20.04.2024

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30.06.01 Zum 60. Jahrestag des 22. Juni 1941 ein Beitrag über die Aufmarschpläne der Roten Armee von Prof. Dr. Werner Maser (Teil II/Schluß)

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. Juni 2001


Hitler, Stalin und der deutsch-sowjetische Krieg:
Zwei Aggressoren im Wettlauf um den ersten Schuß
Zum 60. Jahrestag des 22. Juni 1941 ein Beitrag über die Aufmarschpläne der Roten Armee
Von Prof. Dr. Werner Maser (Teil II/Schluß)

Ausdrücklich kodifizierte der strategische Aufmarschplan der sowjetischen Militärführung, wie er im Frühjahr 1941 von Stalin mit "J. St." paraphiert worden war:

1. Unter dem Anschein von Übungen für Soldaten der Reserve ist eine geheime Mobilmachung der Truppe durchzuführen.

2. Unter dem Anschein, in Aus-bildungslager auszurücken, sind in der Nähe der Westgrenze ge-heime Truppen zusammenzuzie-hen, und vorrangig sind alle Ar-meen für die Reserve des Oberkommandos zusammenzuziehen.

3. Aus den entlegenen Militärbe-zirken sind die Luftstreitkräfte geheim auf Feldflugplätzen zu konzentrieren, und mit dem Einrichten der rückwärtigen Dienste der Luftstreitkräfte ist sogleich zu beginnen.

4. Um sich vor einem möglichen feindlichen Überraschungsstoß zu sichern, ist das Zusammenziehen der Kräfte und der eigene Aufmarsch zu decken und ihr Übergang zum Angriff vorzubereiten.

General Wassilewski registrierte in der Aufzählung des für den Angriffskrieg gegen Deutschland zur Verfügung stehenden Materials beispielsweise für die Flugabwehr einen Vorrat von lediglich fünf Tagen für 37-mm-Munition und von elf Tagen für 85-mm-Munition, was eindeutig gegen eine Absicht sprach, sich an den Grenzen auf Defensivoperationen und einen Verteidigungskrieg vorzubereiten.

Ebenso verhielt es sich hinsicht-lich der Fliegermunition und der Treib- und Schmierstoffe: "Beton-brechende Munition" lag für zehn Tage bereit, Benzin für zweiein-halb Monate. Betonbrechende Munition konnte im Verteidi-gungskrieg im eigenen Land nicht eingesetzt werden. Die großen Treibstoffmengen in Grenznähe schloßen Verteidigungsabsichten als dominierendes Motiv eben-falls aus. Eine Million Tonnen Treibstoff wurden Anfang Juni aus dem Landesinneren in Grenznähe geschafft, wo sie im Falle eines Verteidigungskrieges rasch ein Opfer der feindlichen Luftwaffe werden mußten, wie es bereits am ersten Tag des Krieges auch geschehen ist.

Ähnlich verhielt es sich mit den Munitionsbereitstellungen. 4216 in Grenznähe "geparkte" Eisenbahnwagen mit Munition wurden unmittelbar bei Kriegsbeginn allein an der Westfront vernichtet. Auf dem Bahnhof Kalinowka an der Südwestfront standen 1500 Waggons voller Munition bereit, was nicht zu den Ausnahmen gehörte. An allen Frontabschnitten befanden sich in angemessener Entfernung von den Grenzen fahrbereite Munitionszüge, deren Besatzungen auf Anweisungen für die Weiterfahrt warteten. Hätte die Rote Armee sich auf einen Verteidigungskrieg vorbereitet, wären diese Vorräte nicht auf mobilen Fahrzeugen gelagert, sondern an vorbereiteten Verteidigungsstel-len deponiert worden.

Die Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten der Roten Armee wußten spätestens seit Ende 1938, daß das Gerede über die Sowjetarmee als "Verteidigungsarmee" nur Propaganda war. Und sie bestätigten dies nach ihrer Gefangen-nahme auch nahezu ausnahmslos.

Nachdem Stalin die Auffassung geäußert hatte, daß ein deutscher Angriff nach Herbstbeginn 1941 nicht erwartet werden könne, wurde in der Sowjetunion alles darauf vorbereitet, den deutschen Möglichkeiten mit einem umge-henden eigenen Angriff "zuvor-zukommen", wie der von Timo-schenko und Schukow unterzeichnete Operationsplan es vorsah. Die sowjetische Eisenbahn trug dabei einen wesentlichen Teil der Hauptlasten. Zu den bereits genannten Zahlen gesellte sich die Tatsache, daß allein 1320 Eisenbahnzüge (nicht etwa Waggons!), mit Kraftwagen beladen, bereitstanden. Angesichts dieses schier unübersehbaren Aufwandes und der sowjetischen Organisationsmängel kam es vor und bei Kriegsbeginn zu Pannen, die den deutschen Streitkräften zugute kamen. Ein Großteil der Einheiten der 21. Armee beispielsweise wurde ebenso auf dem Transport vom Ausbruch des Krieges überrascht wie das 43. Schützenkorps, elf Divisionen der 21. und 22. Armee und die 19. und 16. Armee. "Die ungeheure Ansammlung von Waggons lähmte den Betrieb vieler Eisenbahnknotenpunkte nahezu vollständig", überlieferte Kowaljow, der stellvertretende Volkskommissar für Staatskontrolle, was General Klemin vier Jahre später mit dem Hinweis bestätigte, daß sich 47 000 Waggons mit Kriegsmaterialien auf den Strecken befanden und zu spät zum Einsatz zur Verfügung gestanden hatten.

Stalins Kalkül, Hitler werde frü-hestens Anfang 1942 "kommen", hatte nicht nur ihn getrogen, sondern auch die sowjetischen Militärs bewogen, ihre Vorbereitungen nicht mit der Eile zu betreiben, die angesichts der Sachlage am Platze gewesen wäre.

Wer aber davon ausgeht, daß auch Stalin seine Offensive erst 1942 habe auslösen wollen, übersieht die Tatsache, daß die Rote Armee in diesem Falle im Freien hätte überwintern müssen oder aber den gesamten Aufmarsch durch die Rückführung in die Standorte oder an Orte mit ausreichenden festen Winterquartieren hätte bewältigen müssen, um kurze Zeit danach die ganze Prozedur noch einmal ablaufen zu lassen.

Wenn Stalin, wie Molotow zwi-schen 1969 und 1986 mehrfach bestätigte, 1941 fest überzeugt gewesen ist, daß Hitler den Krieg gegen die Sowjetunion nicht mehr 1941 beginnen würde, erübrigt sich zwangsläufig jede weitere Diskussion über den Charakter des gigantischen sowjetischen Aufmarsches an der deutschen Ostgrenze. Stalin wollte 1941 mit dem – auch seiner Meinung nach "unvermeidlichen" – Krieg gegen Deutschland beginnen. Mit einem deutschen Angriff rechnete er, entgegen allen Warnungen, zu diesem Zeitpunkt nicht.

So kam es, daß gewaltige Mengen von Treib- und Schmierstoffen, Munitionsvorräten, Waffen aller Art, Eisenbahnschienen, Baumaterialien und Kohle, Pferden, Pferdewagen, Autos und Motorrädern in Grenznähe sowohl der deutschen Artillerie als auch der Luftwaffe leicht zerstörbare Ziele boten. Weder die Infanterie noch die Panzer und die Artillerie hatten sich für den Verteidigungsfall eingegraben. Zusätzliche Eisenbahnlinien oder auch nur Schienenstränge für mögliche Rücktransporte in die Tiefe der UdSSR gab es nicht.

Von den im Juni 1941 insgesamt rund 6700 Kilometern Schienen-wegen waren lediglich 2000 zwei-spurig angelegt, was Eisenbahntransporte außerordentlich erschwerte, wie es sich beim Aufmarsch drastisch erwies. Brücken, die zum eigenen Angriff genutzt werden konnten, waren nicht gesprengt worden, so daß sie den Deutschen unversehrt in die Hände fielen und ihren Vormarsch erleichterten. Die sowjetische Führung war davon ausgegangen, sie für ihre Offensive zu benötigen. Darüber hinaus waren die ursprünglich für Verteidigungszwecke angelegten Minenfelder seit dem 20. Juni ebenso geräumt worden, wie die in Brücken, Bahnhofsanlagen und anderen wichtigen Gebäuden eingebauten Sprengladungen entfernt worden waren. Tausende Kilometer Stacheldrahtverhaue, die einen angreifenden Feind behindern sollten, existierten am 22. Juni nicht mehr, weil sie eine eigene Offensive erschwert hätten.

Wie sehr die sowjetische Ge-schichtsschreibung und die deutschen sowjethörigen Historiker die Geschichte fälschten, manipulierten und im Sinne der mar-xistisch-leninistischen Geschichtsdarstellung instrumentalisierten, exemplifiziert dieser Aufmarschplan auf ganz besondere Weise. Valentin Falin zum Beispiel, einst Leiter der Internationalen Abteilung beim ZK der KPdSU, behauptete noch 1993, bei dem Aufmarschplan von 1941 handele es sich um eine Fälschung, obwohl er spätestens seit 1990 wußte, daß dies nicht der Fall ist. Und nicht nur er log. Andere, wie Forschungsamtsmitarbeiter und Altstalinisten, ver-suchten Stalins maßgebliche Rolle mit der Behauptung abzuschwächen, daß er das Dokument möglicherweise gar nicht gelesen oder bekommen habe.

Nachdem nun die russischen Militärhistoriker General Juri Solnyschkow und Oberst Iwan Kusmin von der Moskauer Militärakademie im Jahre 1994 in ihrer Stellungnahme zu meinem Buch "Der Wortbruch" – einer erstmaligen offiziellen russischen Stellungnahme zu einem deutschen Buch über den deutsch-sowjetischen Krieg überhaupt – in ihrer Bedrängnis und durchsichtigen Hilflosigkeit plötzlich zugegeben haben, daß Stalin den Aufmarschplan der Roten Armee gegen Deutschland nicht nur gelesen, sondern paraphiert und damit offiziell bestätigt und genehmigt hat, ist russischerseits auch diese gezielte sowjetische Fehlinformation endlich ad absurdum geführt worden.

Wer jetzt noch davon redet, daß die deutschen Streitkräfte 1941 einen friedliebenden und auf einen Krieg nicht vorbereiteten Gegner verbrecherisch überfallen hätten, muß sich gefallen lassen, als Ignorant oder als politisch korrumpierter Zeitgenosse bezeichnet zu werden.

Daß Hitler seit 1925 fest davon überzeugt war, die Sowjetunion im Rahmen eines Raubkrieges eines Tages niederwerfen und ausbeuten zu müssen, ist eine so altbekannte Tatsache, daß hier darüber nicht detailliert gespro-chen zu werden braucht. Seine ursprünglich gedachten Termine waren – wie andererseits auch bei Stalin hinsichtlich seines Angriffes auf Deutschland – die Jahre 1942/43.

Hitlers tatsächlicher Angriff von 1941 resultierte hingegen nicht aus seinen ursprünglichen, ideologisch orientierten Überlegungen. Er wurde von militärisch-strategischen Erwägungen diktiert, die durch Stalins militärische Maßnahmen herausgefordert wurden.

Artikel IV, der vorletzte Absatz in der "Weisung 21: Fall Barbarossa" vom 18. Dezember 1940, erweist sich hierbei als ein historisches Dokument, das aus dieser Perspektive – trotz ungezählter Debatten – noch nicht sachgerecht und unvoreingenommen in die Geschichte eingeordnet worden ist.

Hieß es dort doch: "Alle von den Herren Oberbefehlshabern auf Grund dieser Weisung zu treffenden Anordnungen müssen eindeutig dahin abgestimmt sein, daß es sich um Vorsichtsmaßnahmen handelt für den Fall, daß Rußland seine bisherige Haltung gegen uns ändern sollte. Die Zahl der frühzeitig zu den Vorarbeiten heranzuziehenden Offiziere ist so klein wie möglich zu halten, weitere Mitarbeiter sind so spät wie möglich und nur in dem für die Tätigkeit jedes Einzelnen erforderlichen Umfang einzuweisen. Sonst besteht die Gefahr, daß durch ein Bekanntwerden unserer Vorbereitungen, deren Durchführung zeitlich noch gar nicht festliegt, schwerste politische und militärische Nachteile entstehen."

Daß diese Formulierungen indes nicht als Beweis dafür gewertet werden können, daß Hitler den Krieg gegen die Sowjetunion gegebenenfalls – und letztlich – gar nicht gewollt habe, bezeugen unzählige Fakten. Er wollte den Krieg, wie Stalin auch, jedoch erst 1942 oder 1943. Unbestreitbar jedenfalls ist: Sowohl Deutschland als auch die Sowjetunion bereiteten synchron einen Angriff gegen den Vertragspartner vor. Hitler kam Stalin lediglich zuvor.

Als Bilanz bleibt: Solange Rußland die einschlägigen Archive nicht dauerhaft öffnet und deren Bestände ausländischen – und eigenen – Fachhistorikern zugänglich macht, kann es den nachweisbaren Vorwurf nicht entkräften oder gar widerlegen, die Geschichte, die doch selbstverständliche Grundlage jeder weiteren Annäherung zwischen dem deutschen und dem russischen Volk sein muß, nach wie vor ideologisch zu manipulieren, zu instrumentalisieren und ihren tatsachengerechten Nachvollzug zu boykottieren.