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31.03.01 Öffentlicher Katzenjammer

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 31. März 2001


Öffentlicher Katzenjammer
Klaus Schroeder über den "Preis der Einheit"

Die Behauptung am Beginn klingt dramatisch: Die Deutschen in Ost und West seien sich fremder als je zuvor, mehr als zehn Jahre nach der euphorischen Vereinigung werde die sachliche Bilanz überschattet von öffentlichem  Katzenjammer. Stockt der Vereinigungsprozeß? "Kann doch nicht zusammenwachsen, was zusammengehört?" fragt Klaus Schroeder, ein ausgewiesener Experte für die DDR-Geschichte und die Umwandlungsprozesse in Deutschland nach 1989, konfrontiert die schlechte Stimmung mit gesichertem Zahlenmaterial. Sein Buch "Der Preis der Einheit" sei "Pflichtlektüre für alle, die über die deutsche Wirklichkeit Bescheid wissen wollen", fordert der Klappentext. Man mag dem nicht widersprechen.

Zum Verständnis des Vereinigungsprozesses, seiner Erfolge und Probleme, der "aktuellen objektiven und subjektiven Lage", schlägt Schroeder den Bogen von der gemeinsamen nationalen Vorgeschichte über die getrennten Wege in Ost und West. Er zeichnet akzentuiert die verschiedenen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklunglinien in Ost und West nach. Schroeder macht an unzähligen Beispielen deutlich, wie weit sich die beiden Gesellschaften in den vierzig Jahren der Teilung voneinander entfernt hatten. Manches Mißbehagen der Deutschen läßt sich auf diese getrennte Geschichte zurückführen. Schroeder verweist auf die überkommenen Unterschiede in der Sozial- und Alltagsstruktur. Die alte Bundesrepublik war sozial und kulturell eine mittelschichtdominierte, die DDR eine verproletarisierte Gesellschaft. Eine hochgradig individualisierte und pluralisierte, inzwischen substantiell in den Westen integrierte Gesellschaft stieß seit dem Freudentaumel in der Nacht des 9. November 1989 auf ein institutionell sowjetisiertes, im mentalen Kern typisch deutsches Gemeinwesen." Dieser Zusammenprall der Kulturen mußte zu Irritationen führen.

Die DDR verlor den Wettbewerb auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet. Das war der Grund für ihren Zusammenbruch. Außerordentlich materialreich ist Schroeders Vergleich der "kapitalistischen Marktökonomie" mit der sozialistischen Planwirtschaft. Der Autor erinnert an die katastrophale wirtschaftliche Lage der DDR in den Jahren vor ihrem Ende. Die damalige Arbeitsproduktivität etwa lag im Vergleich zur Bundesrepublik bei 13 bis 30 Prozent je Erwerbstätigenstunde. Die Nettolöhne erreichten allenfalls 40 Prozent des westdeutschen Niveaus. Allein durch Vollbeschäftigung der Frauen und durch höhere Wochenarbeitszeit schafften DDR-Haushalte eine Kaufkraft, die bei etwa 50 Prozent bundesdeutscher Haushalte lag. Das private Wohlstandsniveau in der DDR Ende der achtziger Jahre vergleicht Schroeder mit dem in der Bundesrepublik um die Mitte der fünfziger Jahre.

Es gab 1990 "zwei fundamental verschiedene deutsche Teilgesellschaften". Der Autor breitet wenig zur Kenntnis genommene Fakten über den Vereinigungsprozeß aus. Er rechnet vor, wie sich im Osten der Lebensstandard in großem Tempo den westlichen Verhältnissen angeglichen hat; Schroeder spricht von einer "Wohlstandsexplosion". Die Bürger in den neuen Bundesländern verfügen heute über einen durchschnittlichen Lebensstandard wie die Westdeutschen 1992, wobei die Angleichung der unteren und mittleren sozialen Schichten nahezu abgeschlossen ist. Die Kosten zwischen 1990 und 1999 lagen allein für sozialpolitisch motivierte Maßnahmen bei 834 Milliarden Mark. Selbst die heute als "arm" Definierten in den östlichen Bundesländern leben materiell immer noch besser als die Durchschnittshaushalte 1989 in der DDR. Gerade die Rentner im Osten sind klare Gewinner der Einheit.

1,6 Billionen Mark flossen von 1991 bis 1999 in den Osten und dienten vor allem zur Modernisierung der Infrastruktur. Mehr als ein Viertel allerdings der gigantischen Summe gingen durch Aufträge an westdeutsche Firmen wieder zurück. Und nur ein Drittel der Gelder diente dem investiven Bereich. Im Osten brach die Industrie zusammen, die Beschäftigtenzahlen fielen von 9,7 Millionen auf 6,7 Millionen. Langzeitarbeitslosigkeit von 15 bis 20 Prozent und ein weiteres Drittel in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind normal. Sehr viele Fachkräfte sind in den Westen abgewandert. Schroeder nennt deshalb die schnelle materielle Angleichung einen Prozeß "ohne ökonomisches Fundament". Dennoch spricht er nicht von einer nachhaltig gestörten Wirtschaftslage. Der Vereinigungsprozeß könne vielmehr auf vielen Feldern als abgeschlossen betrachtet werden, zukünftig müßten globale Herausforderungen gemeinsam gemeistert werden. "Viele in der alten Bundesrepublik erworbene Verhaltensweisen werden dabei auf Dauer ebenso wenig Bestand haben können wie die aus der untergegangenen DDR." Um die Zukunft zu meistern, dazu bedürfe es freilich einer gemeinsamen Identität – und an der mangele es gegenwärtig. Schroeder stellt zwar die nationalen "Befindlichkeiten" stets in einen "objektiven Zusammenhang", und seine Erkenntnis heißt: "Tatsächlich ist die Lage im vereinten Deutschland erheblich besser als die öffentlich verbreitete Stimmung." Doch eine Mißstimmung ist nichts Nebensächliches. Der Autor wendet sich also auf die "Identitäten, Einstellungen und Befindlichkeiten". Als Erklärung für manches Unbehagen verweist er auf das Nachwirken einerseits liberaler, andererseits sozialistischer Sozialisation. Also doch: Ein Staat – zwei Gesellschaften? Bei drei Vierteln der Ostdeutschen konstatiert Schroeder Zukunftsangst, und die Verklärung der DDR steige im gleichen Maße wie die Sehnsucht nach sozialer Geborgenheit.

Während im Osten in der "Wendezeit" eine Fehlwahrnehmung des Westens herrschte, überzogene Erwartungen die Folge waren und nun die PDS eine "Ostalgie" schürt, gibt es auch im Westen Miesmacher. Diejenigen vor allem, die an der deutschen Teilung zu ihrer geschichtsphilosophischen Beruhigung festhalten wollten, mögen die realen Erfolge nicht sehen. Die Ost-Schriftstellerin Helga Schubert schrieb schon 1990: "Ich möchte nicht den nächsten Sozialismus-Testlauf in diesem wirtschaftlich ruinierten Land absolvieren, während einige gebildete westeuropäische Zuschauer in Norditalien unter einer Pinie lagern, ihren Grappa trinken, mir Ratschläge geben und mich bedauern, daß ich es in ihren Augen wieder nicht richtig angestellt habe, ihre Utopie zu verwirklichen."

Klaus Schroeder ist optimistisch. Nach seiner Überzeugung durchlaufen die neuen Bundesländer eine Phase wie die Bundesrepublik in den fünfziger Jahren. Auch damals fanden die Bürger durch die Vorzüge der sozialen Marktwirtschaft allmählich zur Demokratie. Schroeders faktenreiches sowie stets behutsam und ausgewogen kommentierendes Werk zählt zu dem Besten, was über den Wiedervereinigungsprozeß Deutschlands geschrieben worden ist. Peter D. Krause

Klaus Schroeder: Der Preis der Einheit, Carl Hanser Verlag, München 2000, 272 Seiten, 36 Mark, ISBN 3-446-19940-3