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04.08.01 Großvaters Dirsaß

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 04. August 2001


Großvaters Dirsaß
von Betty Römer-Götzelmann

Mit dem großen Küchentisch verbinden mich keine guten Erinnerungen, denn ich habe das einzige Mal von meinem heißgeliebten Großvater hochverdient Schläge bekommen. Und das kam so: Die Frauen der Familie waren beim Vorbereiten eines großen Festes, ich nehme an, es war zu Pfingsten. Jedenfalls wurde gebacken, gebraten, gekocht, geputzt und gewienert. Ich stand allen mit meiner Naseweisheit und dem wohl auch Helfenwollen überall im Wege. "Goah noa bute späle", riet man mir. Aber hier in dem Gewühl der arbeitenden Frauen war es doch interessanter und aufregender.

Man nahm das Geschirr aus dem Schrank, stapelte es auf dem Küchentisch auf. Der Schrank wurde ausgewaschen, er erhielt eine neue schneeweiße Spitzengarnitur, die Fensterchen wurden blank geputzt, daß es nur so blänkerte. Auch der Besteckkasten war herausgezogen, um ihn von allem überflüssigen Kram, der sich angesammelt hatte, zu befreien. Ich baumelte mich in die leere Öffnung und schaukelte mich, das Geschirr über mir klirrte und schepperte. "Marjell, loat dat sen", wurde ich mehrmals von den werkelnden Frauen ermahnt. Se let dat nech. Auch der Großvater, der vor seinem Spiegel stand und sich rasierte, wobei er das Messer an seinem Dirsaß, so hieß bei uns der Riemen, abstrich. Er zog das Rasiermesser immer an ihm hoch und runter … schaute ermahnend über den Spiegel zu mir hin. Doch da! Pardauz, ich machte einen besonders verwegenden Aufwärtsschwung, bekam der Tisch Schlagseite, das Geschirr geriet in Bewegung. Ein mehrfaches, ohrenbetäubendes Frauengezeter und ein frenetisches Kreischen setzte ein, das alleine schon genügt hätte für meine Bestrafung, und ein Retten-was-zu-retten-ist an Geschirr.

Mittendrin ein erschrockenes Marjellchen, sich den von der Mutter verabreichten flüchtigen Backenstreich reibend. Es wird plötzlich von dem Großvater in die Höhe genommen, auf seine Knie gelegt und bekommt tüchtig mit der großen Hand mehrere auf den Podex, wobei der Rasierschaum nur so durch die Gegend fliegt. Vor Schreck habe ich nicht einmal geweint. Dat Griene kem erst denoaherte, als ich feststellen mußte: Großvater hat mich nicht mehr gern; denn er sprach den ganzen Tag nicht mehr mit mir. Er drohte mir sogar noch mit dem Dirsaß, den er zur Bekräftigung seiner Androhung zu mir hin schwang, so daß ich meinen hahnenkammgeschmückten Kopf einzog.

Heute weiß ich es längst, daß Großvater mehr litt als ich, aber Strafe mußte sein. Wie hieß es doch so treffend bei uns in Ostpreußen: Wer nicht hören will, der muß fühlen. Aber meine Geschwister und ich sind ohne Dirsaß erzogen worden. Es hieß in unserer Familie: Ward schon groat sen, ward schon hoche. Das sagte Großvater immer. Seine Kinder staunten wie alle Kinder der Welt, wie nachsichtig einstige Väter die Erziehung ihrer Enkelkinder bewerten. Großvater soll mit seinen acht Kindern sehr streng umgegangen sein. Seinen Dirsaß bekamen vor allem seine vier Söhne zu spüren, wenn es darauf ankam, ihre Dammlichkeiten zu bestrafen. Sie hätten ihre Dirsaßstrafe aber zu Recht erhalten, erzählten mir meine Onkel.

Eine Ausnahme in der großväterlichen Erziehung bildete meine Mutter, das Nesthäkchen, sie erlebte bereits einen abgeklärten Vater. Sie hätte ihn um ihren kleinen Finger wickeln können mit ihrem "lieblichen Charme", aber Großvater wachte auch eifersüchtig wie ein Liebhaber über sie. Wenn sie zum Tanzen ging oder zu einem Jugendtreff fuhr, mußte sie zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein. Mein Onkel Georg, ihr im Alter am nächsten, hatte auf sie aufzupassen, aber was dann, wenn er sich bis über beide Ohren in eine Dorfschönheit verliebt hatte, dann ließ er Martha Martha sein … und von weitem sah sie dann schon ihren Vater mit dem Fahrrad ankommen. Dann mußte der Dorfjunge, der sie begleitete, schnell Reißaus nehmen. Daß Großvater einmal einen pietistischen Prediger vom Hof jagte, als er um die Hand von Martha anhielt, diese Geschichte kann hier auch noch einmal erwähnt werden. "De Mucker kemmt mi nech ent Hus, de soll mi bloß vonne Marjell bliewe, dat es keen Schmisser… kick we he rennt, dat em de Scheskes flege", spottete Großvater hinterher … und die Frauen des Hauses weinten. Später haben sie ihm gedankt, daß er diesen Anwärter für nicht würdig hielt.