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05.05.01 Ostpreußen Ende 1944: Ein 15jähriger erlebt die Schrecken von Flucht und Terror

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. Mai 2001


Ostpreußen Ende 1944:
»Zivilisten haben nichts zu befürchten«
Ein 15jähriger erlebt die Schrecken von Flucht und Terror
von Klaus Reinhardt

Ende Mai 1944 wurde ich mit noch sechs gleichaltrigen Jungen und zwei Mädchen aus der Schule in Steinhagen entlassen. Ich habe sofort die landwirtschaftliche Lehre auf meinem elterlichen Hof in Steinhagen begonnen. Nach dem Wunsch meines Vaters sollte ich zwei Jahre auf dem elterlichen Hof in Steinhagen und das letzte Jahr auf dem Hof von Robert Gollub in Friedrichshof, einem weitläufigen Verwandten von uns, lernen.

Über die täglich anfallenden Arbeiten mußte für die landwirtschaftliche Schule genau Bericht geführt werden, den wir dann in der Berufsschule Goldap vorlegen mußten. Der Unterricht hat aber nur ein paarmal stattgefunden, dann wurde der Berufsschullehrer zur Wehrmacht eingezogen. Bis zur Flucht im Oktober 1944 sollte kein Unterricht mehr stattfinden. Nur noch einmal, im Sommer 1944, wurde die ganze Klasse zur Betriebsbesichtigung auf den landwirtschaftlichen Lehrhof Ehrenberg in Winterberg beordert.

So verging ein Tag nach dem anderen, bis man gemerkt hat, daß die Front immer näher kam. Im Juni 1944 mußten sich alle Männer vom 17. bis zum 60. Lebensjahr in Goldap zum Stellungsbau nach Polen melden. Dafür mußte sich auch mein Vater mit allen übrigen Männern des Ortes, die noch nicht Soldat waren, zur Verfügung stellen. Ebenso mußten alle ausländischen Arbeitskräfte, die im Ort beschäftigt waren, mit zum Stellungsbau. Am Schluß waren in unserem Dorf Steinhagen kaum noch männliche Arbeitskräfte vorhanden. Die paar Landwirte, die aus gesundheitlichen oder Altersgründen noch da waren, haben sich mit Rat und Tat um ihre Nachbarn gekümmert.

So haben trotz erheblichen Arbeitskräftemangels die Frauen und die Jugendlichen die Ernte 1944 unter großen Anstrengungen eingebracht. Anfang Juli 1944 bekamen wir, der Jahrgang 1929, die Aufforderung, uns an einem Sonntag in Goldap in der Volksschule zu einer Vormusterung für die Wehrmacht einzufinden. Hier wurden wir, die 15jährigen, von Wehrmachtsärzten gemustert und gleich bestimmten Waffengattungen zugeteilt.

Etwa 14 Tage danach bekamen alle Jugendlichen bis einschließlich Jahrgang 1930 Bescheid, daß sie sich an einem bestimmten Sonntag in der Infanterie-Kaserne in Goldap mit Gepäck und Marschverpflegung zum Stellungsbau nach Litauen bereitzustellen haben. So sind wir zu besagtem Termin in Goldap in der Kaserne in großer Zahl zusammengekommen, um nach Litauen transportiert zu werden. In letzter Minute hat jedoch unser Bürgermeister und Ortsbauernführer Max Columbus bei der Kreisbauernschaft erreicht, daß drei Jugendliche aus der Gemeinde Steinhagen wegen unbedingter Unabkömmlichkeit in der Landwirtschaft nicht mitmußten, darunter war auch ich. So konnte ich dann wieder heimfahren und habe, so gut es ging, weiter auf unserem Hof gewirtschaftet. Ab und zu kam Vater für ein paar Tage nach Hause, um nach dem Rechten zu sehen.

Nachts wachten wir oft auf, wenn russische Flugzeuge über unser Dorf hinwegflogen. Man konnte sie am Motorengeräusch erkennen. Des öfteren warfen sie Flugblätter ab, die man bei Auffinden abliefern sollte. Auf diesen Flugblättern war zu lesen, daß die Zivilbevölkerung von der russischen Armee beim Einmarsch in Ostpreußen nichts zu befürchten hätte. Man solle die Flugblätter aufheben, um sie bei Einmarsch der Russen vorzeigen zu können.

Eines Nachts sahen wir im Norden ein Feuermeer am Himmel. Tags darauf erfuhren wir, daß Gumbinnen von feindlichen Flugzeugen bombardiert worden war und daß es viele Tote gegeben hatte. Auch sahen wir am Himmel den Feuerschein, als Königsberg bombardiert wurde – am 29. August 1944.

Kurze Zeit nach dem 20. Juli 1944, als die Front immer näher rückte, waren bereits die ersten Flüchtlinge aus den grenznahen Ortschaften des Kreises Goldap in Steinhagen und den umliegenden Gemeinden eingetroffen. Sie blieben aber nur kurze Zeit und sind, als die Front sich stabilisiert hatte, wieder in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt.

Etwa im August 1944 hieß es dann, daß Frauen und Kinder, denen kein eigenes Fuhrwerk zur Verfügung steht, sich nach Sachsen oder Thüringen evakuieren lassen können. Dieses Angebot haben einige Steinhagener Familien angenommen und sind dort hingefahren, wo ihre Nachkommen zum Teil heute noch leben. Für diejenigen, die noch dablieben und kein Fuhrwerk besaßen, wurde bestimmt, wer wen im Falle einer schnellen Flucht der Bauern mitnehmen mußte.

Eines Tages hieß es, daß der Wald von Fritz Plogas aus Steinhagen zur Sperrzone erklärt worden sei. Hier wurde ein kleines Nachschublager für Munition und Treibstoff errichtet. Nur die Straße nach Goldap, die durch jenen Wald verlief, blieb offen.

Zu dieser Zeit hat man sich weniger um Sachen gekümmert, die um einen herum geschehen sind. Hauptsächlich wurde auf den Kanonendonner gehört – ob er wohl näherkommt.

Als die Getreideernte eingebracht war, bestellten wir die Äkker für die Wintersaat. Auch das bekamen wir termingerecht hin, so daß die Wintersaat bis zum September im Boden war.

Dann kam die Kartoffel-, Rüben- und Wrukenernte an die Reihe. Auch diese wurde mit den paar Arbeitskräften, die noch im Dorf waren, rechtzeitig zu Ende gebracht. Ich habe dann gleich angefangen, die Winterfurche zu pflügen, damit man im nächsten Frühjahr das Sommergetreide und die Hackfrucht hätte säen und setzen können.

Jeder ahnte, was auf uns zukommen wird, doch die wenigsten wollten es wahrhaben.

Anfang  Oktober kam mein Vater vom Osteinsatz, wie es sich damals nannte, nach Hause. Zu dieser Zeit war der ganze Ort voll von ausländischen Arbeitern, die zum Stellungsbau in den Ostkehmer Bergen eingesetzt waren.

Jeden Tag zogen nun Flüchtlingstrecks durch unser Dorf, die wir von unserem Hof aus gut beobachten konnten. Es waren auch viele Polen und Russen darunter, die vor der russischen Armee davonliefen. Nun machte man sich auch bei uns Gedanken darüber, daß wir wohl die nächsten sind, die flüchten müssen. Es wurde alles für die Flucht vorbereitet, so daß man beim Räumungsbefehl nur noch aufladen und wegfahren konnte. Vieles, was wir entbehren konnten, wurde vergraben, einiges liegt bestimmt heute noch im Boden.

Zwischenzeitlich wurde uns mitgeteilt, daß im Falle einer Evakuierung die Bevölkerung der Gemeinde Steinhagen nach Krausen im Kreis Rößel müsse, wo alles vorbereitet sei, was sich dann im nachhinein auch bewahrheitet hat.

Am 19. Oktober – ein älteres Ehepaar Riech kam, um uns zu helfen – fingen wir noch an zu dreschen, vor allen Dingen Hafer für die Pferde. Etwa um 15 Uhr kam unser Nachbar Hermann Dzwillo zu uns und teilte uns mit, daß der Packbefehl ergangen sei und alles zur Abfahrt bereit sein müsse. Mein Vater, der auf der Dreschmaschine stand und eingelegt hat, sprang vom Dreschkasten, gab mit dem Fuß dem Treibriemen ein Stoß, so daß er absprang. So war unser letzter Drusch in Steinhagen beendet.

Sofort ging mein Vater in den Schweinestall, holte ein Schwein heraus, das gleich geschlachtet wurde. Das Fleisch kam in eine Holztonne und wurde eingesalzen. Meine Mutter hat gleich ein paar Gänse, die schon genudelt wurden, geschlachtet, gerupft und ausgenommen. Sie wurden auch eingesalzen und auf die Flucht mitgenommen.

Am 20. Oktober, etwa um zehn Uhr, erreichte uns schließlich der Befehl zur Räumung. Bürgermeister Columbus wollte, daß die ganze Gemeinde Steinhagen zusammen wegfährt und sich deshalb zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer verabredeten Stelle im Ort sammelt, um dann gemeinsam aufzubrechen.

Wie sich jedoch herausstellen sollte, war das leider unmöglich: Die ganze Dorfstraße quoll über von Flüchtlingen, die aus Richtung Goldap kamen. Außer- dem standen zwischendurch viele Militärfahrzeuge. So hatten schon einige Bauern Probleme, ihre  eigenen Fuhrwerke zusammenzuhalten, wenn sie auf die Hauptstraße heraufwollten. Einige Nachbarn taten sich zusammen und halfen sich gegenseitig.

Wir sind an besagtem 20. Oktober 1944 etwa um zwölf Uhr zusammen mit unseren Nachbarn Dzwillo und Dunkel von unseren Höfen gefahren. Der Treck ging anfangs sehr langsam voran, hauptsächlich an den Bergen bei Rogahlen. Viele hatten ihre Fuhrwerke überladen, so daß die Pferde sie nicht zwangen, und es mußte vorgehängt werden. Bei ande- ren gingen die Wagen kaputt.

Am 20. Oktober vormittags, als wir noch zu Hause waren, hörten wir westlich von uns große Explosionen. Wir hatten schon die Befürchtung, daß der Russe durchgebrochen ist und uns eingekesselt hat. Als wir dann nach Rogahlen im Kreis Angerapp gelangten, wurden wir von drei deutschen Panzern eingeholt, die neben uns auf einer Wiese hielten. Die Besatzung stieg aus den Panzern und unterhielt sich mit uns.

Auf die Frage meines Vater, ob sie sich schon von hier zurückziehen, antwortete ihm ein Offizier: "Was sollen wir noch da vorne an der Front? – Wir haben keinen Sprit und keine Munition mehr und 30 Kilometer hinter der Front, im Rothebuder Forst, wo das Nachschublager für die kämpfende Truppe ist, wird alles von den Vaterlandsverrätern in die Luft gesprengt." Nun wußten wir auch, von woher die Detonationen vom Vormittag kamen. Wie später zu hören war, hat man den leitenden Offizier vom Nachschublager Rothebuder Forst vor ein Kriegsgericht gestellt und zum Tode verurteilt.

Wir fuhren am ersten Tag bis nach Benkheim, 15 Kilometer, wo wir übernachteten. Von zu Hause hatten wir noch zwei Kühe dabei, die wir in Benkheim laufenließen. Es war nicht möglich, mit den Kühen weiterzukommen, sie waren die harte Straße nicht gewöhnt.

Am nächsten Morgen, dem 21. Oktober, bekam dann auch Benkheim Packbefehl und wir mußten weiter.

Als wir auf die Straße Angerburg-Goldap kamen, war sie von Flüchtlingstrecks und Militärfahrzeugen verstopft. So sind wir an diesem Tag nur bis Gronden gekommen und haben auf einem Gut übernachtet. Hier erlebten wir dann eine Überraschung. Wir hatten von Steinhagen unseren Hund mitgenommen, der in Benkheim plötzlich verschwunden war. Wir glaubten, er wäre wieder nach Hause gelaufen. Als wir aber in Gronden ankamen und alles versorgt war, stellte ich mich an die Straße, um den Flüchtlingstreck zu beobachten. Plötzlich sehe ich die Familie Thiel aus Steinhagen in dem Treck und unser Hund ist auch dabei. Als der Hund mich sah, kam er auf mich zugelaufen und hat mich vor Freude fast umgeworfen. Später haben ihn die Russen in Soweiden, Kr. Rößel, erschossen.

Folgendes war geschehen: Als Familie Thiel am 21. Oktober durch Benkheim fuhr, sahen sie einen herrenlosen Hund am Straßenrand, den die Tochter Helga als unseren Hund erkannte und schon hat sich der Hund an Thiel angehängt und ist mitgelaufen. Thiels sind dann auch auf dem Gut zum Übernachten geblieben und wir waren dann die ganze Zeit zusammen.

Am nächsten Tag, wir waren inzwischen schon vier Familien aus Steinhagen, sind wir bis Engelstein, Kr. Angerburg, gefahren. Durch Angerburg durften wir nicht durch, wir mußten es nördlich umfahren. Hier hatten wir ein gutes Quartier, so haben wir uns zwei bis drei Tage aufgehalten und erholt und sind von dort aus bis Drengfurt weitergefahren. Bei Drengfurt hatte mein Vater aus dem Ersten Weltkrieg einen Kriegskameraden, der auch einen Bauernhof hatte. ‚Bei ihm sind wir untergekommen. Leider war auf dem Hof wenig Platz, so sind die Familien Dzwillo und Dunkel am nächsten Tag weiter nach Krausen, Kr. Rößel, gefahren. Jetzt waren aus unserem Dorf nur noch die Familie Thiel und wir zusammen. Weil wir gut untergekommen waren und auch für die Pferde einen guten Stall hatten, glaubten wir, hier bleiben zu können. Der Bauer hätte uns auch gern behalten, schon weil er wenig Pferde hatte. Ich habe mit unseren Pferden bei ihm den Acker gepflügt.

Nach etwa einer Woche bekamen wir an einem Abend Bescheid, daß wir am nächsten Tag weiterfahren müssen, es wäre nicht erlaubt, an einem Platz so lange zu bleiben. Am nächsten Tag sind wir dann weiter bis Dönhoffstädt –und haben auf dem Gutshof von Graf Stollberg übernachtet. Hier wurden wir sehr freundlich und hilfsbereit aufgenommen. Gräfin Stollberg ist noch am Abend persönlich in die Unterkünfte der Flüchtlinge gekommen und hat sich überzeugt, daß alles in Ordnung war. Später haben wir erfahren, daß sich die ganze Familie Stollberg beim Einmarsch der Russen das Leben genommen haben soll.

Am nächsten Tag ging es weiter bis nach Gudnick kurz vor Rößel. Hier haben wir auch auf einem Gut zweimal übernachtet. Geschlafen haben wir im Schulraum, der unweit der Gutsstallungen lag. Hier hielt sich auch die Familie Kellermann aus Maleiken auf.

Nach zwei Tagen – inzwischen hatte der Winter eingesetzt – sind wir bei Schneeregen und Kälte wieder aufgebrochen, um auch nach Krausen, Kreis Rößel, wo die anderen Steinhagener waren, zu gelangen. Unterwegs in Soweiden trafen wir zufällig Franz Kutz aus Dumbeln, den mein Vater gut kannte. Der hat uns abgeraten, weiter nach Krausen zu fahren, weil der Ort von Flüchtlingen überfüllt sei. Er hatte vor ein paar Tagen seine Schwester Lina Kapust aus Steinhagen besucht und das dabei festgestellt. Er gab uns aber den Rat, bei einem Bauern Domkowski unterzukommen. Es sei dort eine Flüchtlingsfrau mit ihren Kindern gewesen, die Pferde und Wagen an die Wehrmacht abgegeben hat und mit dem Zug abgefahren ist. So würde die Wohnung im Insthaus und für die Pferde der Inststall leerstehen. So ist mein Vater bei dem Bauern vorstellig geworden und wir durften – wenn auch widerwillig – auf den Hof auffahren. Es war ja damals so, daß jeder, der Platz hatte, verpflichtet war, Flüchtlinge aufzunehmen. So hatten wir fürs erste eine Bleibe. Die Pferde und die zwei Kühe der Familie Thiel standen im Inststall sehr gut.

Am nächsten Tag ist mein Vater nach Krausen gefahren, um sich zu überzeugen, daß dort wirklich kein Platz für uns war. Daraufhin hat sich mein Vater vom Bürgermeister in Krausen schriftlich bestätigen lassen, daß kein Platz für uns ist. Mit diesem Schreiben ging er zum Bürgermeister in Soweiden. So durften wir in dem Ort bleiben.

An dieser Stelle möchte ich die Feststellung machen, daß die Flucht im Oktober 1944 entgegen anderer Berichte kein außerordentliches Durcheinander war, sondern sie war gut organisiert und wurde diszipliniert durchgeführt.

In vielen Ortschaften, durch die wir kamen, hat es warmes Essen und Marschverpflegung gegeben. Kinder und alte Leute wurden betreut. Für die Pferde stand überall Futter bereit. Jeder hat Übernachtungsmöglichkeiten gefunden, es brauchte niemand im Freien zu schlafen. Man war ziemlich sicher, daß niemand etwas gestohlen würde, denn darauf stand die Todesstrafe.

Nach ein paar Tagen, es muß so um den 15. November gewesen sein, kam unser Ortsgruppenleiter Preuß aus Urbansdorf (der mit seiner Familie im Nachbardorf Samlach wohnte) zu uns und bedeutete meinem Vater, daß er sich zum Volkssturm melden müsse. Darauf sagte mein Vater, daß er nicht zum Volkssturm gehe, sondern sich freiwillig zur Wehrmacht melde. Dagegen konnte Preuß nichts machen. Nach ein paar Tagen ist mein Vater dann mit dem Zug nach Angerburg gefahren, um sich beim dortigen Wehrbezirkskommando zu melden. Er ist aber in Angerburg doch nicht ausgestiegen, sondern bis Herandstal weitergefahren. Hier war wegen der Front bei Goldap Endstation. So ist er dann nach Steinhagen gegangen, um noch mal nachzusehen, wie es Zuhause aussieht. Da sah er auch die frischen Gräber. Bei uns auf dem Hof war eine Zahlmeisterei und alles voller Pferde. Mein Vater stellte fest, daß unser Landauer und der Federwagen vom Militär benutzt wurden, was verboten war. Der Landauer war sogar beschädigt, in der Täfelung war ein Loch. Daraufhin hat mein Vater Beschwerde geführt und ihm wurden sofort 2.000,00 Reichsmark für die zwei Wagen als Kaufpreis angeboten, die Vater annahm – so war die Sache ausgestanden.

Nach ein paar Tagen ist Vater mit einem Militärfahrzeug nach Herandstal mitgefahren und wollte mit dem Zug zurück nach Angerburg, um sich freiweillig zur Wehrmacht zu melden.

Beim Abstieg vom Fuhrwerk rutschte er aus und fiel mit dem linken Knie auf einen Prellbock. Er hatte gleich große Schmerzen und ist gar nicht mehr in Angerburg ausgestiegen, sondern gleich bis nach Rößel durchgefahren.

In Rößel angekommen, hat man uns benachrichtigt, daß Vater auf dem Bahnhof sei und nicht mehr weiterkönne. Daraufhin bin ich nach Rößel gefahren und habe ihn geholt. Am nächsten Tag bin ich mit ihm nach Bischofsburg zum Arzt gefahren, hier stellte man fest, daß die Kniescheibe gespalten war. Er konnte wieder nach Hause mit einem Attest, daß er weder volkssturm- noch wehrmachtstauglich sei. Sein Knie ist dann ohne Behandlung im Krankenhaus oder beim Arzt zusammengeheilt, so daß er nach einiger Zeit wieder normal gehen konnte.

Vor Weihnachten 1944 wurde nun das Futter für die Pferde knapp, denn wir bekamen pro Pferd ja nur vier Pfund Hafer und sechs Pfund Heu sowie ein bißchen Häcksel pro Tag. So beschlossen wir, nach Gerdauen zu fahren, um Getreide zu holen. In der Brauerei Kinderhof in Gerdauen war ein Bruder meines Vaters Direktor. Daher hatte er auch Einfluß auf die Gutsverwaltung. So sind meine Großmutter, Vater –im Liegen und ich nach Gerdauen gefahren und haben eine ganze Fuhre Getreide und Heu geholt. Da habe ich meine Großmutter zum letztenmal gesehen, sie blieb in Gerdauen. Später nach dem Russeneinmarsch ist sie in Königsberg verhungert.

Dann kam Weihnachten 1944. Der Kanonendonner ebbte nicht ab. Zu Weihnachten haben Frau Thiel und meine Mutter von Sahne und Zucker Bonbon gekocht, das war unser Weihnachtsgeschenk. Aber wir hatten sonst genügend zu essen.

Ab Mitte Januar 1945 kamen dann schon wieder große Flüchtlingstrecks durch Soweiden. Jeden Abend suchten viele Flüchtlinge Nachtquartier und Unterkunft für die Pferde, so auch auf dem Hof Domkowski, wo wir waren. Oft fanden die Flüchtlinge keinen Platz und schliefen deshalb auf dem Wagen im Hof. Die Pferde standen mit Decken abgedeckt die ganze Nach bei Schnee und Kälte im Freien. Hier hatten wir schon einen Vorgeschmack, wie es uns einmal ergehen würde, wenn wir nochmal im Winter flüchten müssen, zumal der Kanonendonner immer näher kam.

Am Sonntag, dem 289. Januar 1945, sagte mein Vater, wir reiten mal zu Familie Otto Szurowski, unseren Nachbarn aus Steinhagen, die zwei Kilometer von uns entfernt Quartier gefunden hatten und erkundigen uns, was sie zu machen gedenken, denn wir merkten, daß die Front nicht mehr weit war. Wir haben Vater aufs Pferd geholfen und sind zu Szurowski geritten. Unterweg auf einer kleinen Anhöhe hielt Vater plötzlich sein Pferd an und sagte: "Man hört ja schon Gewehrfeuer." Da war die Front etwa sieben Kilometer von uns entfernt. Trotzdem sind wir zu Szurowski geritten, haben dort unsere Beobachtung mitgeteilt. Die waren jedoch nicht zu bewegen weiter zu flüchten, auch weil die Pferde nicht scharf beschlagen waren. Hier haben wir Otto Szurowski zum letztenmal gesehen. Er wurde mit seinem Bruder Adolf aus Tannenhorst verschleppt, man weiß nicht, wo sie geblieben sind.

Wir sind dann schnell in unser Quartier geritten, haben die nötigsten Sachen aufgeladen, wir konnten nicht alles mitnehmen, was wir bei der ersten Flucht im Oktober von Zuhause mitgebracht hatten, weil es inzwischen Winter geworden war und die Straßen verschneit waren. Folgloch war es ja für die Pferde schwerer zu ziehen und wir mußten ja schnell vorwärts kommen.

Am Montag, dem 29. Januar 1945, etwa um drei Uhr morgens sind wir mit Familie Thiel aufgebrochen. Zu dieser Zeit war der Russe schon in Rößel, drei Kilometer von uns entfernt. Wir mußten noch etwa einen Kilometer verstiemten Weg fahren bis zur Hauptstraße nach Bischofsstein. Hier war es schon unmöglich auf die Straße zu kommen, weil wieder alles durch Flüchtlinge verstopft war. Die linke Straßenseite mußte für die Wehrmacht freigehalten werden. Es ist uns dann doch gelungen, uns mit unserem Wagen in den Treck einzuordnen.

Zu dieser wußten wir nicht, daß Ostpreußen schon von den Russen eingekesselt war.

Hinter dem Dorf Soweiden haben wir dann gesehen, wie die Schützengräben, die man schon im Herbst 1944 ausgehoben hatte, von der Wehrmacht zur Verteidigung besetzt wurden. Hier hat kurz darauf die Wehrmacht den russischen Vormarsch einen Tag lang aufgehalten. Wir sind an dem einen Tag sieben Kilometer bis nach Schellen gekommen. Plötzlich, es war schon dunkel, fing der Russe an die Straße, die voller Flüchtlinge war, mit Artillerie zu beschießen. Als die Einschläge immer näher kamen, meinte mein Vater, wir müßten sehen, daß wir von dieser Straße runterkommen, ich solle mal vorgehen und erkunde, ob rechts oder links irgendwo ein Weg von Hauptstraße abgeht. So bin ich vorgegangen. Plötzlich hat mich ein deutscher Panzer überholt, fuhr links von mir auf eine Wiese, etwa hundert Meter von der Straße entfernt. In wenigen Augenblicken verspürte ich eine große Detonation und bin nach einiger Zeit im Straßengraben aufgewacht. Ring um mich her schrien verwundete Menschen, Pferde lagen verwundet auf der Straße oder sind mit den beladenen Wagen durchgegangen. Es war ein heilloses Durcheinander. Ich verspürte nach dem Aufwachen an der rechten Kopfseite Schmerzen. Später nach Jahren stellte sich heraus, daß ich von dieser Detonation und vom Luftdruck einen Trommelfellschaden habe und auf dem rechten Ohr schlecht höre.

Was war passiert? Vermutlich ist die Panzerbesatzung solange gefahren, bis der Prit alle war und dann haben sie den Panzer gesprengt. Es war ihnen egal, wo sie standen.

Ich habe mich, sobald ich einigermaßen auf den Füßen stehen konnte, zu unseren Wagen zurück durchgeschlagen, wo ich noch alle unversehrt vorfand. Am nächsten Tag bei Tageslicht konnten wir feststellen, daß ein kopfgroßes Eisenstück durch die Plane unseres Wagens durchgeschlagen war und im Gepäck lag.Wir sind sofort von der Hauptstraße abgebogen und querfeldein etwa zwei Kilometer von der Chaussee auf einen Bauernhof aufgefahren. Der Hof war total von Flüchtlingen überfüllt. Hier trafen wir auch eine Familie Nasner aus Amberg, Kreis Goldap. Meine Mutter und Frau Nasner kannten sich gut.

Am nächsten Morgen, Dienstag, dem 20. Januar 1945, sind wir weitergefahren. Wir hatten mit Familie Thiel beschlossen, uns nach Krausen durchzuschlagen.

Wir fuhren über Groß Köln in Richtung Bergenthal. Kurz vor Bergenthal stand Deutsche Wehrmacht vor einer Brücke, hielt uns an und fragte, ob wir noch über die Brücke hinüberfahren wollten. Sie hätten den Befehl, die Brücke sofort zu sprengen, weil der Russe schon auf dem Gut Bergenthal sei, etwa einen Kilometer von uns entfernt. Wir haben dann vor der Brücke gewendet und sind nach Groß Köln zurückgefahren, denn wir wollten jan nicht auf der Straße dem Russen in die Hände fallen. Nach kurzer Zeit hörten wir die Sprengung der Brücke und sind nun gleich den nächsten, verschneiten Feldweg, der von der Straße abging, zum Vorwerk von Gut Bergenthal, Orlowen, gefahren. Auch hier war alles mit Flüchtlingen überfüllt, wir haben aber noch einen Platz im Stall gefunden, wo wir unsere Pferde unterstellen konnten und es fand sich auch eine Schlafstelle bei den Pferden. In einem Insthaus konnten wir uns bei einer Frau etwas kochen.

Am Nachmittag meine Vater, wir sollten doch einmal nachschauen, ob unsere Nachbarn Dzwillo aus Steinhagen, die etwa zwei Kilometer von uns entfernt Quartier hatten, noch da seien. Wir setzten uns auf unsere Pferde und ritten etwa einen Kilometer zurück durch den Wald. Als wir aus dem Wald herauskamen, wurden wir plötzlich beschossen. Wir sind dann wieder in den Wald zurück und auf Umwegen zu unseren Nachbarn geritten, die wir auch noch vorfanden. Wir haben nur kurz Bescheid gesagt, wo wir uns aufhalten und sind wieder auf Umwegen durch den Qald zu unserem Quartier zurückgeritten. Der Abend und die Nacht verliefen ruhig und ohne Kampfhandlungen.

Am nächsten Morgen – alle Wagen von den Flüchtlingen standen draußen auf dem Gutshof Orlowen – beschlossen wir, einige Wagen auf die Scheunentennen zu ziehen. Die Gebrüder Kowalewski aus Loien und wir spannten zwei Pferde an, hängten sie vor die Deichseln und zogen die Wagen auf die Tennen.

Plötzlich fielen meinem Vater zwei Reiter, die dem Hof näher kamen, auf. Vater meinte noch, es könnte eine deutsche Patrouille sein. Bei ihrem Näherkommen sahen wir, daß es Russen waren. Wir haben sofort die Scheunentore zugemacht und die Russen beobachtet. Sie kamen bis zum Anfang des Hofes vorgeritten, bliegen am Ende eines Stalles stehen und sprachen miteinander. In diesem Moment ging ein kriegsgefangener Franzose zum Stall zur Scheune, er hatte offenbar die zwei Russen nicht bemerkt. Als die Russen ihn sahen, ritt einer von ihnen auf den Franzosen zu und brüllte ihn von hinten auf Russisch an, der Franzose erschrak, drehte sich um, hob die Hände hoch und sagte "Franzoski". In diesem Moment hob der Russe seine Pistole und erschoß den Franzosen.Daraufhin sind wir sofort aus dem hinteren Scheunentor raus und zu der Wohnung, in der unsere Angehörigen waren, gerannt, um zu berichten, was wir gesehen hatten. Nach kurzer Zeit wurde unsere Tür von außen aufgerissen und derselbe Russe, der den Franzosen erschossen hatte, stand mit schußbereiter Pistole im Türrahmen. Ein kurzer Blick, dann schrie er auf Deutsch "Hände hoch!", dann fragte er "wo Quartiersfrau?" Darauf hat sich die Deputantenfrau, die am Tisch saß und gegessen hatte, gemeldet. Die zweite Frage lautete: "Wo ist Mann?" Darauf antwortete die Frau "Mann ist Soldat". Darauf der Russe: "Wo?" Sie sagte noch "in Frankreich". Darauf brüllte der Russe "Raus, raus" und bedeutete, sie müsse an ihm vorbei zur Tür gehen. Die Frau nahm noch etwas Eßbares vom Tisch und wollte es dem Russen reichen. Er zeigte auf die Tür und als sie im Türrahmen stand, hat er sie erschossen.

Dann brüllte er: "Alle Uhren auf den Tisch legen!" Als das geschehen war, brüllte er: "Alle Männer die Stiefel ausziehen!" Als das geschehen war, ging er zum Tisch, steckte alle Uhren in die Taschen, bedeutete August Kowalewski, ihm die Stiefel zu tragen und ging aus der Wohnung. August Kowalewski mußte vor ihm bis auf den Gutshof die Stiefel tragen. Hier hatte schon der andere Russe einen Schlitten anspannen lassen, wo die Stiefel dann aufgeladen wurden. Die zwei Reitpferde haben sie dann an den Schlitten gebunden und sind Richtung Bergenthal abgefahren.

Nach einiger Zeit sind andere Russen auf den Hof gekommen, sahen den toten Franzosen liegen und dachten wohl, es sei ein toter Russe, weil er auch braune Uniform trug, ähnlich den Russen. Als sie aber feststellten, daß es ein Franzose war, fragten sie einen Polen, wer ihn erschossen hat. Als der Pole ihnen sagte, daß es Russen waren, schüttelten sie nur den Kopf und befahlen uns, die zwei Leichen zu beerdigen. Wir haben dann mit zwei anderen französischen Kriegsgefangenen unweit des Gutshofes ein Grab ausgehoben und die zwei Erschossenen zusammen beerdigt. An den darauf folgenden Tagen blieb es ruhig. Wir haben zwei Tage keine Russen mehr gesehen. Nach drei Tagen sind wir auf den Hof von Neuwald nach Krausen gezogen, wo Familie Dunkel aus Steinhagen auch Quartier hatte. Jetzt kamen die Russen bei Tag und auch bei Nacht, vergewaltigten Frauen und Mädchen und nahmen alles mit, was ihnen in die Hände kam.

Nach ein paar Tagen kamen etwa zehn Russen auf den Hof von Neuwald und nahmen sämtliche Pferde mit, auch unsere. Am 9. Februar 1945 wurde dann bekanntgegeben, daß sich sämtliche Männer vom 15. bis 60. Lebensjahr im Dorf Krausen an einer bestimmten Stelle zum Arbeitseinsatz zu melden haben. Mein Vater meinte gleich, daß es eine Finte sei, was sich auch bewahrheitete. Wir versteckten uns. Diejenigen, die sich im Ort versammelten, wurden gleich, ohne ihre Familien zu benachrichtigen, nach Sibirien abtransportiert. Von Steinhagen waren es Max Columbus, Fritz Nehrke, Hermann Dzwillo, Rudolf Bolk und Otto Henseleit. Zurückgekommen ist nur Rufolg Bolk, der das Glück hatte, sich auf dem Transport zu verstecken. Die anderen sind wohl schon auf dem Transport verhungert, erfroren oder in Sibirien verstorben.

Einige Tage später kamen dann wieder Russen auf den Hof und befahlen, daß wir sämtliches Vieh auf den Hof von Saldit, Krause treiben mußten, wo die Russen schon eine Kolchose eingerichtet hatten. Wir mußten auch gleich dableiben und das Vieh versorgen. Am Abend durften wir wieder in unser Quartier zurück, mit der Auflage, am nächsten Morgen wiederzukommen. Das haben wir auch befolgt, zumal wir in der Kolchose sicherer waren als auf dem Gehöft im Abbau. So ging es dann etwa vier Wochen, morgens zur Kolchose und abends ins Quartier.

Fast jede Nacht kamen Russen auf den Hof und vergewaltigten Frauen und Mädchen, derer sie habhaft werden konnten, zum Teil unter den Augen der anderen.

Mitte März kam ein Lastwagen mit Russen auf die Kolchose gefahren. Es hieß´, alle Männer zwischen 15 und 60 Jahren müßten auf den Lastwagen aufsteigen und zum ‚Arbeitseinsatz mitkommen. Hier haben sie auch meinen Vater mitgenommen. Von Steinhagen waren es Franz Brauer, Adolf Thiel, Horst Columbus und Robert Reinhardt. Meinem Vater ist nach ein paar Tagen die Flucht geglückt, er wurde aber wieder aufgegriffen und nach Domnau abtransportiert. Von dort aus ist er dann wieder geflüchtet und kam nach circa acht Wochen zu uns auf die Kolchose zurück. Horst Columbus ist erst 1950 zu seiner Mutter und seinem Bruder nach Neheim-Hüsten aus Sibirien zurückgekehrt. Franz Brauer und Adolf Thiel sind wohl schon auf dem

 

Wie alle Ostpreußen hofft auch der 15jährige Klaus Reinhardt, sich vor der heranrollenden Front noch retten zu können. Er hofft vergeblich. Ihm steht die Hölle bevor.

Fortsetzung folgt