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12.05.01 Lessings verzeichneter Saladin

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 12. Mai 2001


Islam:
Lessings verzeichneter Saladin
Studie über die Schwierigkeiten eines interkulturellen Dialogs
von Hans-Peter Raddatz

Lessings exemplarisches Stück von Nathan, "dem Weisen", mit seiner berühmten Ringparabel gilt als die literarische Ikone aufklärerischer Toleranz. Zur Erinnerung: Die Parabel soll die tiefe, gemeinsame Wahrheit der drei Weltregionen, des Judentums, des Christentums und des Islam versinnbildlichen. Sie besteht in einem Ring, der seit vielen Generationen in einem mythischen Könighaus des Orients weitergegeben wurde und seinem jeweiligen Besitzer die Eigenschaft verlieh, ihn "vor Gott und den Menschen angenehm" zu machen. Der vorläufig letzte König in der Kette, vor die Frage gestellt, welchem seiner drei gleichermaßen geliebten Söhnen er den Ring geben sollte, umging das Problem, indem er zwei ununterscheidbare Duplikate anfertigen und den Streit um den echten Ring mit den Worten schlichten ließ: Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach / Es strebe von euch jeder um die Wette/ Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut / Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun / Mit innigster Ergebenheit in Gott / Zu Hilf’!

Die in die Metapher der drei Söhne eintretenden Protagonisten Lessings, ein christlicher Tempelherr, der Recha, die Tochter des jüdischen Geldverleihers Nathan, vor dem Feuertod rettet, der islamische Potentat Saladin, der ein zuvor ausgesprochenes Todesurteil gegen den Tempelherrn aufhebt, und schließlich Nathan selbst, der mit einem generösen Geldgeschenk den Muslimherrscher aus großer Finanznot befreit, sie alle folgen der humanitären Praxis aufklärerischen Handelns. Sie begründen damit zugleich auch die Maxime des späteren Existentialismus, welche die Tat nicht nur als spontane Überwindung des Vorurteils, sondern generell dem Bewußtsein vorangehen läßt und betont der thomistischen Handlungsrichtung entgegenwirkte, welche die Tat aus einem stabilen Sein entstehen ließ (Agare sequitur esse).

Indem sie damit die Handlungskonventionen ihrer jeweiligen Religionen überschreiten, betreten sie eine gemeinsame Basis humanitärer Vernunft, die sie der engen, überkommenen Form des Gehorsams und der Loyalität gegenüber ihren Glaubensgemeinschaften enthebt und sie auf eine neue, der jeweiligen Offenbarung übergeordneten Toleranz verpflichtet. Die "göttliche Stimme der Vernunft" erklingt nun in den Beteiligten, deren Handlungen sich allein aus der Erfahrung menschlicher Unmittelbarkeit und einer religiösen Selbstoffenbarung nähren.

Der Begriff der "Gnade" verlagert sich vom christlichen, sich dem Menschen objektiv zuwendenden Gott – allein auf den Menschen hin, dessen moralisches Gefühl sich dem anderen widmet, ohne dabei – aufgrund unabdingbarer Subjektivität – gesetzmäßig verankert werden zu können: Es entsteht eine sich laufend selbst bestätigende Vernunft. Nur wenn diese Voraussetzung gewährleistet ist, kann sich der historische "Fortschrittsprozeß des Menschengeschlechtes" entfalten, eine Vorstellung, die Lessing bei den Freimaurern entlehnte und die im Prinzip jede Revolution rechtfertigte: "... die wahren Thaten der Freymäurer... sind auf die Abschaffung des Staates ausgerichtet. Auf der höchsten Stufe ihrer Entwicklung, wenn die absolute Herrschaft der Vernunft an die Glückseligkeit aller Menschen verwirklicht worden sind und der Mensch ,das Gute thun wird, weil es das Gute ist‘, erübrigen sich der Staat und seine gesellschaftliche Ordnung."

Gotthold Ephraim Lessing, als Sohn eines Pastors 1729 geboren, hatte nicht nur im "Nathan" dem aufklärerischen Ziel der interreligiösen Toleranz eine bis heute wirkende künstlerische Form gegeben, sondern auch in den etwa gleichzeitig erscheinenden Werken "Ernst und Falk, Gespräche mit Freimaurern" und "Erziehung des Menschengeschlechts" dem freimaurerischen Ideal einer in Glück, Freiheit, Toleranz und Wohlstand vereinten Weltgesellschaft (Weltrepublik) dauerhafte literarische Denkmäler gesetzt. Lessing wurde damit zwar zum Exponenten des modernen Religionsdialogs – vor allem mit dem Islam – mit aktueller Geltung bis heute, blieb jedoch deutlich hinter den von ihm selbst in seinen Stücken gesetzten "Standards" zurück.

Schon früh erfaßte den Hochbegabten eine intensive Spielsucht, die ihn ständig am Rande ruinöser Finanznot hielt, der auch die 1770 erfolgende Anstellung als Bibliothekar in Wolfenbüttel keine wirkliche Remedur verschaffte. Bis an sein Lebensende,1781, hielt ihn diese Leidenschaft gefangen, so daß er – von ständiger Geldnot und psychischen Nöten bedrängt – immer wieder seine Gönner, vor allem den Herzog und den Erbprinzen von  Braunschweig, um eine Aufbesserung seiner Einkünfte angehen mußte. Die hieraus verschiedentlich abgeleitete Ansicht, beim "Nathan" könnte es sich um eine durch Geldmangel beförderte Auftragsarbeit interessierter Kreise gehandelt haben, läßt sich allerdings hier nicht nachweisen.

Um so konkreter entwickelte sich Lessings Antiphatie gegen die Vertreter der Kirche, wahrscheinlich bedingt durch seinen Vater, den Pastor, der den aufstrebenden Literaten mit pathologischem Mißtrauen bis in sein Berliner Domizil verfolgte, indem er ihn durch Amtsbrüder regelrecht beschatten ließ. Allerdings war das Genie Lessing dadurch nicht aufzuhalten; schon mit 21 Jahren war er eine in Berlin steil aufsteigende, literarisch-philosophische Berühmtheit, die der Kirche um so unangenehmer wurde, je klarer sich die Konturen seines "Christentums der Vernunft" herauszubilden begannen: "Da diese, von Gott geschaffenen, einfachen Wesen (die Menschen) gleichsam eingeschränkte Götter sind, so müssen ihre Vollkommenheiten den Vollkommenheiten Gottes ähnlich sein; so wie Teile dem Ganzen. ... dieses Gesetz ist aus ihrer eigenen Natur genommen und kann kein anderes sein als: handle deinen individualistischen Vollkommenheiten gemäß."

Hier begann sich schon früh der Kreis zum "Nathan" und seinem aufklärerisch überhöhten Menschenbild zu schließen, dem es kraft autonomer Vernunft möglich wurde, die Grenzen institutionell geregelter Spiritualität zu überschreiten und eine alle Menschen umgreifende "Wahrheit" zu entwickeln. Diese Wahrheit ergab sich nicht nur aus der Befreiung von überkommenen Religionsvorschriften, die dem Menschen "Gottes Vollkommenheit" erschloß, sondern schrieb auch Nathan sowie vor allem Saladin, dem fremdreligiösen Islamregenten, unislamische Eigenschaften zu. Denn in europäischer Vernunfttradition sollte dieser nun ebenso befähigt sein, die Fesseln traditioneller Religionsloyalitäten zu sprengen und sich in ungeteilter Toleranz dem Christentum zuzuwenden.

Eine solche Wahrnehmung, welche die menschliche Vernunft vom transzendenten Urgrund trennte und das gleiche Vorgehen dem euphorisch umgriffenen Fremden unterstellt, begreift das eigene Denken somit als universell gültige Kategorie, ohne die kulturelle Lebensmitte des anderen zu berücksichtigen. Damit wird also gerade das zentrale Ziel der Aufklärung, das Eigen- und Andersartige des Fremden, von der modernen "Toleranz" nicht erreicht. In einer selbstreflexiven Bespiegelung läßt Lessing vielmehr den Nathan die drei Weltreligionen in einem einzigen, kühnen Bogen zusammenschmieden, ohne auch nur in Ansätzen ihre theologische und historische Verschiedenartigkeit anzudeuten. Gerade das Fehlen spielerisch-analytischer Schlaglichter, ansonsten integrales Qualitätsmerkmal von Kunst und etwa in der "Minna von Barnhelm" und "Emilia Galotti" in reichlichem Maße vertreten, enthüllt Lessings Sicht des Saladin im "Nathan" als Musterbild aufklärerischer Toleranzideologie.

Wenngleich dem historischen Saladin in jungen Jahren eine gewisse religiöse Laxheit nachgesagt wurde, so schwenkte er nach seiner Machtübernahme in eine klare islamisch-traditionelle Haltung ein, die auf Basis eigener, intensiver hadith-Studien (Prophetentradition) unislamische Elemente unterdrückte und die konsequente Durchsetzung der sharia, des islamischen Gottesgesetzes, verfolgte. Der kurdenstämmige Fürst der ägyptischen Ayyubiden, der durch seinen Kampf gegen die Kreuzfahrer bekannt wurde, kann um so weniger für eine besonders tolerante Haltung gegenüber den "Franken" in Anspruch genommen werden, als er gerade unter den kriegerischen Zwängen zum Autor einer verschärften Heiliger-Krieg-Doktrin und Förderer einer stabilen Armee wurde.

In Lessings Prisma moderner Religionsautonomie hingegen kann Saladin alle Realitäten islamischer Herrschaft und militärischer Gegnerschaft abstreifen und zum Sinnbild des Ausgleichs werden. Dem islamischen Bild des glaubensgerechten Herrschers widerspricht diese Sicht allerdings vollständig, da in Anlehnung an die Allmacht Allahs, die Gutes und Böses ohne rationale Nachvollziehbarkeit hervorbringt, auch vom irdischen Machthaber Güte und Willkür in erratischer Abfolge erwartet werden kann, ohne daß dies seine Legitimation schwächt. Diese Bedingung erfüllte Saladin mit einem Massaker an christlichen Kreuzrittern bei der Rückeroberung Tiberias, der ihm damit Lessings Wunschdenken bestätigt und ein zweifelhaftes Licht auf die Faktenunterdrückung der heutigen Toleranzideologie wirft.

In der unhistorischen Verzeichnung Saladins wurde die Ringparabel zur Prägeform moderner Realitätsverweigerung, die historische Fakten ausblendet, umdeutet, um dennoch mit Nachdruck Toleranz für alles Fremde fordern zu können. Während Lessings Parabelidee die lateinische Übersetzung einer zeitgenössischen Propagandaschrift vorlag, können wir uns im vorliegenden Fall auf den nüchternen Bericht des Saladin-Sekretärs Imad ad-Din stützen, der für seine historisch korrekten Kreuzzugsberichte bekannt ist: "Tage nach dem Sieg, ließ der Sultan (Saladin) die gefangenen Templer und Hospitaliter suchen und sagte: ,Ich will die Erde von den beiden unreinen Geschlechtern säubern.‘ Er setzte 50 Dinar aus für jeden, der einen Gefangenen bringe, und sofort brachte das Heer sie zu Hunderten. Er befahl, sie zu enthaupten, denn er zog es vor, sie zu töten und nicht zu Sklaven zu machen."

Was bereits in der Renaissance mit der humanistischen Erhöhung des "Wahren, Guten und Schönen" im Menschen begann und sich in der Reformation mit der Verselbständigung des Glaubens fortsetzte, hatte in der Vernunft der Aufklärung ein ideologisches Prisma gefunden, in dem sich nun der Verstand der Menschen in tausendfacher Varianz entfalten konnte. Die historischen Fakten freilich mußten nun einer immer stringenter werdenden interkulturellen Moral weichen.

In diesem Zusammenhang sollte auch ein jüngerer Zeitgenosse des berühmten Philosophen Averroes, der aus Persien stammende Philosoph und Mystiker Abu Shihab as-Suhrawardi (gest. 1191), nicht unerwähnt bleiben. Sein Hauptwerk, das "Buch der Erleuchtung" (kitab al-ishraq) – obwohl zur Besänftigung der islamischen Orthodoxie mit Koranzitaten verbrämt – war von so unkonventionell intellektuellem Geist, daß ihn schnell der Ruch der Ketzerei ereilte. Platonische Philosophie verband sich mit persischer Lichtmystik zu einem dynamischen Lehrsystem von hoher Attraktivität, stand jedoch in krassem Gegensatz zur statischen Gedankenenge der islamischen Dogmatik. Suhrawardis ungeheure charismatische Ausstrahlung und eine wachsende Anhängerschar ließen ihn in den Augen der Obrigkeit und der traditionellen Gelehrtenkreise zu einer Gefahr werden. Schließlich gab kein Geringerer als Saladin, Lessings Exponent orientalischer Toleranz, die Anweisung zur Hinrichtung eines der brillantesten Geister, die der Islam je hervorgebracht hat. Diese Vernichtung des Genies Suhrawardis durch die Allmachtsvertreter des islamischen Zwangsglaubens besiegelte bereits wenige Jahre vor dem Tod des Averroes die Selbstbefreiung des Islam vom Geist schlechthin.

Von den wiederholten Schlägen des doktrinären Schriftglaubens gegen die Philosophie und ihre rationalen Denkalternativen hat sich das geistige Potential der islamischen Welt nicht mehr erholt. Schon Jahrhunderte zuvor hatte der Islam eine ganze Reihe hervorragender Denker unterdrückt. Um so absurder muß es wirken, wenn ihre Werke – von islamischen Eiferern vernichtet – von der Moderne als das "Vermächtnis des Islam" an das Abendland bezeichnet werden. Lessings verzeichneter Saladin liefert für den unbeirrbaren Positivfilter der Islamsicht des heutigen interkulturellen Dialogs eine unverändert wirkende Prägeform.

(Der Verfasser dieses Beitrages ist Autor des Buches "Von Gott zu Allah? – Christentum und Islam in der liberalen Fortschrittsgesellschaft", Herbig-Verlag München, das dieser Tage auf den Büchermarkt kommt.)

 

Propagierte insbesondere mit seinem Drama "Nathan der Weise" den Geist aufklärerischer Toleranz, der freilich der historischen Faktizität nicht gerecht wurde: Gotthold Ephraim Lessing, 1729 in Kamenz als Sohn eines Pastors geboren