrastrukturell völlig isoliert werden wird, da es am Ausbau der Transeuropäischen Netze nicht teilhaben kann. Schon jetzt ist die ostpreußische Hauptstadt aus der Luft kaum zu erreichen: Die skandinavische SAS fliegt wöchentlich sechs Mal von Kopenhagen, die "Kaliningrad Avia" hat gerade sechs Flugzeuge – und das in einer "Pilotregion". Ein anderes Problem ist, daß Litauen und Polen als hoffnungsvolle Schengen-Staaten ein strenges EU-Außengrenzenregime betreiben sollen. Einwohner der Enklave werden folglich mit größeren Schwierigkeiten bei der Einreise nach Binnenrußland zu rechnen haben, zumal es Polen und Litauen verwehrt wäre, Sonderbedingungen für Königsberg auszuhandeln. Auch zu energiepolitischen Problemen und der Einfuhr teurer Energie wird es kommen.

Damit nicht genug: Die wichtigsten Handelspartner des nördlichen Ostpreußen werden dann den gemeinsamen Besitzstand der EU anwenden. Polen absorbierte 1997 26,1 Prozent der Exporte, gefolgt von der Bundesrepublik mit 9,4 Prozent. Bis 1995 hatte Deutschland noch an erster Stelle gelegen, bei den Importen tat es das 1997 mit 24,2 zu 17 Prozent (Polen) bzw. 16 Prozent (Litauen) noch immer. Viele Produkte aus Königsberg – wie etwa Fisch – werden alsbald auch von Polen und Litauen nicht mehr eingeführt werden dürfen, weil sie den EU-Standards nicht genügen. Hohe Anpassungskosten warten auf die örtlichen Unternehmen. Und dies ist lediglich eine Skizze der Probleme, die nach der Osterweiterung warten. Gegenwärtiges Ungemach wie Kriminalität (Schmuggel, Autodiebstahl, Drogen), Umweltverschmutzung und Europas höchste Aidsrate sind da noch nicht mit eingerechnet.

Alles in allem trägt der Sammelband nicht übermäßig dazu bei, Strategien zur Lösung dieser Beschwerlichkeiten schaffen zu helfen. Zu behäbig, zaghaft und mutlos sind fast alle Beiträge, viele Diagnosesequenzen überschneiden sich und werden dadurch überflüssig. Da waren wir schon weiter, etwa als Gilbert Gornig Mitte der neunziger Jahre in einer Schrift der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen die Vollmitgliedschaft Königsbergs in der EU vorschlug und das auch rechtlich unterfütterte – oder als ein russischer Wissenschaftler vor einigen Monaten eine Freihandelszone anregte. Nur zwei Autoren in dem zu besprechenden Band sind der Auffassung, die EU müsse massiv tätig werden, wenn ihnen auch Mitgliedschaft oder Freihandelszone nicht vorschweben.

Viele Beiträge teilen die Auffassung, daß ein Weg in Richtung EU über die von Finnland initiierte "Nördliche Dimension" der EU führen könnte, welche der Ostseeregion mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen will. Mit der Niddener Erklärung, in der Rußland und Litauen eine Liste von gemeinsamen Projekten in den Bereichen Verkehr, Energie, Umweltschutz, Bildung etc. zusammengestellt haben und in die "Nördliche Dimension" einzubringen gedenken, ist ein Schritt getan. Schweden hat bereits angekündigt, während seiner EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2001 die Königsberg-Frage in die "Nördliche Dimension" einzubeziehen, die nämlich auch immer älter wird, ohne an Substanz gewonnen zu haben.

Für Sylvia Gourowa, stellvertretende Bürgermeisterin von Königsberg, könnten Zollvergünstigungen helfen, die Isolation der Enklave zu begrenzen. Alexander Songal stellt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit dem südlichen Ostpreußen heraus, die über einen "Russisch-Polnischen Rat zur Zusammenarbeit der Regionen Nordost-Polens mit der Oblast Königsberg" verfügt. Auf den "Gemeinsamen Litauisch-Königsberger Kooperationsrat", dem auch Vertreter der nationalen Ebene angehören, weist Vygaudas Usackas hin. Mit Litauen wurde ein Abkommen über Reiseverkehr geschlossen, welches die Königsberger Behörden der Moskauer Zentrale hart abringen mußten. Es folgten Vereinbarungen mit den Nachbarn über die Eröffnung von Grenzübergängen und schließlich die Mehr-oder-weniger-Rekonstruktion der Autobahn Königsberg-Elbing, worauf wiederum Songal aufmerksam macht.

Sein Beitrag gibt auch Hinweise auf die Stellung Königsbergs in Moskau. Dort hatte im Oktober 1994 der Sicherheitsrat der Russischen Föderation ein "Konzept der Bundespolitik bezüglich der Region Königsberg der Russischen Föderation" angenommen, das weitgehend von den Regionalbehörden entworfen worden war und sich gegen die Auffassung des Vizepremiers Sergej Schachrai wandte, Nord-Ostpreußen eine in erster Linie militärische Rolle zu geben. Gouverneur Matotschkin schlug seinerzeit vor, in Moskau eine eigene, für Königsberg zuständige Stelle zu schaffen.

Wozu es schließlich kam, war ein bedeutungslos gebliebener Regierungsausschuß unter Leitung von Vizepremier Alexej Bolschakow. Immerhin verfügte der Gouverneur zu Hause über eine Behörde, mit der er direkt mit Polen und Litauen über Fragen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit verhandeln konnte. Weiter konnten Abkommen mit Drittstaaten geschlossen und den Euroregionen Baltica und Saule beigetreten werden.

Heute haben Polen und Litauen Generalkonsulate in Königsberg, Schweden, Dänemark und Island Honorarkonsulate. Deutschland sucht man vergeblich. Das nördliche Ostpreußen selbst ist in Danzig und Wilna vertreten; frühere Repräsentanzen in Brüssel und Bremerhaven wurden aufgegeben. Songal erwähnt, daß das Brüsseler Intermezzo von deutschen Beamten aus der EU-Kommission und der Ständigen Vertretung bei der EU unterstützt wurde. Ein Berater Gouverneur Matotschkins war der Ostpreuße Dr. E. Müller-Hermann. Abschließend regt Songal eine EU-Vertretung in Königsberg und die Teilnahme von Regionalvertretern in den Gremien des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens zwischen der EU und Rußland an.

Wojciech Zajaczkowski vom polnischen Außenministerium beeilt sich in seinem Beitrag, darauf hinzuweisen, daß Polen Königsberg als integralen Bestandteil Rußlands behandelt. Wollte er damit nochmals die Gerüchte nachdrücklich dementieren, die Anfang der neunziger Jahre Teilen des Warschauer Ministeriums ein lebhaftes Interesse am dritten Drittel Ostpreußens nachsagten? Wie dem auch sei, Warschau betrachtet die neue Woiwodschaft Ermland-Masuren als "natürlichen Partner für die Zusammenarbeit mit Königsberg". Auch die konsularische Vertretung Polens soll ausgeweitet werden.

Eine "differenzierte Integration" des nördlichen Ostpreußen in die EU regt Pertti Joenniemi an und verweist auf die Sonderrollen der finnischen Aaland-Inseln, die nicht Teil des Zollregimes der EU sind, sowie Grönland und Färöer, die beide (noch) zu Dänemark, aber nicht zur EU gehören. Nur bleibt Joenniemi bei Andeutungen. Führt man dieses Gedankenspiel zu Ende, so wäre die Vollmitgliedschaft des nördlichen Ostpreußen "ohne Rußland" in der EU eine faszinierende Option. Wie bei den genannten skandinavischen Beispielen wäre ein Teil eines Staats EU-Mitglied, während ein anderer, im Falle Rußlands jedoch der größere, außen vor bliebe.

Für Rußland ist der Gedanke attraktiv, da eine russische Vollmitgliedschaft in der EU nie in Frage kommen wird, man über Königsberg aber zumindest einen Fuß in der Brüsseler Tür und eine Hand am Fleischtopf hätte. Für Deutschland entstünde die Möglichkeit, auf Grund seiner Bedeutung innerhalb der EU wieder Einfluß in Nord-Ostpreußen zu gewinnen, während Rußland wegen fehlender Vollmitgliedschaft und Königsberg wegen fehlender Staatsqualität keine große Rolle im Ministerrat, der Kommission und dem Europäischen Parlament würde spielen können. Neben anderen geostrategischen Modellen, beispielsweise dem sagenumwobenen Verkaufsangebot Moskaus an die Bundesrepublik oder der Umwandlung der Oblast in eine rußlanddeutsche autonome Republik, ist diese Variante die subtilste, möglicherweise einzig gangbare.

Stephen Dewar möchte es zunächst mit einem Königsberg-Entwicklungsfonds, finanziert von den Staaten der Nördlichen Dimension, bewenden lassen, unternimmt aber Berechnungen, wie viel mehr Zuwendungen das Gebiet erhielte, wenn es Kandidatenstatus bekäme. Die EU-Subventionen stiegen um das sechzehnfache auf jährliche 23–56 Mio. Euro bis 2006. Auch eine faktische, nicht jedoch rechtliche Mitgliedschaft des nördlichen Ostpreußen hält Dewar für diskussionswürdig. Die Region übernähme dann Teile der Binnenmarktgesetzgebung. Der Idee eines Freihandelsabkommens hält er die fehlende Staatsqualität Königsbergs entgegen. Außerdem finde man dort zu wenig Exportgüter, die zum Freihandel geeignet seien: Rohstoffe würden auf dem Weltmarkt, also unabhängig von EU-Zöllen, veräußert, und sensible Güter wie Textilien und Stahl unterlägen ohnehin bilateralen Handelsregelungen.

Konkrete und aufeinander abgestimmte Handlungsempfehlungen gibt das eher nur beschreibende, stellenweise plaudernde Buch nicht. Was aus Königsberg nach der EU-Osterweiterung werden wird, wissen wir am Ende der Lektüre genauso wenig wie, was aus der Region werden soll. Wie es scheint, wird der Pilotregion wohl das Kunststückchen gelingen, eine Bruchlandung zu vollbringen, ohne je gestartet zu sein.

The EU & Kaliningrad. Kaliningrad and the Impact of EU Enlargement, foreword by The Rt. Hon. Christopher Patten, edited by James Baxendale, Stephen Dewar and David Gowan (Federal Trust), London 2000, £ 18,95