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15.12.01 Als junges Mädchen von der Roten Armee verschleppt

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 15. Dezember 2001


Geburtstag unter Fremden
Als junges Mädchen von der Roten Armee verschleppt
Von Irene Marchewa

Man hatte mich mitgenommen, am Freitag, dem 6. April 1945, am späten Nachmittag, einfach so; nein eigentlich nicht. Sie hatten hinter uns hergeschossen, die fremden russischen Soldaten. Wir kamen von Annahof, mehrere Frauen und Mädchen, dem großen Gut, auf dem wir für die Versorgung der russischen Soldaten arbeiten mußten. Worüber wir eigentlich froh waren, denn wir bekamen dort Mittagessen und zwei Liter Milch täglich, worauf sie zu Hause schon warteten, denn das Essen war knapp in dieser Zeit und wir hungerten schon ganz schön.

Mein Bruder Benno kam uns entgegengelaufen und rief: „Versteckt euch, versteckt euch, die Russen nehmen überall die Frauen und Mädchen mit!“ Sie sahen uns davonlaufen und schossen hinter uns her. So wurde ich dann mitgenommen, ohne Abschied von meiner Familie, so wie ich ging und stand, und niemand wußte wohin.

Mit vielen Frauen und Mädchen war ich nach Insterburg gekommen, und in diesen 20 Tagen - und nicht nur in diesen - war viel Schreckliches und Böses geschehen. Insterburg war eine größere Stadt im Norden Ostpreußens. Stadt konnte man eigentlich nicht mehr sagen, es war ein einziger Trümmerhaufen, aber o Ironie des Schicksals, das Gefängnis auf einem Hügel über der Inster war unversehrt geblieben und nicht zerstört und nun bereit, uns aufzunehmen.

Wir wurden zu Hunderten in einen riesigen Raum gepfercht, der früher der Schweinestall des Gefängnisses gewesen sein mußte, denn auf der einen Seite befanden sich noch lauter Schweinebuchten. Für die vielen Menschen in dem Raum war so wenig Platz, daß wir nur zusammengekauert sitzen konnten und in dieser Stellung auch schliefen.

Die nächtlichen Verhöre und Durchsuchungen war vorbei, jetzt fanden jeden Tag die Appelle für die Transporte nach Rußland statt. Morgens sobald es hell wurde, riß die Wachmannschaft das große Tor auf und mit: „Dawai, dawai!“ ging es zur Latrine. Zur Latrine wurde zweimal am Tag geführt, morgens und abends, wer das nicht aushielt, mußte auf eine Tonne gehen, die an der Tür stand, oder sehen, wie er damit fertig wurde.

Danach wurde zum Essenfassen eingeteilt. Essen war eine maßlose Übertreibung. Auf eine 20 Liter Milchkanne heißes Wasser kam 1 Eßlöffel Kaffeeschrot, das Wasser färbte sich nicht einmal braun.

Zum Glück hatte ich zu der Zeit schon irgendwo eine alte Blechdose gefunden. Zu Anfang hatte ich nichts und mußte immer warten, bis mir jemand aus Barmherzigkeit seinen Becher auslieh. Wenn es Brot gab, wurde ein schwarzes klebriges Brot in acht Teile geschnitten, und jeder bekam ein Stück, oder es gab zwei Scheiben ganz hartes, getrocknetes Brot, da hatte man lange was. Entweder man tauchte es in das warme Wasser und weichte es so auf oder man ließ es im Mund weich werden. Manchmal gab es auch gekochte Kartoffeln. Die wurden in die Kessel geschüttet so wie sie waren, ungewaschen und mit Keimen, angefault, aber sie waren wenigstens heiß. Wenn man allerdings Pech hatte, befand sich auch manchmal ein Stein dazwischen. Waschen oder Zähne putzen, so etwas gab es nicht. Alle zwei Wochen kam man zur Entlausung, da konnte man sich dann auch waschen. Wer sehr viele Kopfläuse hatte, dem wurden gleich die Haare abgeschoren.

Insterburg war ein Auffanglager, hier wurden die Transporte in die Sowjetunion oder für andere Lager zusammengestellt.

Nach dem sogenannten Essenfassen begann der gefürchtete Morgenappell. Wir mußten auf dem Gefängnishof zu Fünferreihen antreten, und das Zählen begann. Wehe die Zahl stimmte nicht, die der Posten auf seinem Zettel hatte, dann dauerte die Prozedur ewig. Zu der Zeit hatte das große Sterben noch nicht begonnen ...

Danach erschien ein Offizier, es war meistens der gleiche, wir nannten ihn Teepuppe. Ich sehe ihn noch heute leibhaftig vor mir. Es war ein sehr gepflegtes, kleines, zierliches Mannchen, ganz blondes Haar, in einer sehr eleganten Uniform und glänzenden Stiefeln. Was aber ganz besonders an ihm auffiel, waren seine überaus gepflegten und manikürten Hände und ganz besonders der kleine Finger an seiner rechten Hand. Den Fingernagel hatte er überdimensional wachsen lassen und damit strich er genüßlich unter jedem Namen entlang, wenn er ihn verlas.

Diese Appelle fanden fast jeden Morgen statt, so daß wir wußten, wann ein Transport zusammengestellt war. Jede von uns hatte furchbare Angst aufgerufen zu werden und dabeizusein. Jede betete für sich allein: „Gott, laß den Kelch an mir vorübergehen.“ Wir beteten überhaupt viel in dieser Zeit und weinten noch mehr. Wir weinten uns vor Kummer und Hunger in den Schlaf und machten uns Sorgen um unsere Angehörigen. Keine von uns wußte, wie es ihnen ging, und unsere Angehörigen wußten nichts von uns.

An diesem Morgen - es war mein 16. Geburtstag! - war auch ich dran: Schlägäl, Irina. Kein Gebet hatte mir geholfen.

Alle, die wir aufgerufen wurden, mußten vortreten und uns wieder in Reihen zu fünf aufstellen. Unsere Habe, so wir noch etwas besaßen und man es uns bei den Leibesvisitationen nicht abgenommen hatte, trugen wir immer bei uns. Ich hatte kaum etwas, ich erinnere mich an ein altes Männerhemd und ein Paar Socken. Das Bündel hatte man einem alten Mann abgenommen und mir gegeben. Zum Glück fand ich darin auch noch ein großes Stück Brot und ein Stück Schinken, so daß ich einige Zeit noch etwas zusätzlich hatte. Das Messer hatte man mir weggenommen. Später habe ich dann von dem Schinken auch noch die Schwarte gegessen, die war inzwischen ganz weich geworden.

Nun war die Wachmannschaft angerückt. Auf jeder Seite einer Reihe immer ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonett. Das war lächerlich, uns arme weibliche Wesen so zu bewachen. Wo sollten wir wohl hin? Bei einem Fluchtversuch hätte man uns doch gleich erschossen. Es ging quer durch die Stadt zum Bahnhof. Als wir dort ankamen, merkten wir, daß alles etwas anders war, es standen keine Waggons zum Verladen da.

Nun wurden wir zur Arbeit eingeteilt. Immer fünf Frauen, so wie wir in den Reihen gegangen waren, und ein Posten zur Bewachung. Schaufeln und Picken lagen bereit. Zu damaliger Zeit erfolgte die Beförderung mit Dampflokomotiven, die mit Kohle befeuert wurden. Die ganze Zeit von der Einnahme Insterburgs bis zum April 1945 hatten die Russen die Schlacke aus den Lokomotiven einfach immer nur auf die Gleise und Bahnsteige gekippt, das mußten wir weg machen. Wir fünf Frauen wurden an einen offenen Güterwagen gebracht, wo wir dann die wie zu Stein gewordene Schlacke losgepickt und mit den Händen aufgeladen haben; anders ging es gar nicht. Die Brocken waren manchmal so groß, daß wir sie zu mehreren anfassen mußten. Es war eine sehr schwere Arbeit für uns ausgemergelte Gestalten. Bald hatten wir Blasen an den Händen, und die Haut hing in Fetzen.

An diesem Tag war es sehr heiß, die Sonne brannte nur so vom Himmel, und wir hatten Durst. Zur Bewachung hatten wir eine junge Russin, ein sogenanntes Flintenweib, so abfällig wurden die jungen Russinnen in Uniform damals von uns genannt. Das Sprechen hatte uns unsere Bewacherin nicht verboten. Im Gegenteil, sie unterhielt sich in gebrochenem Deutsch mit uns. Inzwischen hatte ich erzählt, daß ich Geburtstag habe, und die anderen Frauen erzählten es ihr. Sie war begeistert und meinte dann: „Du, erst 16 Jahre, dann noch viele Jahre arbeiten für Sowjetunion, weil Gittler gemacht alles kaputt!“ - Ich hätte mir nichts Besseres gewünscht.

Die Hitze wurde immer unerträglicher, und wir fragten die Frau, ob wir uns nicht Wasser zum Trinken holen könnten. Denn nicht weit von uns entfernt war eine der großen Pumpen, die für die Lokomotiven da waren. Wir konnten sehen, wie ein kleiner Wasserstrahl ständig rausfloß, dadurch wurde unser Durst nur noch größer.

Doch sie ging selbst, holte Wasser und gab uns aus ihrer Feldflasche zu trinken. Das machte sie mehrmals und sagte auch noch: „Woijna, nix gut!“ Was soviel heißt wie Krieg, nix gut, denn im April 1945 war ja noch Krieg.

Weiter reicht meine Erinnerung an diesen Tag nicht. Doch wir haben noch eine ganze Weile auf dem Insterburger Bahnhof gearbeitet. Über viele Tage und Begebenheiten im Insterburger Gefängnis könnte ich noch berichten, auch wie ich den 8. Mai 1945, den Tag der Kapitulation, erlebte, doch das soll eine andere Geschichte werden.

Ich war noch bis zum 21. Mai 1945, Pfingstmontag, in Insterburg. Dann kam ich in das Arbeitslager nach Preußisch Eylau, in der Nähe von Königsberg, von dort kam ich auf ein größeres Gut, das die Russen als Kolchose zur Versorgung ihrer Soldaten eingerichtet hatten. Als ich nicht mehr arbeiten konnte, weil ich Typhus und den ganzen Körper voller Hungerödeme hatte, brachte man mich nach Preußisch Eylau ins Lazarett.

Von dort schickte mich eine deutsche Ärztin nach Hause. Ich schaffte die fast 100 Kilometer in meine Heimatstadt Rößel innerhalb von zwei Tagen, immer von dem Wunsch getrieben, meine Mutter und meine Geschwister lebend und gesund wiederzusehen. Es war so, und dafür bin ich Gott noch heute dankbar.

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