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26.05.01 Ostpreußen, März/April 1945: Ein 15jähriger erlebt die Schrecken von Flucht und Terror (Teil IV)

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 26. Mai 2001


Ostpreußen, März/April 1945:
Überall liegen Leichen
Ein 15jähriger erlebt die Schrecken von Flucht und Terror (Teil IV)
von Klaus Reinhardt

Fast jede Nacht kamen Russen auf den Hof und vergewaltigten Frauen und Mädchen, zum Teil unter den Augen der anderen. Mitte März 1945 kam ein Lastwagen mit Russen auf die Kolchose gefahren. Es hieß, alle Männer zwischen 15 und 60 Jahren müßten aufsteigen und zum Arbeitseinsatz mitkommen. Hier haben sie auch Vater mitgenommen. Von Steinhagen waren es Franz Brauer, Adolf Thiel, Horst Columbus und Robert Reinhardt. Mein Vater konnte nach ein Tagen paar fliehen, er wurde aber aufgegriffen und nach Domnau abtransportiert. Von dort ist er dann wieder geflüchtet und kam nach zirka acht Wochen zu uns zurück. Horst Columbus ist erst 1950 zu seiner Mutter und seinem Bruder nach Neheim-Hüsten aus Sibirien zurückgekehrt. Franz Brauer und Adolf Thiel sind wohl schon auf dem Transport nach Sibirien verstorben.

In der Zeit März bis April 1945 verging wohl kaum ein Tag, an dem nicht Kommandos von Russen auftauchten und Deutsche, egal, wo sie ihrer habhaft werden konnten, nach Rußland verschleppten. Die meisten sind wahrscheinlich dort umgekommen.

Ende März, Anfang April hieß es, die Kolchose müsse umziehen, sie liege zu nahe an der Bahnlinie. Man hatte nämlich eine Verordnung erlassen, daß sich kein Deutscher näher als zehn Kilometer zur Bahnstrecke aufhalten dürfe. Bei Verstoß würde sofort gezielt geschossen. Wie wir erfahren haben, sind tatsächlich Deutsche, die noch ein paar Sachen holen wollten, getötet worden.

Am Nachmittag, nach Bekanntwerden, daß wir umziehen müssen, kamen plötzlich die alten Leute und die kleinen Kinder ohne Gepäck von unserem Quartier und berichteten, daß die Russen auf den Hof gekommen waren. Sie hätten den Hof sofort verlassen müssen. Außerdem hätten sie Paul Dunkel aus Steinhagen und Leo Friese aus Krausen mitgenommen. Von diesen Männern hat man nie wieder etwas gehört. Paul Dunkel war geistig umnachtet, und Leo Friese war kriegsbeschädigt, er hatte nur einen Arm.

Nach dem, was nun eingetreten war, fragte mich meine Mutter, ob ich es wagen würde loszureiten, wenn es ein bißchen dunkel würde, um in unser Quartier zu gelangen und ein paar Sachen zu holen, die wir da versteckt hatten – vor allem Decken. Ich habe einen Russen gefragt, ob ich ein Pferd zum Reiten haben könne, was er mir erlaubte. Bei Dämmerung bin ich in unser Quartier geritten. Etwa 200 Meter vor dem Hof kam mir die Sache jedoch nicht ganz geheuer vor. Ich wendete und wollte den Hof umreiten. Plötzlich traten Russen, die mich wohl schon vom Hof aus beobachtet hatten, aus dem Hoftor heraus und fingen sofort an, auf mich zu schießen. Ich bin, so schnell das Pferd galoppieren konnte, in eine naheliegende Schlucht geritten. Auf diese Weise bin ich den Russen entkommen. Hier kann ich von Glück sagen, daß die Russen vermutlich nur Maschinenpistolen dabeihatten. Mit Karabinern hätten sie bestimmt mich oder das Pferd getroffen. Nach diesem Erlebnis bin ich sofort auf die Kolchose zurückgeritten, und wir haben die Sachen in ihren Verstecken gelassen, wo wir sie nach Monaten zum Teil wiederfanden.

Am nächsten Tag kam der Aufbruch der Kolchose. Da auf der Kolchose viele Pferde vorhanden waren, durften einige Deutsche reiten, um das Vieh zu treiben. Unser Viehtrieb ging von Krausen über Steinstimmen, Lautern, Prowangen nach Waldensee. Wir merkten jedoch gleich, daß die Russen nicht wußten, wo sie mit dem Vieh hin sollten. Kurz vor Lautern wurden wir von einer Einheit umstellt, die sich trotz Protesten unserer Bewacher Männer, Frauen und Mädchen raussuchten und sie mitnahmen, um sie nach Rußland zu transportieren. Wir, die ritten, sind gleich, als wir gesehen haben, was los war, in den Wald geritten und haben abgewartet, bis alles vorüber war. Als die Russen weg waren, sind wir mit dem Vieh weitergezogen.

Unterwegs sahen wir überall an den Straßen Leichen, tote Pferde und Vieh liegen, das die Russen beim Einmarsch erschossen oder mit Panzern überfahren hatten. Überall herrschte starker Verwesungsgeruch, weil die Kadaver schon zwei Monate dalagen. Nach längerem Umherziehen mit dem Vieh haben dann unsere Posten einen größeren Hof gefunden, wo wir eingezogen sind.

Wir bekamen Zimmer zugewiesen, etwa zehn Personen jeweils eines, wo wir uns Strohlager zum Schlafen ausbreiteten. In den nächsten Tagen sind wir noch ein paarmal mit Fuhrwerken nach Krausen gefahren, um die älteren Personen, auch meine Mutter, und alles, was noch an Sachen zurückgeblieben war, nachzuholen. Hier hat meine Mutter, Glück gehabt, wäre sie beim Viehtransport dabeigewesen, hätten die Russen auch sie bestimmt verschleppt. Daß alle, die vom Viehtrieb weggeholt wurden, nach Rußland kamen, wo die meisten verstarben, habe ich hier im Westen von einigen, die dabei waren, während der Ostpreußentreffen erfahren. Viele waren aus Krausen.

Als der Umzug der Kolchose abgeschlossen war, gab es auf dem Hof kein Futter mehr. Wir mußten jetzt von anderen Höfen Futter zusammenfahren, etwa 500 Stück Vieh fraßen schon eine Menge.

Etwa um den 15. April hieß es dann, es müsse die Frühjahrsbestellung gemacht werden. Es wurden Felder, die die Eigentümer noch im Herbst gepflügt hatten, mit Sommergetreide angesät. Wir mußten von hell bis in die Dunkelheit arbeiten. Das Essen war gut, es wurde viel geschlachtet. Wenn eine Kuh gekalbt hatte, kam dafür ein größeres Rind unters Messer. Es mußte nur die Stückzahl stimmen. Auch die Behandlung durch unsere Posten war gut.

Dann kam der 20. April 1945, ich kam mit einer Fuhre Heu auf den Hof gefahren und sah einen Lastwagen dastehen. Daneben standen zwei Soldaten mit schußbereiten Maschinenpistolen. Auf dem Wagen waren schon ein paar deutsche Jungen von der Kolchose. Als die Russen mich sahen, mußte ich gleich vom Heuwagen absteigen und auch zu den anderen auf den Lastwagen. Nach einer Weile kamen noch mehr Russen, die den ganzen Hof abgesucht, aber nur alte Leute und Kinder gefunden haben, die sie nicht mitnehmen wollten. Einige Jüngere hatten sich versteckt. Nach einiger Zeit kam ein Offizier aus dem Haus – er hatte wohl mit unserer Wachmannschaft verhandelt. Die Russen setzten sich auch in den Lastwagen, der Offizier zum Fahrer ins Führerhaus und die drei anderen, um uns zu bewachen, auf die Pritsche. Bei der Abfahrt warf uns eine alte Frau noch einen Beutel mit Lebensmitteln auf den Lastwagen, der uns vor großem Hunger bewahren sollte, denn wir haben drei Tage nichts zu essen bekommen.

Unsere Fahrt ging bis zu einer Kolchose nach Prowangen. Hier hatte man schon 30 bis 40 Deutsche von überall her zusammengetrieben. Unter ihnen entdeckte ich drei meiner Schulkameraden, Lieselotte Bolk, Ulrich Columbus und Heinz Schulz. Ich war natürlich froh, daß ich Bekannte gefunden hatte. Dann mußten wir uns aufstellen und wurden von den Russen losgetrieben. Unterwegs kamen immer mehr Deutsche dazu. So marschierten wir am ersten Abend bis Prositten. Wir mußten in ein großes Haus hinein, in dessen Zimmern bereits Strohlager ausgebreitet waren. Vermutlich war hier schon vor uns eine Gruppe Deutscher hergebracht und weitergetrieben worden. Nachts hörten wir Schreie von Frauen und Mädchen, die von Wachmannschaften vergewaltigt wurden. Am nächsten Morgen wurden wir alle einzeln verhört. Das ging folgendermaßen vor sich: Man wurde von einem Wachposten ins Zimmer geführt. Dort erwarteten einen mehrere russische Offiziere und Soldaten. Zwei Offiziere und ein Dolmetscher saßen hinter dem Tisch. Darauf lagen Pistolen, Reitpeitschen, Knuten und andere Schlagwerkzeuge. Man mußte sich vor dem Tisch aufstellen, der Dolmetscher sagte dann, daß ein Verhör stattfinden werde. Wenn man nicht die Wahrheit sage, werde man gleich erschossen. Die erste Frage galt den Personalien, dann die Frage, ob man in der Hitlerjugend war, ob Vater und Mutter in der Partei waren, was der Vater beruflich tat, wer der Bürgermeister im Dorf war und so weiter. Ich habe die Frage nach der Hitlerjugend mit ja beantwortet. Wenn ich heute nach 50 Jahren zurückdenke, erscheint es mir wie ein Routineverhör.

Diejenigen, die man schon verhört hatte, kamen gleich in einen abgesonderten Raum, so daß sie mit den übrigen nicht sprechen konnten. Außerdem haben die Wachposten während der Verhöre ums Haus herum geschossen, um die noch nicht Verhörten einzuschüchtern. Sie sollten offenbar glauben, daß Erschießungen stattfinden.

Als die Verhöre beendet waren, mußten wir uns draußen austellen. Bei strömendem Regen ging der Marsch weiter nach Frauenau, Kreis Rößel. Unterwegs wurden wieder viele Deutsche aufgegriffen und mußten mitkommen. In Frauenau völlig durchnäßt angekommen, ging es zur Nacht wieder in ein Haus auf Strohlager. Nächsten Morgen wurden wir, inzwischen etwa 120 bis 150 Personen, nach Seeburg weitergetrieben. Zwölf bis fünfzehn Russen bewachten uns. Als wir durch das Dorf Lokau kamen, haben die Posten wieder alles durchsucht, um noch mehr Deutsche zusammenzubekommen. Aus einem Haus schleppten sie eine junge Frau heraus, hinter ihr drei Kinder, etwa zehn, acht und fünf Jahre. Sie klammerten sich an ihre Mutter und schrien. Die zwei größeren haben die Russen mit Gewalt weggerissen. Das kleinste hielt sich immer noch an der Mutter fest. Da stieß einer der Posten sein Bajonett dem Kind durch den Bauch. Nachdem es schwerverwundet liegen blieb, wurde die Mutter mit uns fortgetrieben. Sie ging völlig apathisch mit und hat nicht mehr geweint. Was aus ihr geworden ist, weiß ich nicht.

An diesem Tag wurden wir bis Allenstein gescheucht. Zu essen bekamen wir nichts, nur ab und zu durften wir an oft verdreckten Brunnen Wasser trinken. Wir wurden durch Wartenburg getrieben und kamen abends in Allenstein an. Dort wurden wir in eine Schule gesteckt, wo schon viele Deutsche eingesperrt waren. Hier haben wir zum erstenmal nach unserer Gefangennahme eine Suppe bekommen.

Am nächsten Mittag hat man uns plötzlich verkündet, wir könnten wieder nach Hause gehen, der Krieg sei bald aus, die Russen in Berlin. Man hat uns sogar Schriftstücke mitgegeben, damit wir auf den Straßen unbehelligt blieben. So sind wir, etwa 20 Personen, mit einem Ausweis denselben Weg über Wartenburg zurückgegangen. Zum Teil haben wir Feldwege und Dorfumgehungen benutzt. Wir waren trotz unserer Dokumente nicht sicher, ob wir nicht wieder aufgegriffen würden. So sind wir bis zum Dunkelwerden marschiert. Das Häufchen war schon kleiner geworden, einige konnten nicht mehr weiter. Am Abend haben wir beschlossen, in einem leerstehenden Haus zu übernachten. Ich wollte die Nacht durchmarschieren, um nicht von den Russen gesehen zu werden. Die meisten waren aber zu müde und wollten übernachten. Wir drei aus der Kolchose in Waldensee hingegen entschlossen uns aufzubrechen. Meine beiden Begleiter waren aus Krausen, die Namen sind mir entfallen.

Vor Seeburg beratschlagten wir, ob wir durch die Stadt hindurch oder sie umgehen sollten. Wir gingen schließlich durch die Stadt weil wir davon ausgingen, daß dort wenig Russen waren. Wir schlichen uns vorsichtig an den Häuserwänden entlang. Plötzlich ertönte der Ruf "Stoi!" Wir sind sofort in die nächsten Ruinen hineingesprungen und weitergelaufen. Umgehend schossen die Russen mit ihren Maschinenpistolen hinter uns her. Wir merkten, daß mehrere Russen durch die Schüsse dazugekommen waren und alles, es war Nacht, durchsuchten. Wir sprangen von einer Ruine zur anderen, Seeburg war stark zerstört, und sind so durch die Dunkelheit entkommen. Wir wußten genau, daß, wenn man unserer habhaft würde, wir sofort erschossen werden. Kein Deutscher durfte ohne einen russischen Posten bei Dunkelheit auf der Straße sein. Wir sind dann die letzten rund sechs Kilometer bis zu unserer Kolchose in Waldensee querfeldein gegangen. Vor Morgengrauen kamen wir an. Die Freude unserer Angehörigen und der anderen Deutschen war natürlich groß, weil wir wieder da waren. Warum die Russen uns in Allenstein so plötzlich entlassen hatten, ist mir noch heute, nach über 50 Jahren, ein Rätsel.

Nach ein paar Tagen bekamen wir alle drei Durchfall, der sich zur Ruhr entwickelte. Es rührte wohl daher, daß wir unterwegs verseuchtes Wasser getrunken hatten. Ich war nach einiger Zeit so schwach, daß ich allein nicht mehr stehen konnte. Medikamente gab es nicht. Ich habe als einziges Mittel Holzkohle gegessen. Heute möchte ich behaupten, daß die mir das Leben rettete.

 

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