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18.08.01 Opfern die Würde zurückgeben / Die Mauer im Bewußtsein eines Mitteldeutschen (Teil II)

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 18. August 2001


40 Jahre danach:
Opfern die Würde zurückgeben
Die Mauer im Bewußtsein eines Mitteldeutschen (Teil II)
von Siegmar Faust

Die Westberliner lebten auf einer Insel mitten im „Roten Meer“, doch das Thema Mauer und kommunistischer Terror im „Arbeiter-und-Bauern-Paradies“ schien die Kulturträger, also besonders Schriftsteller und Poeten - sensibel wie sie nun mal sind - kaum zu berühren. So war es kein Wunder, daß Verständnis, Hilfsbereitschaft und Freundschaft fast nur unter jenen gedeihen konnte, die ebenfalls Diktaturerfahrungen hatten, also aus dem Ostblock stammten.

Zum Glück gab es davon im Westen Berlins viele, jedoch nicht genug, um dem linken Wahn und Straßenterror Einhalt gebieten zu können. Dennoch konnten sich einige der linken Ideologen, vor allem wenn sie begabt und ehrlich waren, unseren Erfahrungen und Erkenntnissen nicht für immer entziehen, so daß sich doch einige der Berliner Autoren, die anfangs mit zu den antibürgerlichen Rebellen der 68er Generation zählten, allmählich mit uns solidarisierten, was sich sogar in ihren Werken niederschlug. Ich möchte lediglich Peter Schneider, Hans Christoph Buch und Dr. Hannes Schwenger stellvertretend für weitere aufzählen. Dennoch bleibt es ein großes Manko bei der literarischen Aufarbeitung des Mauerthemas. Wahrscheinlich befinden sich diejenigen Machwerke, die das Mauermonster rechtfertigten - darunter auch intelligente, wie die Volker Brauns - sogar noch denen gegenüber in der Mehrzahl, die es betrauerten, bekämpften, verspotteten, entlarvten.

Die pompöse „Staatstrompete“ Helmut Preißler, die selbstverständlich auch als Stasi-Spitzel diente, sonderte die übelste „Dichtung“ zur Grenze und zur Mauer ab, wo es von Versen wie jenem strotzt:

„Das sei versprochen, Genossen, / keiner kommt durch! / Wir heben die Wühlmäuse aus, / halten den Anstürmen stand. / Gegen die schwarz-braune Flut / hält der Schutzwall. / Wir schwören: / Keiner kommt durch, Genossen, / das sei versprochen!“

Der ebenfalls dichtende Stasi-Spitzel-Kollege Wolfgang Tilgner rechtfertigte in typisch marxistischer Arroganz konsequenterweise sogar das Abknallen von Flüchtlingen an der Grenze:

„Wer zwischen meiner Welt / und deinem Reich hinsinkt / erschossen, war schon tot, / als er die Maske nicht / durchschaute, die du trägst, / den trügerischen Schein / der gleichen Sprache bei / ungleichen Plänen. Denn / nicht zählt das Blut, vielmehr / die Absicht zählt, es zählt / was du im Schilde führst, / es zählt, was ich erstreb ...“

Wird unsere rote Regierung diesen rund 1000 Todesopfern auch ein großes Mahnmal in der Bundeshauptstadt errichten? Solche Frage zu stellen provoziert nur dumme Antworten. Dafür existiert am weltberühmten Checkpoint Charlie die private Sammlung des Dr. Rainer Hildebrandt, der trotz dreier Entführungsversuche seitens der Stasi durch die Zeiten hindurch seine Ausstellung erweitern, vergrößern und neben dem Pergamon-Museum zum bestbesuchten Museum Berlins gestalten konnte, vor allem dank der Besucher aus der weiten Welt, denen heute nicht einmal mehr ein einziges erhaltenes Stück dieser gesamten Maueranlage im Original gezeigt werden kann. Beim blitzschnellen Abräumen ihrer Schande scheinen die Deutschen keine langwierigen demokratischen Prozesse durchlaufen zu müssen.

Rainer Hildebrandt hatte schon, als ich noch in langer Kellereinzelhaft des Zuchthauses Cottbus saß, Flugblätter zu meiner Freilassung verteilen lassen. Als ich vorzeitig entlassen und endlich im freien Teil Berlins angekommen war, wurde ich, wie viele andere Geflüchtete oder aus den Zuchthäusern Freigekaufte, liebevoll von ihm und seinen Freunden betreut und vor allem anschaulich über die Zustände und Funktion der mehrfach gestaffelten Absperranlagen aufgeklärt. Doch darüber hinaus verführte er mich, über sein Lieblingsthema nachzudenken, den gewaltlosen Widerstand, wobei freilich bei mir nur offene Türen aufzustoßen waren.

Das, was er schon von Anfang an propagierte, geschah ja dann auch, bis auf wenige Ausnahmen, beim Zusammenbruch des gesamten Ostblocks tatsächlich. Deshalb sind im Haus am Checkpoint Charlie auch eine Vielzahl solcher Objekte und Fotos des gewaltlosen Widerstandes und der „friedlichen Revolution“ zu besichtigen, darunter auch eine meiner handgeschriebenen Häftlingszeitungen „Armes Deutschland“, die von mutigen Haftkameraden herausgeschmuggelt worden war. Zu Beginn der neunziger Jahre konnte ich das Ex-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski, das sich ja mehr durch ein Versehen zum Maueröffner gemacht hatte, dazu überreden, sein erstes öffentliches Streitgespräch dort in der „Höhle des Löwen“, wie er die Stätte damals noch empfand, zu führen. Sein Gegenüber war der mittlerweile verstorbene Publizist und Historiker Dieter Borkowski, der viele Jahre in „DDR“-Zuchthäusern verbringen mußte. Es ist weiterhin ein großes Verdienst des Hauses, daß dort nicht nur der oft schon vergessenen Aktivisten, also den Streikführern des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 gedacht wird, sondern auch den Fluchthelfern und Tunnelgräbern ein Denkmal gesetzt wurde.

Zu diesem Thema kann ich vor allem das so spannende wie solide Buch „Der Tunnel in die Freiheit“ von Ellen Sesta empfehlen, das die authentische Geschichte des längsten Fluchtweges unter der Mauer aufzeigt. Die Bilder dieser spektakulären Tunnelfluchten gingen 1962 um die Welt; John F. Kennedy soll geweint haben. Zwei italienische Studenten waren die Initiatoren, viele Studenten und auch die Autorin riskierten damals ihr Leben für dieses waghalsige, aber geglückte Unternehmen.

Der Dichter Bernd Jentzsch, Jahrgang 1940, der 1976 aus Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung eine Dienstreise nutzte, um nicht mehr in die „DDR“ zurückzukehren, nahm sich in mehreren seiner Gedichte des Themas Mauer und Grenze an. Er begriff, welches Glück er hatte, auf so ungefährliche Weise in den Westen gekommen zu sein: „Ich bin der Weggehetzte. / Nicht der erste, nicht der letzte. / Von keiner Mine zerrissen. / Vorm Zaun nicht ins Gras gebissen. / Keine blaue Bohne in der Lunge. / Nichtmal Blut auf der Zunge ....“ Des weiteren schrieb er ein Gedicht unter der fast idyllischen und an Dürers Rasenstück erinnernden Überschrift „Ein Wiesenstück“, das in seiner fast lakonischen, also verdichteten Art ein echtes Meisterwerk ist und allein durch seine Aufzählung alles Wesentlichen die Erinnerung an die „deutsch-deutsche Grenze“, wie diese oft nur verharmlosend genannt wurde, den nächsten Generationen zu vermitteln vermag, sowohl mit dem unbestechlichen Blick von der einen wie von der anderen Seite, ohne Pathos, ohne Geifer, ohne Linsentrübung.

Wer, im Gegensatz zu den meisten Politikern und Journalisten, wirklich hinsah, zum Beispiel wie der auf diese Todesgrenze spezialisierte Hobbyfotograf Jürgen Ritter, konnte, nein, mußte es so sehen, auch wenn nicht an jedem Tag ein Toter zu sichten war. Dieses Gedicht gehört wohl zu jenen Meisterwerken, die in ihrer fast schon sarkastischen Genauigkeit, die zur Grundhaltung des Geschichtlichen gehören sollte, und, wie ich meine, mehr als die Erfahrung der Veränderlichkeit ihrer Grenzen ist, die Beliebigkeit unserer Interpretationen überdauern wird. Solche Kunst erinnert an die banale Erkenntnis, daß Zukunft vor allem unverfälschte Herkunft braucht, daß sie also mit dieser hier vorliegenden Qualität sowohl langfristig sensibilisieren, als auch informieren und orientieren kann:

„Der Schuß stehend freihändig,

Das Bündel zusammengesackt.

Vor dem Bündel der Hundelaufgraben,

Vor dem Hundelaufgraben die spanischen Reiter,

Vor den spanischen Reitern das Minenfeld,

Vor dem Minenfeld der Gitterzaun,

Hinter dem Gitterzaun das Minenfeld,

Hinter dem Minenfeld die spanischen Reiter,

Hinter den spanischen Reitern der Hundelaufgraben,

Hinter dem Hundelaufgraben das

Bündel.“

Liebe zur Wahrheit schließt vor allem die Opfer ein und gibt ihnen ihre Würde zurück, die dadurch auch jene behalten oder erlangen, die ihrer in tiefer Anteilnahme gedenken. Manche, die fortgesetzt glauben, Geschichte - nach welchen Fahrplänen auch immer - selbstherrlich auf Kosten anderer machen zu dürfen, indem sie Individuen in Rassen oder Klassen, in Gutmenschen oder Konservative, Anständige oder Rechte machtgeil aufteilen, um besser herrschen zu können, müssen nach dem Gesetz dieser Logik andere oder anders Denkende folglich ausgrenzen, im Finale gar ins Gefängnis stecken oder sonst wie einmauern. Wer uns allen eine Zukunft in Frieden und Freiheit gönnt und eine verantwortungsbewußte Person zu sein beansprucht, der kann nur versuchen - wie Vacláv Havel sagte - „in der Wahrheit zu leben“.

Das mag pathetisch klingen, doch weniger führt zurück in das Reich der Lüge, Knechtschaft und Lieblosigkeit „hinter der Mauer“, wie Wolf Biermann einst anspielungsvoll sang, „in China, hinter der Mauer ...“