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04.08.01 Estland: Sorgen beim Musterschüler

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. August 2001


Estland:
Sorgen beim Musterschüler
Schreckbilder EU-Bürokratie und multikulturelle Gesellschaft
von Werner Pfeiffer

Estland steht unter den EU-Beitrittsbewerbern in der ersten Reihe. Bereits 19 von 31 Verhandlungskapiteln wurden abgeschlossen; nur Zypern, Ungarn und Slowenien sind weiter. Westliche Experten werden nicht müde, die rigorose Wirtschaftspolitik der Mächtigen in Reval (Tallinn) zu loben, die in einem Kraftakt die Planwirtschaft abgeschafft und die freie Marktwirtschaft eingeführt hätten.

Wer heute in der Hauptstadt der kleinsten Baltenrepublik estnischen Boden betritt – 90 Prozent aller ausländischen Besucher kommen nie über das Weichbild Revals hinaus – gerät in Versuchung, in das Loblied einzustimmen. Die meisten der in der Sowjetzeit heruntergekommenen Straßenzüge erstrahlen in neuem Glanz. Das Zentrum ist längst zu einem Mag-neten für Touristen aus aller Herren Länder geworden, zumal keine Hansestadt im Ostseeraum über eine besser erhaltene mittelalterliche Altstadt verfügt. Darüber hinaus bieten moderne Restaurants erstklassige einheimische und internationale Küche an. Die vorsintflutlichen Fabriken aus der kommunistischer Ära sind vielfach neuen Betrieben gewichen, die größtenteils mit skandinavischem Kapital aufgebaut wurden. Hier und da klagt man in Reval sogar schon über Arbeitskräftemangel.

Auch ganz im Süden des Landes gibt es Inseln bescheidenen Wohlstands. Das Seebad Pernau (Pärnu) ist zum Beispiel dabei, sich seinen einstigen Ruf als internationaler Kurort zurückzuerobern, zumal die Preise nach westlichen Maßstäben phantastisch billig sind. Das malerische, teils mittelalterlich geprägte Stadtbild – auch Pernau gehörte einst zur Hanse – lockt zudem zahlreiche Besucher an, die keine Badekuren brauchen.

Wer diese Zentren allerdings verläßt und ins Landesinnere fährt, um sich mit den dort lebenden Menschen zu unterhalten, bekommt schnell andere Eindrücke. Überdeutlich ist der Pessimismus weiter Bevölkerungskreise. Schon äußerlich fällt auf, daß die Esten hier nicht mehr so gut gekleidet sind wie beispielsweise im Jahr 1992. Kein Wunder, denn die Arbeitslosigkeit im Süden des Landes liegt bei bis zu 40 Prozent.

Anfangs versuchten viele, sich über Wasser zu halten, indem sie ihre Wohnzimmer zu winzigen Tante-Emma-Läden umfunktionierten. Obwohl diese Geschäfte werktags wie sonntags von morgens 7 Uhr bis abends 23 Uhr geöffnet blieben, mußten sie schließlich dichtmachen. Zu groß war die Konkurrenz untereinander und der mörderische Preiskrieg der großen Handelsketten.

Hart bedrängt sieht sich auch die Landwirtschaft, die mit der Überschwemmung Estlands durch Billigprodukte aus dem EU-Raum zu kämpfen hat. Erstaunlich sind daher die vielen schmucken Gehöfte, die neben aufgegebenen alten Höfen neu entstanden sind. Nach Erklärungen suchend, erfährt man, daß nicht nur der sprichwörtliche Fleiß der estnischen Bauern mit im Spiel ist, sondern auch der oft nicht ganz legale Holzexport.

Obwohl Regierung und Medien nicht müde werden, den Menschen eine glänzende wirtschaftliche Zukunft nach erfolgtem EU-Beitritt anzupreisen, hört man selbst bei ausgedehnten Reisen quer durchs Land praktisch niemanden, der den Verheißungen glaubt. Die jüngste Umfrage vom April, wonach sich 36 Prozent der wahlberechtigten Bürger für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union aussprechen und 53 Prozent strikt dagegen sind, scheint die Stimmung eher noch zu beschönigen.

Allerdings hat sich der Tenor der Ablehnung gewandelt. Noch letztes Jahr überwog die Empörung nach dem Motto: "Wir haben doch nicht 50 Jahre für unsere Freiheit gekämpft, um sie jetzt den Brüsseler Bürokraten zu opfern!" Oder: "Sollen wir uns schon wieder vorschreiben lassen, welche Apfelsorten anzubauen sind oder wie lang und wie krumm unsere Gurken sein müssen, um der Norm zu entsprechen? – Ähnliches haben wir doch gerade erst unter den Russen gehabt."

Heute stehen die Ängste vor einer Massenabwanderung hochqualifizierter Fachkräfte im Vordergrund. "Wer wird denn noch in Estland bleiben, wenn er im Ausland an einem Tag mehr verdienen kann als hier in zwei Wochen?" fragen sich die Leute. Und ihre Sorgen sind berechtigt, denn das Lohnniveau ist lächerlich gering. In Südestland liegt der Durchschnittsverdienst bei 2000 Kronen, das sind umgerechnet 250 Mark.

Auch die Regierung fühlt sich mittlerweile offenbar von dieser Unruhe unter Handlungsdruck gesetzt und sucht nach Wegen, um den drohenden Spezialistenschwund zu erschweren. So wird darüber nachgedacht, für jeden Abgeworbenen die Entrichtung einer hohen Gebühr für das estnische Schulsystem zu verlangen.

Wie drastisch die Lage ist, höre ich von einer leitenden Ärztin in einem Revaler Krankenhaus. Sie erzählt, daß sie mit 600 Mark monatlich nach Hause geht. Wenn sie im kommenden Jahr pensioniert wird, muß sie aufs Land ziehen und sich eine billige Wohnung suchen, weil die Miete ihrer derzeitigen Altbauwohnung die gesamte Pension auffressen würde und nichts mehr für Lebensmittel übrigbliebe. Viele Rentner können nur überleben, wenn sie in ihren Gärten Kartoffeln, Gemüse und Obst anbauen.

Dabei gibt es in Estland etwa sieben Prozent Millionäre; der Mittelstand hingegen fehlt weitgehend. Wem es denn gut gehe, will ich wissen. "Den Bänkern, den Geschäftsleuten und den Politikern", lautet die immer gleiche Antwort. "Denen würde es bei einem EU-Beitritt noch viel besser gehen. Deshalb sind die auch dafür."

In der Tat sind die Politikergehälter und mehr noch die Nebeneinkünfte mancher Mächtigen geeignet, Neidkomplexe zu wecken.

Mit Pauschalisierungen sollte man jedoch vorsichtig sein. Kürzlich veröffentlichte die Zeitschrift "Öhtuleht" eine interessante Übersicht der Ministergehälter, wonach Ministerpräsident Mart Laar offiziell 240 000 Kronen (30 000 Mark) im Jahr bekommt, mehr als eine Million Schulden hat und privat einen Mazda 323 fährt. Präsident Lennart Meri besitzt sogar überhaupt keinen Privatwagen.

Die größten Ängste der breiten Bevölkerung gelten einer Massenzuwanderung von Farbigen und Türken. "Wir wissen doch, wie es in Deutschland zugeht", kriege ich oft zu hören. Da nützt es nichts, darauf zu verweisen, daß das arme Estland für Armutsflüchtlinge unattraktiv sei. "Wir sind nicht arm", tönt es trotzig. "Das Geld ist nur in den falschen Händen."

Im Zusammenhang mit dem Schreckbild multikulturelle Gesellschaft taucht oft die Abscheu vor der "political correctness" auf. Sie hat zwar noch lange nicht die hiesigen Ausmaße angenommen, aber sie wirft ihre Schatten voraus.

"Kürzlich hat sich ein schwarzer Student in Tartu (Dorpat) öffentlich beschwert, weil man ihn einen Neger genannt hat", weiß einer meiner Gesprächspartner. "Dabei ist das Wort Neger bei uns kein Schimpfwort", fährt er fort, denn "würde man ihn einen Schwarzen nennen, so wäre das zumindest zweideutig. Schließlich heißt das Wort ‚must‘ bei uns sowohl ‚schwarz‘ als auch ‚schmutzig‘."

Man hat die Esten mit Recht "die Preußen des Baltikums" genannt. Fleiß, Genügsamkeit, Ehrlichkeit, Standfestigkeit und Vaterlandsliebe gehören trotz jahrzehntelanger sowjetischer Herrschaft nach wie vor zu den Nationaleigenschaften. Um so mehr wäre es zu wünschen, daß die Esten in einem Europa der Vaterländer – nicht einem der Brüsseler Bürokraten – ihren Charakter und ihre Kultur bewahren können.

Vielleicht macht Ministerpräsident Laar ja ernst mit der Absichtserklärung, sein Volk über den EU-Beitritt abstimmen zu lassen. Manche Probleme und Ängste dürften sich dann von selbst erledigen.

Der Autor wurde 1929 in Werro/Estland geboren, beherrscht die estnische Sprache und bereiste die Baltenrepublik im vergangenen Jahrzehnt insgesamt sechsmal, zuletzt im Juni und Juli 2001.