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23.06.01 Evangelischer Kirchentag im Wandel begriffen

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 23. Juni 2001


Frankfurt/Main:
Luthersocken und ein Stückchen neues Selbstbewußtsein
Evangelischer Kirchentag im Wandel begriffen
von Stefan Winckler

Drei Veranstaltungen gibt es, die junge Menschen in Massen anziehen: Profi-Fußball, Popkonzerte und Kirchentage. Tatsächlich sind 43 Prozent der Kirchentagsbesucher zwischen 14 und 29 Jahren. Am vergangenen Sonntag ging der 29. Evangelische Kirchentag mit einem Festgottesdienst vor 70 000 Gläubigen im Waldstadion zu Ende. Der Verfasser dieses Beitrags, 34 Jahre, Katholik und Sohn eines Luthera-ners, wagte einen Rundgang.

Der erste Blick beim Verlassen der U-Bahnstation Messe fiel auf ein stilisiertes Portrait von – nein, nicht Jesus – sondern Che Guevara. Der große Andrang machte es mir aber unmöglich, den Mann am Stand zu fragen, was der Atheist und Bürgerkriegskämpfer Che den Protestanten vermitteln kann. Einen Steinwurf weiter hatte sich das Sozialistische Patientenkollektiv mitsamt seiner Schriftensammlung positioniert. Bezug zum gesunden Menschenverstand, zur Realität und zum Christentum: gleich null. Dazwischen ein großer Verkaufsstand: Hüte, Jacken, Sonnenbrillen.

Es konnte also nur besser werden. Der "Kirchentagsshop" verkauft T-Shirts und Socken ("Luthersocke. Das Stück Selbst- bewußtsein") für 14 Mark. Ach ja, war es nicht Jesus, der einst die Händler aus dem Tempel vertrieb? Wir lernten es schon in der Grundschule.

Eintrittspreis pro Person und Tag: 44 Mark. In die Buchmesse kommt man billiger. Immerhin: Wer die Gruppen auf dem Vorplatz hinter sich gelassen hat, kommt hier in eine andere, bessere Welt. Offene Gesichter, freundliche Menschen.

Gleich an mehreren Stellen bietet die Halle I.1. Gelegenheit zur Meditation. Orden, Pilgergruppen und Communitäten stellen sich mit ihren Faltblättern und Broschüren vor, die Gespräche kommen sofort in Gang. Zum Beispiel mit dem Bund für evangelisch-katholische Wiedervereinigung. Ist nicht die Ökumene ein wünschenswertes Ziel? In zwei Jahren findet der erste ökumenische Kirchentag in Berlin statt. Eine starke Beachtung verdient die "Offensive Junger Christen" aus Reichelsheim im Odenwald, die – wissenschaftlich zutreffend – gegen maßgebliche Homosexuellengruppen und gegen die Bundesregierung zum Thema "Lebenspartnerschaftsgesetz" argumentiert, um jenen Menschen einen Ausweg aufzuzeigen.

Kontrastprogramm im Stock-werk darüber: das Dialogforum Wirtschaft mit sehr informativen Broschüren über die Soziale Marktwirtschaft. Doch hier wäre ein stärkerer Bezug zum Christentum notwendig gewesen, zumal sich die Soziale Marktwirtschaft auch auf christliche Lehren stützt. Die Broschüren hätten zu vielen anderen Veranstaltungen ebenso gut gepaßt.

Passender stellte sich die Handwerkskammer Rhein-Main als Mitveranstalter einer Podiumsdiskussion dar: "Das Handwerk ist sich seiner traditionellen Verbundenheit zur Kirche bewußt. Arbeit bedeutet im Handwerk auch Selbstverwirklichung, Gestaltung kultureller Werte, humane Arbeitsformen und nicht zuletzt soziale Integration", so Arnd Klein-Zirbes (Frankfurter Handwerkskammer).

Plötzlich verschwanden die Musiker, und eine Diskussionsrunde mit den Politikern Thierse, Bläss, Pieper und Christean Wagner trat an ihre Stelle. Die einleitenden kritischen Worte von Bischöfin Käßmann (Hannover) an die Politiker fanden starken Beifall im Publikum. Doch wo bleibt die Ursachenforschung der Evangelischen Kirche in Deutschland über ihre eigenen Probleme wie die Kirchenaustritte und die schlecht besuchten Gottesdienstzahlen selbst an Feiertagen? Kümmern sich die Kirchen vielleicht um alles mögliche ("feministische Theologie", interkultureller Dialog), aber zu wenig um die eigenen Gemeinden vor Ort?

Die Frage "Was können wir verbessern?" war auf dem ganzen Kirchentag nirgendwo diskutiert worden. Tatsächlich treten Christen aus der Kirche aus, weil sie dort zu viele Worte der Moral und Betroffenheit hören, aber zu wenig Interesse oder Verständnis für die Menschen vor Ort finden.

Auf dem Innenhof: ein Hauch von Jahrmarkt. Vom Gospelkonzert geht’s weiter zu den Bücherständen: Bibeln, religionspädagogische Bücher, Kirchengeschichte, seriös und empfehlenswert. Daneben auch Sachbücher über politisch-gesellschaftliche Themen wie Globalisierung und Außenseiterliteratur ("Göttlich lesbisch").

Im Saal 4 präsentieren sich die unterschiedlichsten Gruppen und Parteien, zum Beispiel die Evangelischen Arbeitskreise der CDU und CSU, die Partei Bibeltreuer Christen, die Militärseelsorge, die Nachrichtenagentur idea und der Evangelische Pressedienst sowie die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft, die sich unverschämterweise mit dem Namen eines großen Komponisten schmückt, der patriarchalisch und nationalliberal eingestellt war. Insgesamt war der Kirchentag besser als erwartet, weil wenig bekannte Orden und Gemeinschaften eine Bühne für ihre Präsentation zur Verfügung hatten, Wirtschaft und Politik präsent waren und es bei weitem keine rein linksdrehende Veranstaltung war.

Auch das immer wieder diskutierte Thema "Klonen, PID, Stammzellenforschung" paßt nicht in das traditionelle Rechts-Links-Schema, das früher die Nachrüstungs- und Apartheidsgegner für sich nutzten.

Trotzdem ließen es sich am Freitag tausend Demonstranten (es waren schon mal mehr) nicht nehmen, ihre antikapitalistische Gesinnung vor der Deutschen Bank zur Schau zu stellen. Dorothee Sölle wirkte wieder einmal als Galionsfigur. Daher gibt der Satz des Kirchenrats Rolf Sauerzapf zu denken: "Wie wäre es, wenn der Kirchentag seine eigene Vergangenheit der letzten 30 Jahre bewältigen würde?"

Auf dem Vorplatz, in Sichtweite des Ausgangs, hing ein Transparent: "Was würde Jesus hier tun?" Die entscheidende Frage, die sich der Besucher am Eingang, nicht zuletzt am offiziellen Verkaufsstand und an der Kasse stellen sollte ...