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15.12.01 Wie der König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen Neuchâtel verlor

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 15. Dezember 2001


Das Ende des Fürstentums Neuenburg
Wie der König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen Neuchâtel verlor / Von Thorsten Hinz

Fast wäre es mit dem Frieden der Schweiz vorbei gewesen. Das Land wappnete sich, schon wurden Lieder komponiert und gesungen, die zur Wehrhaftigkeit aufriefen: „Spielt die Trommel, um die Grenze zu schützen!“ Denn der preußische König sann auf Rache. „Ausbrennen“ wollte er das alpine „Rattennest“, und er beschwor seine europäischen Fürstenkollegen, ihm beizustehen. Nach der Niederlage der Revolutionen von 1848 war die Eidgenossenschaft zur Zuflucht für viele Revolutionäre geworden, aber das war nicht der Grund für den königlichen Zorn. Friedrich Wilhelm IV. betrauerte einen ganz besonderen Verlust: Im Windschatten der revolutionären Erschütterungen war ihm sein geliebtes Schweizer Fürstentum Neuchâtel (Neuenburg) abhanden gekommen.

Kaum jemand weiß heute noch, daß Preußen von 1707 bis zur Märzrevolution 1848 auf halber Strecke zwischen Basel und Genf über eine Schweizer Exklave verfügte. Das 40 mal 20 Kilometer große Territorium bildete den südlichsten Teil des Königreiches. Am 2. November 1856 versuchten royalistische Aufständische, die alte Königsherrlichkeit auf eidgenössischem Boden wiederherzustellen. Am 145. Jahrestag dieser mißglückten Revolte wurde in der Schweizer Botschaft dazu der halbstündige Dokumentarfilm „Der letzte König der Schweiz“ von Andre Vallana vorgestellt.

Die preußisch-schweizerische Liaison begann mit dem Tod von Marie de Nemours Prinzessin von Neuchâtel, die einer Seitenlinie der Bourbonen entstammte. Sie hinterließ keine Nachkommen. Die calvinistischen Untertanen besaßen das Recht, sich ihren neuen Fürsten selbst auszusuchen. Die Wahl fiel auf Friedrich I., König in Preußen. Er war protestantisch, verhältnismäßig mächtig - das Fürstentum brauchte einen Schutzherrn gegen den französischen Nachbarn - und vor allem weit weg. Natürlich floß, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, vor der Fürstenwahl eine Menge Geld. Der König war in Personalunion nun auch „Fürst von Neuenburg“.

Es blieb eine Fernbeziehung. Nur selten geriet Neuchâtel ins Blickfeld der preußischen Regenten. 1763 gewährte Friedrich II. dem Philosophen Jean-Jaques Rousseau hier Asyl, fünf Jahre später intervenierte er sogar gemeinsam mit dem verbündeten Bern militärisch, nachdem der Vizegouverneur ermordet worden war.

1814 besuchte Friedrich Wilhelm III. als erster Hohenzoller die Stadt. Sein Sohn, der spätere König Friedrich Wilhelm IV., begleitete ihn. 1819 wiederholte der Kronprinz seinen Besuch.

1805 hatte Napoleon seine harte Hand auf das Land gelegt, gegen den Willen der Bewohner. Nach seiner Niederlage kehrte das Fürstentum 1814 zu Preußen zurück. Seit dem Wiener Kongreß 1815 war es zugleich ein Kanton der Eidgenossenschaft. Diese Doppelkonstruktion sicherte dem prosperierenden Neuchâtel - seine Textilien waren europaweit berühmt, außerdem wurden Wein und Uhren hergestellt - eine Reihe handfester finanzieller Vorteile. Gerüchte, daß ein Verkauf an Frankreich geplant sei, sorgten daher für Empörung. Für Preußen war der Schweizer Außenposten eine Geldquelle.

Doch politisch war dieses Gebilde auf Dauer unhaltbar. Nach 1831, infolge der Julirevolution in Frankreich, kam es auch in Neuchâtel zu Unruhen. Der Gouverneur Ernst von Pfuel setzte daraufhin eine Verfassungsreform durch. Ein kleines Parlament mit begrenzten Befugnissen wurde einberufen, der Staatsrat, bis dahin eine Honoratiorenversammlung, wurde in eine moderne Regierung mit Ressortministern umgewandelt. Anders als im fernen Mutterland war die konstitutionelle Monarchie in der Exklave damit praktisch durchgesetzt.

Friedrich Wilhelm IV., der Romantiker auf dem Thron, hegte geradezu sentimentale Gefühle für sein Fürstentum in den Jura-Bergen, das so ganz anders war als das flache, karge preußische Kerngebiet. „Alles ist Wunder in diesem Land“, schrieb er. 1842 unternahm er, nun als König und in Begleitung seiner Frau, seine dritte Schweiz-Reise und wurde glanzvoll gefeiert. Der Empfang fand im Schloß der Familie de Pourtalès statt. Die königstreuen Pourtalès emigrierten nach der Proklamierung der Republik nach Preußen. Erst 1945 kehrten ihre Nachkommen in die Schweiz zurück. Gemeinsam mit anderen Nachfahren der damals Beteiligten kommen sie im Film zu Wort.

1847 geriet Neuchâtel in die innerschweizerischen Auseinandersetzungen zwischen den protestantischen und katholischen Kantonen, was zu innenpolitischen Erschütterungen führte. Am 1. März 1848 wurde die Republik ausgerufen. Die Royalisten schlossen ihre Fensterläden, um das Treiben auf der Straße nicht ansehen zu müssen. Noch jahrzehntelang wurde diese Sitte am 1. März beibehalten. Preußen, das sich selber in einer revolutionären Situation befand, war machtlos.

In der Nacht vom 2. auf den 3. November 1856 kam es zu einem Aufstand der Neuchâteler Royalisten. Die Kantonsregierung wurde verhaftet, die Flagge mit dem preußischen Adler wehte wieder über dem Schloß. Die Eidgenossenschaft entsandte daraufhin Truppen, die die Rebellion rasch niederschlugen. Über 500 Aufständische wurden verhaftet, viele flüchteten nach Berlin.

Die preußischen Dokumente zu den Vorgängen lagerten nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Depot in Merseburg. Nach 1990 wurden sie wieder dem Preußischen Geheimen Staatsarchiv übergeben und der Forschung zugänglich gemacht. Die Akten belegen, daß Friedrich Wilhelm IV. 1856 sogar einen Krieg plante, um seine fürstlichen Rechte zu wahren. Der preußische Generalstab hatte bereits einen detaillierten Feldzugsplan ausgearbeitet. Insgesamt 120.000 Soldaten sollten in die Schweiz einmarschieren.

Schon kurz nach Ausrufung der Republik hatte der König in den wichtigsten europäischen Hauptstädten um Unterstützung für seine fürstlichen Ansprüche nachgesucht. 1852 wurden sie im „Londoner Protokoll“ bekräftigt. Doch eine militärische Intervention wollten die anderen Großmächte nicht dulden. Preußen wurde 1857 auf einer internationalen Konferenz in Paris gezwungen, auf Neuchâtel endgültig zu verzichten.

Das entsprechende Dokument war das letzte Staatspapier, das Friedrich Wilhelm IV. unterschrieb, ehe er seinem jüngeren Bruder Wilhelm, Prinz von Preußen, die Regentschaft übertrug und in Siechtum verfiel. Den Verlust des geliebten Ländchens hat er nie verwunden, den Titel eines Fürsten von Neuenburg behielt er bis zu seinem Tod im Jahre 1861 bei.

Friedrich Wilhelm IV.: Franz Krügers Bild zeigt nicht nur Preußens sechsten König, sondern auch den letzten Fürsten von Neuenburg.