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27.10.01 Frauenerlebnisse aus der Zeit von 1944 bis 1949

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 27. Oktober 2001


Ein guter Erzählband mit sehr guter Absicht
Frauenerlebnisse aus der Zeit von 1944 bis 1949
von Sibylle Dreher

Vor mir liegt - scheinbar zum Titel passend - ein hübsches Buch mit einer bunten Graphik: Ein Weg (oder ein Fluß?), ein blühender Baum auf einer Wiese am Wasser, rechts ein wogendes Getreidefeld, darüber schwarz drohende, düstere, rot lodernde Wolken. Der Weg führt geradezu in Unwetter, denn auch im Hintergrund sind dunkle Wolken oder dicker Qualm und Rauch zu erkennen. Ein Erzählband mit solch drohendem Bild?

Also schlägt man das Buch auf und erhält gleich auf dem ersten Blatt Erklärungen: „Über dieses Buch“: „Als Spielbälle der Macht sahen sich Frauen mit ihren Familien plötzlich in eine völlig ANDERE WELT, eine Welt der Gewalt und des Grauens versetzt.“ Es handelt sich um ein Buch, das nach den Unterlagen von Zeitzeuginnen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und danach entstanden ist. Dies erweckt den Eindruck, daß es sich um ein Sachbuch handelt oder sogar um eine Dokumentation, aber es ist weder das eine noch das andere.

Sehr vielfältig ist sein Inhalt: Einzelne Berichte, Erinnerungen, authentische Erlebnisschilderungen, Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Nacherzählungen und Gesprächsnotizen von 30 verschiedenen Zeitzeuginnen aus der Zeit von 1944 bis 1949; der Inhalt reicht jedoch hinein bis in die heutige Zeit, denn die Autorin hatte ein Ziel vor Augen. Sie beklagt sowohl anfangs als auch in den Texten und am Schluß, daß „die ehemals deportierten und zwangsverpflichteten deutschen Frauen, von denen nicht mehr allzuviele leben, von der deutschen Politik wegen angeblichen Geldmangels nicht berücksichtigt werden“.

Das Buch will betroffen machen. Es macht betroffen. Das ist unstrittig. Allerdings hat die Autorin augenscheinlich versucht, die Betroffenheit aufzufangen und erträglich zu machen, wenn die Erlebnisse der Frauen allzu hautnah geschildert zu werden scheinen. Sie hat stilistisch eingegriffen, indem sie das ihr zur Verfügung gestellte Material der Zeitzeuginnen „erzählerisch bearbeitet“ hat, ohne „die Wahrheit, die dahinter steht“, geändert zu haben.

Damit gerät das Buch in den Bereich der Belletristik - die Inhaltsschwere läßt dies aber eigentlich nicht zu. Dagegen sprechen auch die düsteren Schwarzweißgraphiken, die hinter jedem Beitrag zu finden sind. Sie stehen oft in direktem Bezug zum Text, teilweise sind es Fotomontagen die sehr realistisch wirken, aber andere sind nebulös gestaltet und trotz der Bildunterschriften ist schwer zu erkennen, welchen Inhalt sie haben. Samantha Tears hat die Graphiken eingefügt, damit darin Ruhezonen gefunden werden können. Daß sie wirklich beruhigend wirken, wenn sie doch die Inhalte der Texte aufgreifen, erscheint eher unwahrscheinlich.

Die Autorin hat sich ein Pseudonym zugelegt, jedoch ist sie leicht zu identifizieren, weil sie das Copyright hält und auch sonst mit vollständiger Adresse und vielen elektronischen Medienangaben schon am Anfang des Buches und auch im hinteren Teil erscheint. Ihre Quellenangaben bestehen nur aus Verweisen auf das Internet, aus dem zusätzliche Informationen abgerufen werden können. Hinweise auf bestehende Publikationen zur angesprochenen Problematik, die es zwar nicht reichlich, aber durchaus gibt (Freya Klier, Helga Hirsch, Erika Morgenstern, Eva-Maria Stege, Hildegard Rauschenbach, Ruth Kibelka, Ursula Seiring, Brigitte Hansen, Käthe von Norman - auch die Veröffentlichungen der Kulturstiftung der Vertriebenen und die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa - um nur einige zu nennen), fehlen ganz.

So werden Leser oder Leserin ziemlich allein gelassen mit dem Buch, das nach Erläuterungen, einer Widmung, Dankadressen, einem Vorwort, einer Einführung und einem Geleitwort von Heinrich Heine mit einem neun Seiten langen Inhaltsverzeichnis und einem weiteren Brief endlich mit den Texten beginnt. Diese Aufzählung soll deutlich machen, daß das Bemühen vorhanden ist, bei der Bewältigung des Buches zu helfen. Das Lesen fällt dennoch nicht leicht.

Es werden wahrlich keine bequemen oder gar schönen Texte vermittelt, aber die Sammlung stellt einen weiteren Meilenstein dar in der Aufarbeitung dieses Kapitels in der Geschichte der Deutschen, die sich jenseits der Oder und im Osten Europas befanden, als die braune kriegslüsterne deutsche Diktatur des Nationalsozialismus abgelöst wurde durch die rachsüchtige und aufgehetzte Soldateska der Sowjetarmee, in deren Gefolge die Handlanger Stalins wüteten, die rote Diktaturen errichteten, in denen Humanität oder Menschenrechte Fremdwörter waren.

Opfer waren die Frauen, die in diesem Buche zu Wort kommen. Sie stammen fast alle aus den nördlichen Vertreibungsgebieten: Ost- und Westpreußen, Pommern, Schlesien und so weiter. Kurze Biographien am Schluß des Buches machen deutlich, wie einschneidend die zuvor geschilderten Erlebnisse das gesamte Leben der Zeitzeuginnen beeinflußten - bis auf den heutigen Tag. Sie waren in der Blüte ihres Lebens, als das historische Unglück über sie hereinbrach, die jüngste erst zwölf, die älteste 37 Jahre alt, die meisten zwischen 15 und 25 Jahren.

Einige sind glimpflich davongekommen, bei den meisten fragt man sich, wie ein Mensch solche Strapazen und Mißhandlungen überhaupt aushalten kann, dabei handelte es sich in den meisten Fällen um unvorbereitete junge Mädchen, die unter Lebensbedrohung vergewaltigt, verschleppt und vertrieben wurden. Woher ihr Überlebenswille kam - dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen: Es waren familiäre Bindungen aus der Kindheit, die Sorge um Kinder oder Eltern, die kameradschaftliche Hilfe untereinander oder auch die Hoffnung auf eine Gerechtigkeit, weil man sich keiner persönlichen Schuld bewußt war.

Gerade diese Hoffnung aber trog in den meisten Fällen. Sa-mantha Tears läßt mehrfach anklingen, wie schofel und verächtlich in unserer heutigen Gesellschaft mit dem erlittenen Unrecht dieser deutschen Opfer umgegangen wird. Ihre Leiden werden öffentlich nicht zur Kenntnis genommen, es erfolgt weder eine Anerkennung oder gar Würdigung ihres schweren Schicksals noch eine historische Aufarbeitung der an ihnen verübten Verbrechen. Eine materielle Entschädigung können diese Frauen von keiner Seite erwarten. Sie haben das inzwischen bitter lernen müssen.

Die Mutigen von ihnen versuchen es dennoch immer wieder und erfahren erneut Demütigungen, nunmehr von deutschen Behörden, Volksvertretern und Regierungen. Viele der Zeitzeu- ginnen sind inzwischen mutlos und müssen sich gegenseitig Mut zusprechen, was in einigen erschütternden Briefen aufgezeigt wird. Ihre Kraft scheint erschöpft zu sein - zu schwer hatten sie an ihrem Schicksal zu tragen, zu enttäuschend war ihre Aufnahme in Deutschland, zu anstrengend war der Überlebens- und Eingliederungskampf nach der Rückkehr, zu verletzt die Seele und zu geschunden der Körper.

Diese Frauen leben heute noch zu Tausenden unter uns - wer setzt sich für sie ein, da ihre Kraft nicht reicht? Samantha Tears hat mit diesem Buch einen Versuch gemacht. Sie hat den Frauen Gelegenheit verschafft, zu Worte zu kommen. Es sind nur wenige, aber sie stehen für viele andere und sind zufrieden mit dem Ergebnis in diesem Buch, dem deshalb eine weite Verbreitung zu wünschen ist.

Das Buch ist nicht dazu geeignet, hintereinander durchgelesen zu werden. Um die Aufnahmefähigkeit der Leserinnen und Leser (auch diese sollten es in die Hand nehmen) zu schonen, hat die Autorin sich eine zeitliche Zuordnung ausgedacht und die Berichte der einzelnen Frauen ent- sprechend getrennt. Das macht einerseits neugierig, andererseits kann es auch dem Verständnis abträglich sein, zumal historische Erläuterungen oder Fußnoten in diesem Buch gänzlich fehlen. Einige Landkarten mit Flucht oder Verschleppungswegen hätten das Buch auch für solche Leser leichter zugänglich gemacht, die vom deutschen Osten und Osteuropa so gut wie keine Kenntnisse haben. Diese anzusprechen war bestimmt auch Anliegen der Autorin, die noch eine Dokumentation des zugrundeliegenden Materials im selben Verlag plant.

Es ist ein gutes Buch, mit einer sehr guten Absicht und hoffentlich großer Resonanz, die nicht nur der Autorin und ihrem eigens gegründeten Verlag, sondern vor allem dem Anliegen der betroffenen Frauen zu wünschen ist.

Einige sachliche Fehler sind in einer ersten Auflage noch zu entschuldigen, sollen aber hier nicht unerwähnt bleiben: Elbing gehört zu Westpreußen, die Neumark zu Ostbrandenburg, nicht zu Pommern, das berühmte gesunkene Flüchtlingsschiff hieß „Wilhelm Gustloff“, Nakel, in der Nähe des Zwangsarbeiterlagers Potulitz gelegen, wird ohne „c“ geschrieben, und Bautzen mit „t“. Sehr wünschenswert wären eine Gliederung des Inhaltsverzeichnisses, eine Auflistung der Biographien in alphabetischer Reihenfolge mit der Seitenangabe der ihnen zuzuordnenden Berichte sowie gestraffte Erklärungen und Einführungen am Anfang und sachliche und Quellenhinweise am Schluß oder in Fußnoten.

Samantha Tears: Erzählungen aus einer anderen Welt. edition wahr-zeit, Bad Homburg, 2001. ISBN 3-935587-00-7, 271 Seiten, 84 Graphiken. Preis: 35,20 Mark