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23.06.01 Hitler, Stalin und der deutsch-sowjetische Krieg: Zwei Aggressoren im Wettlauf um den ersten Schuß

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 23. Juni 2001


Hitler, Stalin und der deutsch-sowjetische Krieg: Zwei Aggressoren im Wettlauf um den ersten Schuß
Zum 60. Jahrestag des 22. Juni 1941 ein Beitrag von Prof. Dr. Werner Maser (Teil I)

Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums mit seiner ideologisch instrumentalisierten Geschichtsdarstellung verhalf der Geschichtsschreibung – vorübergehend – zu Quellen, die zur Neubewertung nicht nur bestimmter Details, sondern ganzer Phasen der Geschichte zwingen.

Unbestreitbar ist heute: Sowohl Deutschland als auch die Sowjetunion bereiteten synchron einen Angriff gegen den jeweiligen Vertragspartner vor. Hitler kam Stalin lediglich zuvor, der Deutschland bereits im Herbst 1938 – zur Zeit des Münchner Abkommens – und dann nochmals im beziehungsweise nach dem sowjetischen Angriffskrieg gegen Finnland im Frühjahr 1940 mit einem Angriffskrieg überziehen wollte.

Da Stalin, der insgesamt 84mal vor einem deutschen Angriff im Sommer 1941 gewarnt wurde, Hitlers "Weisung Nr. 21: Fall Barbarossa" vom 18. September 1940 für einen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion bereits seit Ende Dezember 1940 – durch Verrat des einstigen Zentrumsabgeordneten und Hitler-Gegners Erwin Respondek – kannte, kann die stalinistisch bestimmte Version vom "verbrecherischen deutschen Überfall" auf die auf einen Krieg nicht vorbereitete friedliche So-wjetunion und vom "Großen Vaterländischen Krieg" nicht nachvollzogen werden.

Daß die Rote Armee sich seit 1938 zudem auf einen Angriffskrieg gegen Deutschland vorbereitet hatte, ist inzwischen lückenlos bewiesen. Im September 1938, zur Zeit des Münchner Abkommens zwischen Deutschland, England und Frankreich, das die So-wjets als "Kulminationspunkt der imperialistischen Politik" charakterisierte, machte die UdSSR in der Ukraine und im belorussi-schen Militärbezirk gegen Deutschland mobil. Doch dabei blieb es auch. Allein wollte Stalin es nicht auf sich nehmen, das von ihm zum gigantischen "Aggressor" hochstilisierte Deutschland anzugreifen.

Während die Reichsregierung seit Ende Juli 1939 nach beiderseitigen diplomatischen Vorarbeiten und Hinhaltestrategien auf rasche amtliche Entscheidungen im Hinblick auf eine deutsch-sowjetische Übereinkunft drängte und die Regierung der UdSSR – als demonstratives Zeichen ihres Entgegenkommens – deutsche Landwirtschaftsfachleute nach Moskau einlud, paraphierten sowjetische Vertreter zur gleichen Zeit, nämlich am 23. und am 24. Juli 1939, einen von den Westmächten am 8. und 17. Juli vorgelegten Vertrag mit einem Zusatzprotokoll. Und während Staatssekretär von Weizsäcker vom Auswärtigen Amt die deutsche Botschaft in Moskau am 3. August wissen ließ, die deutsche Regierung sei bereit, "ganz konkret über die Sowjetunion interessierende Fragen zu sprechen", genehmigte Stalin am Tag danach ein von den Volkskommissariaten für Verteidigung und Äußeres ausgearbeitetes Dokument, das den Titel "Vorstellungen zu den Verhandlungen mit England und Frankreich" trug und in fünf Variationen militärische Maßnahmen für den "Aufmarsch unserer Kräfte" ge-gen den "Hauptaggressor", also Deutschland, behandelte.

Ab 13. und 14. August verhandelten britische und französische Militärmissionen in Moskau mit den vom sowjetischen Marschall Woroschilow angeführten so-wjetischen Militärs und hochangesiedelten politischen Funktions-trägern Kusnetzow, Loktionow, Smorodionow und Schaposch-nikow mit dem Ziel eines Militärpakts für einen Krieg gegen Deutschland und seine Verbündeten. Stalin fuhr bis zum 20. August zielstrebig zweigleisig. Er ließ einerseits Molotow, Astachow, Babarin, Potemkin und Mikojan monatelang mit Ribbentrop und dessen engsten Mitarbeitern konferieren, die deutschen Vorbehalte gegenüber der Sowjetunion sy-stematisch abbauen, die "Friedfertigkeit" seines Regimes als selbstverständlich suggerieren und von Molotow einen (bereits mit einem "Geheimprotokoll" versehenen) Nichtangriffspakt formulieren, in dem vom "Wunsch nach Festigung der Sache des Friedens" die Rede war – und drängte andererseits England und Frankreich, sich mit ihm für einen vermeintlich notwendigen "Präventivkrieg" gegen das Reich zu verbünden.

Obwohl er, der "eiskalte Rech-ner", wie Hitler Stalin nannte, London und Paris unterstellte, sich "insgeheim mit Hitler zu arrangieren", bot er den beiden Westmächten an, eine gewaltige Streitmacht gegen Deutschland und seine möglichen Verbündeten für den Fall aufzubieten, daß sie bereit wären, sich mit der Sowjetunion für einen Krieg gegen Deutschland zu verbünden.

Die Sowjets lockten ihre westlichen Verhandlungspartner 1939 mit gigantischen Zahlen. So sollte die erste Welle der Luftwaffe auf dem westeuropäischen Kriegsschauplatz 5000 bis 5500 Kampfflugzeuge umfassen, die gegebenenfalls mit monatlich 900 bis 950 neuen Maschinen ergänzt werden sollten.

Eindeutig den Angriffscharakter der geplanten Operationen heraushebend, erklärte Armeekommandeur Loktionow: "Die Reichweite der Bomber beträgt 1800 bis 4000 Kilometer. Die Bombenladung reicht von 600 bis 2500 Kilogramm."

Am 14. August erklärte Woroschilow den zaudernden westlichen Militarmissionen wörtlich, daß "die (geplanten) Operationen der sowjetischen Truppen gegen Ostpreußen und Galizien und Operationen Englands und Frankreichs im Westen das Ende Deutschlands bedeuten" würden, wenn sie, die Briten und die Franzosen, bereit seien, den sowjetischen Plan zu akzeptieren. Doch die Westmächte waren dazu nicht bereit.

Als Stalin am 19. August von Woroschilow erfuhr, daß Großbritannien und Frankreich sich nicht in seinen Plan einspannen ließen, wandelte er sich innerhalb von 24 Stunden "vom Saulus zum Paulus". Molotow, der sicherheitshalber bereits Mitte August beim deutschen Botschafter von der Schulenburg ventiliert hatte, wie Deutschland zu einem sowjetisch-deutschen Pakt stehen würde, mußte nun auf diese Karte setzen und in überstürzter Eile den Hitler-Stalin-Pakt vorbereiten. Wie die sowjetische Bevölkerung und die Weltöffentlichkeit auf diese Wendung reagieren würden, interessierte Stalin nicht. Die Funktionsträger des Regimes hatten damit fertig zu werden. Und noch ehe die deutsche Regierung sich näher mit dem sowjetischen Anerbieten beschäftigen konnte, erreichte sie bereits am nächsten Tag, am 20. August, ein Tele-gramm des deutschen Botschaf-ters aus Moskau, der Molotows Wunsch ankündigte, sich mög-lichst umgehend mit Deutschland zu arrangieren.

Die UdSSR redete von einem Nichtangriffspakt, während sie zugleich intensiv dabei war, die Militärmissionen Großbritanniens und Frankreichs für einen Krieg gegen Deutschland zu gewinnen.

Auf den Nachvollzug des Paktabschlusses vom 23. August 1939, der sich als Schleuse für den Krieg in Europa erwies, kann hier ver-zichtet werden. An dieser Stelle nur so viel: Das wirtschaftliche und militärische Kräfteverhältnis zwischen der Sowjetunion und Deutschland bot Stalin zu jener Zeit keinen tatsächlichen Anlaß, die Welt glauben zu machen, daß Hitler in der Lage sei, die Sowjetunion ernsthaft zu gefährden. Die Auswertung der Ereignisse und Dokumente läßt vielmehr die Vermutung zu, daß es Stalin darum ging, "Hitler-Deutschland" propagandistisch frühzeitig und sy-stematisch mit dem Stigma des "Aggressors" zu versehen, um späteren eigenen Operationen aggressiven Charakters psychologisch den Boden zu bereiten.

Am 22. Juni 1941 verfügte die Rote Armee gegenüber der Wehrmacht über die fünffache Anzahl an Flugzeugen und über die siebenfache Menge an Panzern, was Hitler 1941 weder wußte noch hatte wahrhaben wollen. "Hätte mir einer drei oder vier Tage vor dem Beginn des Rußlandkrieges erklärt, die Russen haben 10 000 Panzer", so Hitler in der Nacht vom 5. zum 6. Januar 1942, ,,ich hätte geantwortet: Sind Sie wahnsinnig?"

Die sowjetische Luftwaffe erhielt beispielsweise vom 1. Januar 1939 bis zum 22. Juni 1941 17 745 Kampfflugzeuge und die Artillerie 99 578 Geschütze, Kanonen und Granatwerfer gegenüber der Gesamtzahl von 7184 Geschützen der deutschen Artillerie bis Juni 1941. Die sowjetische Rüstungsindustrie beanspruchte 1941 43,4 Prozent des gesamten Staatshaushalts; sie war zwischen 1928 und 1941 von neun auf 23 Millionen "Werktätige" angewachsen.

Hatte die Friedensstärke der Roten Armee 1933 885 000 Mann betragen, waren es 1937 1 433 000, 1939 2 100 000, im Januar 1941 4 200 000 und im Juni 1941 weit über fünf Millionen Mann. Und die Gegenseite? Nach einer Forderung Hitlers von 1936 sollten die Wehrmacht und die Wirtschaft zwar 1940 auf einen Kriegsfall vorbereitet und voll einsatzfähig sein, doch das Rüstungsprogramm war – gemessen an der deutschen Industriekapazität – nur schwerfällig angelaufen.

Zum Angriff auf die Sowjetunion trat die Wehrmacht mit 152 Divisionen an: 3 500 000 Mann. Die Rote Armee verlor allein während des ersten Kriegsjahres 4 500 000 Mann (Tote, Verwundete und Gefangene), ohne daß sich dies gravierend auswirkte. Die hochentwickelte deutsche Technik und Industrie, die eisfreien Ostseehäfen und die Tür zum Westen waren Wünsche, die in Rußland über eine etablierte Tradition verfugten. Daß Stalin nur "Ruhe und grundlegende politische Sicherheiten" und "von Deutschland die Anerkennung der Unverletzlichkeit des Status quo und damit die unverrückbare Stabilität in Osteuropa" im Blick gehabt habe, wie beispielsweise Ingeborg Fleischauer, die ihre marxistisch-leninistische Herkunft nicht verbergen kann, in ihrem Stalinfreundlichen Buch "Der Pakt" behauptet, trifft angesichts der zuverlässigen Quellen nicht zu, auch wenn der Reigen derjenigen, die diese ideologisch instrumenta-lisierte These verfechten, immer noch Legion ist.

Eine besonders wichtige Quelle ist der vom späteren Marschall Wassilewski ausgearbeitete und in Kanzleischrift eigenhändig nie-dergeschriebene Operationsplan, den Schukow und Timoschenko dem Sowjetführer vermutlich unmittelbar nach dem Heß-Flug nach England vorlegten.

Danach sollten von der Roten Armee als erstes strategisches Ziel die südlich von Demblin aufmarschierten deutschen Streit-kräfte vernichtet werden. Bis zum 30. Tag der Operation sollte die allgemeine Frontlinie Ostrolenka, der Fluß Narev, Lodz, Kreuzburg, Oppeln und Olmütz erreicht sein, um den sowjetischen Kräften der Südwestfront die Möglichkeit zu eröffnen, den Hauptschlag in Richtung Krakau-Kattowitz zu führen und auf diesem Wege die deutschen Streitkräfte von den südlichen Verbündeten abzu-schneiden.

Durch einen "Nebenschlag" sollte die Kräftegruppierung um Warschau gebunden und die Voraussetzung geschaffen werden, der sowjetischen Südfront die Vernichtung der deutschen Truppen zu erleichtern. Gegen Finnland, Ostpreußen, Ungarn und Ru-mänien sollte eine "bewegliche Verteidigung" geführt werden, um bei günstiger Lage für einen vernichtenden Schlag gegen Rumänien bereit zu sein. Gleichzeitig sollten die deutschen Streitkräfte um Krakau "zerschlagen" und "der Raum Kattowitz in Besitz genommen" werden. Dies sollte im Hinblick auf die Absicht geschehen, den Angriff nach Norden und Nordwesten fortsetzen und das ehemalige Polen und Ostpreußen in Besitz nehmen zu können. Nach diesen Vorgaben folgten Weisungen zur Sicherstellung konzentrierter Schläge zur Vernichtung der rumänischen Armee.

Die dargelegten Maßnahmen seien so umzusetzen, hieß es weiter, daß es der sowjetischen Führung möglich sei, einen "Überraschungsangriff sowohl von der Luft als auch auf dem Lande" zu führen.

(Wird fortgesetzt)



Der Weg in den Krieg: Nach der Unterzeichnung des Nichtangriffspakts am 23. August 1939 in Moskau zeigen sich der deutsche Außenminister Ribbentrop (li.) und der sowjetische Diktator Stalin (Mitte) mit zufriedenen Mienen. Fortan verfuhren beide Seiten nach dem unüblichen Motto "Pacta non servanda sunt" – nicht einmal zwei Jahre später, am 22. Juni 1941, kam Hitler einem Angriff Stalins zuvor. Foto Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz

 

Werner Maser, geb. 1922 in Ostpreußen, lehrte als Professor für Geschichte und Völkerrecht in München, Helsinki und Tokio und von 1991 bis 1993 an der »Martin-Luther-Universität« Halle-Wittenberg über Hitler, das Dritte Reich, das NS-Regime, den Nürnberger Prozeß und die Weimarer Republik. Vom »Spiegel« als »Institution« für Hitler und das NS-Regime gerühmt, brachten ihm seine Bücher über Hitler, das NS-Regime, den Nürnberger Prozeß, die Weimarer Republik, über Friedrich Ebert, Hindenburg und Helmut Kohl, die in mehr als 100 Ausgaben und Übersetzungen erschienen sind, in West und Ast internationales Ansehen als Historiker und Bestsellerautor.