19.04.2024

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31.03.01 Jürgen Liminski im Gespräch mit Frankreichs ehemaligem Außenminister Jean Francois-Poncet

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 31. März 2001


Gedanken zur Zeit:
Die Grenze zwischen Nationalismus und Patriotismus
Jürgen Liminski im Gespräch mit Frankreichs ehemaligem Außenminister Jean Francois-Poncet

Die Nationalstolz-Debatte in Deutschland hat in dieser Woche einen neuen Höhepunkt erreicht. Der Bundestag nahm sich des Themas an. Zwar waren die Matadoren nach den Landtagswahlen etwas ermüdet und lustlos, aber das Thema ist emotional hoch befrachtet und kann schon deshalb in einer Stimmungsdemokratie weder links noch rechts liegengelassen werden. Beide großen Parteien haben versucht, es zu instrumentalisieren. Die SPD, indem sie alles, was sich politisch rechts von der Mitte bewegt, als extremistisch einstuft. Die CDU, indem sie die SPD indirekt als "vaterlandslose Gesellen" darstellen möchte.

Für Außenstehende muß die Debatte grotesk wirken. Briten und Franzosen haben klare Vorstellungen von der Nation. "Nation ist die Gemeinschaft der Toten, der Lebenden und der Künftigen", meinte schon vor über zweihundert Jahren der britische Konservative Edmund Burke.

Das macht die Sache für die Deutschen nicht einfacher. Bei den Künftigen ist naturgemäß unbekannt, ob man einmal auf sie wird stolz sein können. Bei den Lebenden ist auch nicht so ohne weiteres absehbar, wie viele um das Wohl des Volkes bemühte Staatsmänner sich unter ihnen befinden. Und bei den Toten kann man in etlichen Fällen froh sein, daß sie nicht mehr sind, was sie waren.

Soweit die Politik. In der Wissenschaft und vor allem in der Musik sieht es anders aus. Da erweist sich das Volk der Dichter, Denker, Forscher und Komponisten in Deutschland durchaus des Stolzes würdig.

Aber ist es nicht etwas anachronistisch, im Europa von heute mit patriotisch aufgeblähter Brust in die Zukunft zu schauen? Wem gehören Goethe, Beethoven, Kant, Mozart – oder auch Victor Hugo, Voltaire und Balzac? Ist der Nationalstolz nicht ein Gefühl der Vergangenheit? Sind französische Politiker zum Beispiel stolz darauf, Franzosen zu sein?

Für den ehemaligen Außenminister Frankreichs und jetzigen Senator Jean Francois-Poncet ist das keine Frage. Im Gespräch mit dieser Zeitung meint er dazu unumwunden: "Ja, warum nicht? Natürlich kann man der französischen Nation viele Vorwürfe machen, aber auch viel Gutes kann man vorlegen. Ich meine, Frankreich und Deutschland haben viel zur Weltzivilisation und zur Weltkultur beigetragen."

"Aber", so präzisiert er, "nationaler Stolz heißt natürlich nicht Nationalismus". Der sei in der Tat "anachronistisch und überholt. Für unsere Nationen ist das ein schädliches Gefühl". Anders verhalte es sich mit Patriotismus. Der sei auch nicht abhängig von der Größe des Landes. "Wenn das der Fall wäre, dann würde man Patriotismus mit Machtwillen gleichstellen. Patriotismus ist die Liebe zum Vaterland, ein Gefühl der Zugehörigkeit". Das habe mit Größe nichts zu tun. Deshalb könnten auch Luxemburger und andere stolz sein auf ihr Land.

Der Diplomat und Wissenschaftler Ernest Renan hat vor 130 Jahren in der Nationalversammlung gesagt, die Nation sei ein tägliches Plebiszit. In Deutschland wird das zur Zeit praktiziert. Jeden Tag gibt irgend ein Prominenter kund, wie patriotisch er sei. Der erfahrene Politiker Francois-Poncet, dessen Vater schon Diplomat war – unter anderem als Botschafter in Berlin – glaubt nicht, daß man damit junge Leute, junge Europäer von heute beeindrucken könne. "Die Brust aufzublasen in der heutigen Welt für Länder wie unsere, für Deutschland oder Frankreich, hat keinen Sinn. Man irrt, wenn man glaubt, daß die jungen Menschen damit anzuziehen seien oder daß man sie mit solchen Gefühlen verführen kann." Sie seien klüger als solche Parolen. Das könne er für Frankreich jedenfalls versichern. Die Landtagswahlen vom vergangenen Wochenende zeigen das auch für Deutschland.

Dennoch sei es noch ein weiter Weg zu einem europäischen Patriotismus, zu einem täglichen Plebiszit für Europa. Man sollte Patriotismus und europäische Integration nicht als Gegensatz sehen. "Zwischen diesen Begriffen, ich würde auch sagen, zwischen diesen Gefühlen gibt es keinen Gegensatz." Mehr noch: Jeder sollte "verstehen, daß Europa im Gegenteil der einzige Weg ist, um unseren europäischen Ländern einen Sitz am Tisch der Großmächte von morgen zu verschaffen. Der einsichtige Patriotismus muß ein föderales Europa anstreben". Ob es je einen europäischen Patriotismus geben kann? Francois-Poncet: "Ich meine ja, aber bitte! Es hat viele Jahrhunderte gebraucht, bevor ein nationaler Patriotismus erschien. Mit Europa wird es, denke ich, schneller gehen. Es geht ja alles schneller in der heutigen Welt. Aber etwas Zeit wird das schon in Anspruch nehmen. Das hängt natürlich von den Staatsmännern, wahrscheinlich hauptsächlich in Frankreich und Deutschland, ab, ob sie das Notwendige tun, um diese Entwicklung zu beschleunigen."

Französische Präsidenten beenden ihre Ansprachen traditionell mit dem patriotischen Wunsch "vive la france". Einer von ihnen, der verstorbene Francois Mitterrand, hat in seiner letzten Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg sogar vor einem aufkommenden Nationalismus in Europa gewarnt. Nationalismus bedeute Krieg, sagte Mitterrand. Die Wahrheit dieses Wortes wird derzeit auf dem Balkan demonstriert. Nur, wo ist die Grenze zu ziehen zwischen Nationalismus und Patriotismus? Für Francois-Poncet liegen die Konzepte weit auseinander: "Ich würde sagen, daß Patriotismus und Nationalismus weit voneinander entfernt sind. Patriotismus ist ein gesundes Gefühl. Nationalismus ist eine gefährliche Perversion des Patriotismus, eine Verirrung des 19. und 20. Jahrhunderts, und es ist sehr wahrscheinlich so, daß der Balkan geistig noch im 19. oder im 20. Jahrhundert wohnt. In unserem Jahrhundert ist er jedenfalls noch nicht angekommen."

Bei anderen patriotischen Völkern sei die Geschichte weitergegangen. Etwa bei den Bretonen oder den Korsen. "In Frankreich hat die Geschichte Nation und Staat gleichgestellt." Deshalb seien Bretonen und Korsen keine eigenständigen Nationen. "Die Antwort könnte jedoch anders lauten, wenn die Geschichte anders abgelaufen wäre. In anderen Ländern könnte man auf den Gedanken kommen, daß in einem Staat mehrere Nationen nebeneinander bestehen. Mit der europäischen Föderation wird es so sein. Ja, es kann nicht anders sein, als daß Europa von mehreren Nationen gebildet werden wird."

Kleine, eigenständige Nationen bedürften der Hilfe der Europäer. Beispiel Balkan. Da sei ein kleines Land, eine kleine Nation, Mazedonien, die um Hilfe schreie. Hier sollten, so der ehemalige Außenminister, große Nationen wie Frankreich und Deutschland zur Seite stehen. Francois-Poncet: "Ich meine, die Nato muß eingreifen. Wenn die Amerikaner nicht mitmachen, müssen das Frankreich und Deutschland tun. Warum? Weil sonst das schwankende Gleichgewicht auf dem ganzen Balkan gestört werden kann. Mit den Grenzen in dieser Gegend darf man nicht mehr spielen."