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24.03.01 Wir waren Wolfskinder! / Das Schicksal einer ostpreußischen Familie (Teil II)

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 24. März 2001


Wir waren Wolfskinder!
Das Schicksal einer ostpreußischen Familie (Teil II)
(Sieglinde Kenzler, geb. Liedke)

Zwei oder drei Tage habe ich noch die Umgebung abgesucht, ohne zu wissen, wo ich mich befand und in welche Richtung ich hätte gehen sollen. Die Verzweiflung und die Angst um meinen Bruder haben mich krank gemacht. Völlig erschöpft klopfte ich an eine Haustür. Eine Frau öffnete mir. Sie mußte meine Lage erkannt haben und nahm mich in ihr Haus. Obwohl wir uns sprachlich nicht verständigen konnten, erzählte ich ihr mein Leid, und sie hörte mir aufmerksam zu und war freundlich zu mir. Eine herbeigeholte Frau, die ein paar Brocken Deutsch sprechen konnte, gab mir zu verstehen, daß ich bei dieser Familie bleiben konnte. Sie pflegten mich gesund, trösteten mich über den Verlust meines Bruders und sprachen mir Mut zu. Ich war ihnen für diese Fürsorge dankbar und war froh, bei ihnen bleiben zu dürfen. Der Herbst rückte immer näher und die Nächte waren schon empfindlich kalt. Die Hoffnung, meinen Bruder zu finden, hatte ich noch nicht aufgegeben. Meine Fragen wurden jedoch immer mit "nein" beantwortet. Es ging das Gerücht um, daß viele Kinder von Wölfen gerissen worden seien. Allein der Gedanke daran, daß meinem Bruder etwas zugestoßen sein könnte, belastete mich sehr. Bis zum Frühjahr 1948 lebte ich bei dieser Familie in Kaslaruda. Ich lernte Russisch und mußte im Haushalt bestimmte Arbeiten übernehmen, wie Heizen, Brennmaterial besorgen und Wäsche waschen. Dann verzog die Familie nach Kaunas und nahm mich mit. Die Stadt gefiel mir gut. Die Arbeiten im Haushalt wurden größer und schwerer. Da wir in der Nähe des "Nemanus" wohnten, mußte ich die Wäsche, ob Sommer oder Winter im Neman – der oberen Memel – waschen und spülen. Eines Tages brach ich dabei in ein Eisloch ein. Dank der Hilfe unserer Schäferhündin Astra konnte ich mich aus dem Eisloch befreien. Auch die Betreuung des neu geborenen Säuglings mußte ich übernehmen. Da es keine Kinderwagen gab, mußte ich das Baby stundenlang an frischer Luft tragen. Trotzdem fand ich die Zeit, mich auf den Straßen und Märkten in Kaunas umzusehen. Zu dieser Zeit hielten sich noch viele deutsche Kinder in Kaunas auf, die hier bettelten. Meinen Bruder kannte jedoch keiner, soviel ich auch diese Kinder befragte.

1953 zog meine Familie nach Moskau in ihre alte Heimat zurück. Ich sollte mit ihnen fahren, blieb aber in Kaunas, in dem Bewußtsein, hier der Heimat näher zu sein. Im Laufe der Jahre hatte ich viele Freunde gefunden, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen. Auch jetzt bot sich ein älterer litauischer Herr an, den ich schon länger kannte, zu ihm zu ziehen und mit seiner Nichte Aldona, die mit mir etwa im gleichen Alter war, zu wohnen. Ich nahm dieses Angebot dankend an.

Eine andere litauische Nachbarin arbeitete als Meisterin in der Pharmazeutischen Fabrik "Sanitas" in Kaunas. Sie fragte mich, ob ich nicht auch in der Fabrik arbeiten wolle? Ich wurde dem Direktor vorgestellt und mußte ihm in Kürze über mein Leben berichten. Eine Schwierigkeit gab es schon noch. Ich hatte keine Papiere, keinen Paß, keine Geburtsurkunde, rein gar nichts, außer einem Stückchen Papier mit den Angaben zu meiner Person. Dieses Papier mußte ich in bestimmten Abständen bei den Behörden in Kaunas verlängern lassen. Ich wurde mit dieser Bescheinigung in der Fabrik "Sanitas" in der Ampullen-Abteilung eingestellt. Der Direktor gab mir die Empfehlung, mir einen Ausweis zu besorgen, wenn ich in dem Betrieb bleiben wollte. Das bedeutete, daß ich die sowjetische Staatsangehörigkeit annehmen mußte. So wurde ich Bürgerin der Sowjetunion.

Die Arbeit in der Fabrik bereitete mir viel Freude. Ich bekam für meine Tätigkeit Lohn. Ich konnte davon leben und, wenn ich sparsam war, mir auch ein paar Sachen kaufen. In der Ampullenhalle, in der ich tätig war, habe ich schnell neue Freunde gefunden. Alles Litauerinnen. In Gesprächen mit ihnen wurde mir oft die Frage gestellt, wo denn meine Verwandten wären, Geschwister, Großeltern usw. Ich berichtete ihnen über unser Schicksal. Sie ermutigten mich weiterzusuchen. Da ich in Kaunas keinen Erfolg hatte, schrieb ich an das Rote Kreuz/Roten Halbmond in Vilnius und in Moskau. Wohin ich auch schrieb, immer bekam ich die Antwort: "Name nicht gemeldet, unbekannt!" Ich war verzweifelt! Eine litauische Arbeitskollegin hörte davon, daß ich mit der Suche nach meinen Geschwistern keinen Erfolg hatte. Sie gab mir die Adresse vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes in Hamburg, Blomkamp 1 und sagte: "Versuche es!" Ich versuchte mein Glück und schrieb nach Hamburg.

Der Sommer verging, der Winter kam und mit ihm das Weihnachtsfest 1954. Der Winter in diesem Jahr war besonders kalt. Klirrender Frost und viel Schnee. Es war Heiligabend. Die Litauer feiern das Weihnachtsfest am 24. und 25. Dezember. Der Opa ging in die Kirche zur Messe, Aldona und ich richteten das Weihnachtsfest aus. Wir schmückten das kleine Bäumchen, deckten den Tisch und warteten auf den Opa. Nachdem wir alle am Tisch saßen, aßen und Tee tranken, klopfte es an der Wohnungstür. Ich öffnete die Türe. Ein Postbote stand davor. "Wohnt hier eine Bürgerin Liedke?" fragte er. Ich bestätigte dies, und er kam ins Zimmer und übergab mir einen Einschreibebrief aus Hamburg. Wir luden ihn zu einer Tasse Tee ein. Ich sehe diesen Postboten noch heute, wie er vor mir stand. Seinen schwarzen langen Mantel, seine Pelzmütze tief ins Gesicht gezogen und die dichten Augenbrauen vom Reif bedeckt. Dieser Brief war schon eine große Weihnachtsbotschaft. Ich zögert, ihn zu öffnen. Was wird er enthalten? Ich öffnete und las die frohe Botschaft. Das Rote Kreuz aus Hamburg teilte mir mit, daß meine Geschwister Rudolf, Waltraud und Ulrich leben und im Kinderheim Kyritz (DDR) wohnen. Meine Großeltern und Tanten leben in der BRD. Das war mein größtes und schönstes Weihnachtsgeschenk, ich weinte vor Glück und Freude. Später bekam ich Post von meinen Angehörigen aus Deutschland. Mein älterer Bruder teilte mir mit, daß Irmgard noch in Litauen sein müßte und ich sie suchen solle. Ja, wo sollte ich sie suchen? Sie war ja nirgendwo polizeilich gemeldet.

Für mich stand jetzt fest, alle Unterlagen für die Ausreise nach Deutschland vorzubereiten. Wie ein riesiger Berg türmten sich die Schwierigkeiten vor mir auf. Durch die Unterstützung meines Bruders Rudolf, der Leitung des Kinderheimes in Kyritz und nicht zuletzt durch die Hilfe vieler netter Menschen aus Kaunas gelang es mir im März 1956, die Ausreise nach Deutschland zu bekommen. Im Sommer 1955 nutzte ich meinen Urlaub und begann mit der Suche nach meiner Schwester. Täglich fuhr ich mit dem Bus übers Land und befragte in den Dörfern die Bauern. Gemeindevertreter und Pastoren, ob sie ein deutsches Mädchen kennen und ob sie wüßten, wo sie wohnt? Die Antwort war immer nein! Ich war mehr als verzweifelt. Ich konnte mich auch nicht mehr erinnern, wo 1947 der Bauer mit dem Pferdewagen meine Schwester mitnahm. So blieb mir nichts weiter übrig, als täglich weiter zu suchen.

Mein Urlaub ging zu Ende, und ich hatte nichts erreicht. Ich war müde und wollte aufgeben. Meine Freundinnen und Nachbarn machten mir aber Mut und sagten: "Versuch’s noch einmal!" So fuhr ich am nächsten Tag wieder mit dem Bus übers Land und stieg einfach in einem Dorf aus. Meinem Gefühl folgend, suchte ich ein paar Bauernhöfe auf und fragte eine alte Bäuerin, ob sie mir etwas zu Trinken geben könnte, da es sehr warm war und ich Durst hatte. Mit ihr ins Gespräch gekommen, gab sie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit einen Tip. Ich suchte diesen Bauernhof auf und fand meine Schwester Irmgard. Wie ich sie dort vorgefunden habe und unter welchen Bedingungen sie dort gelebt hat, kann und möchte ich nicht niederschreiben. Nun eins: Ein Bett hatte sie nicht gehabt. Der Heuboden über den Ställen war ihr Nachtquartier. Es war schwierig, sie zu überzeugen, daß ich tatsächlich ihre Schwester sei. Sie sagte: "Es kann ja gar nicht sein, daß noch alle leben." Ihr wurde erzählt, uns hätten die Wölfe ...! Ich zeigte ihr Familienfotos, die ich von unseren Angehörigen aus Deutschland geschickt bekommen hatte, und wir fielen uns glücklich in die Arme.

Irmgard nahm ich mit nach Kaunas. Der Bauer wollte sie zwar nicht gehen lassen, und es hat sehr unangenehme Gespräche mit ihm gegeben. Für die vielen Jahre ihrer schweren Arbeit auf dem Bauernhof wurde sie dann mit zehn Eiern, einem Stück Speck und mit der Bemerkung entlohnt: "Sie kann froh sein, daß sie noch lebt." Die anderen Worte möchte ich mir ersparen. In Kaunas fühlte sie sich wohl bei uns. Mit der Verständigung klappte es auch ganz gut. Meine Schwester sprach jetzt litauisch und ich russisch, unsere eigentliche Muttersprache hatten wir inzwischen verlernt.

Jetzt begannen die Vorbereitungen für die Ausreise meiner Schwester nach Deutschland. Meine Erfahrungen in diesen Angelegenheiten halfen uns dabei. Im März 1956 war es dann soweit. Ich durfte nach Deutschland ausreisen. Für meine Schwester besorgte ich noch eine Tätigkeit als Küchengehilfin in einem Restaurant in Kaunas. So wußte ich, daß sie warmes Essen bekommen würde, und wohnen durfte sie bei Aldona (der Großvater war inzwischen verstorben). 1957 kam auch sie nach Deutschland zurück.

Das Kinderheim "Ernst Thälmann" in Kyritz im Land Brandenburg wurde unsere neue Heimat. Mein Bruder Ulrich lebte noch in diesem Heim und besuchte dort die Schule. Waltraud und Rudi befanden sich in der Berufsausbildung. Unser Wiedersehen war unbeschreiblich schön und ergreifend. Wir hatten uns viel zu erzählen. So erfuhr ich von Uli, warum wir uns in Litauen verloren hatten. Meine Rückkehr von dem Bauern hätte ihm zu lange gedauert, und so ist er zu Waltraud zurückgegangen. Beide machten sich auf den Weg, um mich zu suchen, und da sie mich nicht fanden, wollten sie nach Wehlau zurück in der Hoffnung, mich dort zu finden. So kamen sie bis nach Gumbinnen und wurden von einem russischen Offizier in ein Waisenhaus gebracht. Im Oktober 1948 setzte sich dann der Zug in Bewegung, der sie nach Deutschland in das Auffanglager Eggesin brachte. Hier begegneten sie auch meinem Bruder Rudolf. Auch er hatte seinen Bauern verlassen müssen und wurde nach Deutschland gebracht. Vor hier aus erfolgte die Verlegung in das Kinderheim Pinnow bei Angermünde und 1949 die Verlegung in das Kinderheim "Ernst Thälmann" in Kyritz.

Ich war froh, wieder bei meinen Geschwistern zu sein. Es war jedoch eine große Umstellung für mich, da ich nur noch wenig deutsch sprechen konnte. Für mich begann eine schöne, aber auch sehr anstrengende Zeit. Ich bekam vom Heimleiter eine Eingewöhnungszeit und mußte mich dann für eine  Berufsausbildung entscheiden. Dolmetscher oder Erzieherin. Ich entschied mich für meinen Wunschberuf: Erzieherin. Im Kinderheim lernte ich meinen Mann kennen. Er kommt auch aus Ostpreußen, aus Kalaushöfen im Kreis Samland. Nachdem ich die deutsche Staatsangehörigkeit wiedererlangt hatte, haben wir geheiratet, unsere Familie gegründet und sind nach Oranienburg gezogen.

Nach dem Fall der Mauer war es uns möglich, nach vielen Jahren wieder in unsere alte Heimat zu reisen. Wir flogen von Berlin nach Vilnius. Mit dem Bus ging es dann über Kaunas nach Königsberg. Wir besuchten die Kurische Nehrung und hielten uns an der Memel auf. Die Herrlichkeit der Landschaft, der Dörfer und der Städte habe ich erst auf dieser Fahrt wahrgenommen. 1947 hieß es nur: "Überleben!" Seit 1991 fahren wir fast jährlich nach Ostpreußen, tanken Heimatluft, verweilen an den Stellen, wo meine Mutter und die Mutter meines Mannes beerdigt sind, legen ein paar Blümchen nieder und planen bereits die nächste Fahrt nach Ostpreußen. Ein Teil meiner Geschwister und unsere Kinder schließen sich immer gern unseren Fahrten an.

Vor Ort erinnere ich mich an Dinge, die uns damals passierten. Unsere Kinder hören dann aufmerksam zu. Auch Irmgard hat bereits an einer Reise teilgenommen. 1957 erhielt sie ihre Ausweispapiere und konnte nach Deutschland zurückkehren.

Am Ende meines Berichtes möchte ich nicht versäumen, mich bei den litauischen und russischen Menschen zu bedanken, die sich unser in dieser schweren Zeit an-genommen und uns so versorgt haben, daß wir überleben konnten. Schluß