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22.12.01 Die Wunschzettel

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. Dezember 2001


Die Wunschzettel
von Heinz Kurt Kays

Für Horst Krawicz gehörte das Schreiben von Wunschzetteln unverrückbar in die Vorweih-nachtszeit. Diese feste Gewohnheit stammte aus jenen Jahren, da er selbst noch ein Junge war und in Königsberg lebte. Seine Eltern hatten ihn dazu angehalten, sobald die erste Kerze auf dem Adventskranz angezündet wurde. Und es waren ihm auch die Wünsche erfüllt worden, die er in seiner schönsten Kinderschrift notiert hatte. Einmal war es ein Stabilbaukasten gewesen, einmal ein Rodelschlitten und schließlich ein Fahrrad. Denn man war noch relativ bescheiden, damals vor dem großen Krieg.

Das war nun sehr lange her, aber Horst Krawicz, inzwischen ein „Herr Generaldirektor“ - dieser Titel war in den siebziger Jahren recht geläufig - hielt immer noch an der Tradition seiner Jugendzeit fest. Nur, er selbst schrieb keine Wunschzettel mehr, er nahm sie entgegen, von seiner Frau, von seinen Kindern, von der ganzen Familie eben.

Es war wieder Dezember geworden, Dezember 1976. Der Herr Generaldirektor hatte Briefe diktiert. Frau Winkler, seine Sekretärin, legte den Stift beiseite und berichtete: „Die Unterlagen für die Besprechung mit Wiesmüller und Co. liegen in dem blauen Schnellhefter bereit. Das Angebot an die Thermo AG geht mit der nächsten Post heraus. Die Flugkarte nach Berlin habe ich besorgt, und das Hotelzimmer ist auch gebucht.“

Der Chef blickte zerstreut von seinem Terminkalender hoch: „Sehr schön“, murmelte er, schon wieder in eine Akte vertieft. „Und gibt es sonst noch was?“

Die Sekretärin zögerte einen Augenblick: „Ich sollte Sie an die Wunschzettel erinnern. Es sind nur noch knapp drei Wochen bis zum Heiligen Abend.“

„Wunschzettel? Welche Wunsch- zettel denn?“ runzelte Horst Krawicz die Stirn. „Ach so, natürlich. Ich weiß Bescheid. Meine Familie. Ist gut, Frau Winkler, das war es für heute. Sie können Schluß machen.“

Fast hätte der Herr Generaldirektor die Wunschzettel doch wieder vergessen. Sie fielen ihm erst ein, als er sich nach dem Abendessen umzog. „Ja, ich muß noch einmal in die Stadt. Wichtige geschäftliche Besprechung“, antwortete er auf den fragenden Blick seiner Frau. „Übrigens, Weihnachten steht vor der Tür. Es ist Zeit für die Wunschzettel. Sage bitte den Kindern Bescheid, und Mutter auch. Und vergiß deinen eigenen nicht. Ich fliege morgen für drei Tage nach Berlin. Wenn ich zurück bin, denke ich, könnt ihr soweit sein mit den Listen. Und keine falsche Bescheidenheit bitte! Wir können es uns Gott sei Dank ja leisten.“ Horst Krawicz küßte seine Frau flüchtig auf die Stirn, ergriff die Aktentasche mit den Unterlagen und lief mit eiligen Schritten die Treppe hinunter. Draußen hatte der Chauffeur bereits die Tür des Wagens geöff- net ...

Es war wieder seine stets zuverlässige Sekretärin, die ihren Boß an die Wunschzettel erinnerte. Die Verhandlungen mit Wiesmüller und Co. liefen nicht so, wie man es sich erhofft hatte. Da mußte man schwer hinterher sein. Deshalb hatte er die vier Umschläge an Frau Winkler gegeben und gesagt: „Kommen sie damit in ein paar Tagen, wenn ich einmal etwas Luft habe.“

Jetzt hielt er die Wunschzettel in der Hand. Es war nur noch gut eine Woche bis zum Fest, aber es würde schon gehen. Frau Winkler war sehr tüchtig, auch in dieser Beziehung. Er würde ihr einen Scheck ausstellen und die Geschenke dürften rechtzeitig auf dem Gabentisch liegen. Mit Geld war schließlich heutzutage alles zu machen, selbst wenn es sich um besonders ausgefallene Wünsche handelte. Wie etwa vergangene Weihnachten, als Gertie, seine Tochter, einen Polarhund auf der Liste stehen hatte. Sie hatte ihn bekommen, selbstverständlich. Was würde es diesmal wohl sein?

Horst Krawicz öffnete den ersten Umschlag. Er kam von Peter, seinem elfjährigen Sohn. Das Blatt, offensichtlich aus einem Schulheft gerissen, zeigte nur wenige Zeilen in Peters eckiger, unfertiger Knabenschrift. Sie lauteten so:

„Lieber Papa! Ich wünsche mir zu Weihnachten, daß Du im nächsten Jahr manchmal mit mir Fußball spielst. In unserem Garten ist genug Platz dafür. Vielleicht schenkst Du mir auch ein Paar neue Fußballschuhe. Meine alten sind nämlich inzwischen zu klein. Dein Sohn Peter.“

„Dummer Junge!“ dachte der Herr Generaldirektor. „Ich und Fußball spielen! Mit meinen 47 Jahren, lächerlich. Außerdem habe ich keine Zeit für solchen Firlefanz. Ich werde ihm ein ... na, eben ein ... Ach, ich weiß nicht ... Soll sich die Winklerin darum kümmern. Die weiß besser als ich, was sich ein elfjähriger Lorbaß wünscht.“ Und er legte den Zettel seines Sohnes erst einmal beiseite.

Der nächste Umschlag enthielt die Wünsche von Gertie, seiner Tochter. Ganz bestimmt war es wieder etwas Ausgefallenes, irgendeine verrückte Idee, wie sie nur Teenager aushecken können. Die Marjell hatte gerade ihren siebzehnten Geburtstag gefeiert. Und ihre Wünsche? Da standen sie, sauber geschrieben: „Lieber Daddy! Ich möchte diesmal nicht viel geschenkt. Eigentlich habe ich nur einen Wunsch, und der lautet: Geh’ bitte nicht immer gleich an die Decke, wenn ich meine Schallplatten spiele, die von den Beatles oder die von den Rolling Stones. Ich mag nun einmal Rock und Pop. Es ist die Musik meiner Generation. Wenn du einmal versuchen würdest, in Ruhe zuzuhören, dann könntest Du mich möglicherweise besser verstehen. Ach ja, eine Kleinigkeit hätte ich doch gern zu Weihnachten, das neue Album von Elvis Presley. Oder ist das zu viel verlangt? Deine Gertie.“

Generaldirektor Krawicz runzelte ganz gewaltig die Stirn. „Was soll das nur“, ging es ihm durch den Kopf. „Ist das wieder so ein total irrer Einfall von dem Mädel, oder ...“ Er dachte nicht zu Ende, sondern wandte sich dem dritten Wunschzettel zu. Es war der seiner Frau Waltraud, und er las dies: „Lieber Horst! Vergangene Weihnachten hast Du mir eine echte Perlenkette geschenkt, davor war es ein Nerzmantel, und vor drei Jahren bekam ich die Ägypten-Reise. Ich habe mich jedesmal über Deine Großzügigkeit sehr gefreut, war sie doch auch ein Zeichen, daß es uns gutgeht, daß Du es geschafft hast aus dem Nichts heraus, denn wir hatten ja alles verloren. Diesmal habe ich keinen Wunsch, wenigstens keinen materiellen. Ich möchte nur, daß Du mir mal wieder einen Abend schenkst, einen Abend, den wir ganz alleine verleben. Nicht im Grand-Hotel, nicht auf einer eleganten Party, auch nicht bei einer Theater-Premiere. Erinnerst Du Dich noch an das kleine Lokal unten am Hafen? Ich glaube, es ist jetzt zwölf Jahre her, daß wir dort waren. Damals ging es uns finanziell noch nicht so gut wie heute. Aber Du besaßest etwas, was Du jetzt nicht hast: Zeit für mich. Und deshalb möchte ich noch einmal in dieses Lokal. Deine Waltraud.“

Horst Krawicz strich sich mit der Hand über die Stirn. Es war eine reichlich fahrige Bewegung. Das Lokal damals, er erinnerte sich. Sie hatten Labskaus gegessen und hinterher eine Flasche Wein getrunken, sie war recht billig gewesen. Und sie hörten einem Mann zu, der auf dem Schifferklavier Matrosenlieder spielte. Waltraud hatte ihn gebeten, „Ännchen von Tharau“ anzustimmen, und ihre Augen waren feucht und glänzend geworden. Was sie nur daran fand, jetzt noch? Merkwürdig, äußerst merk- würdig!

Kopfschüttelnd machte er sich an den letzten Brief. Er war von seiner Mutter. Sie lebte bei ihnen im Haus, seit Vater tot war. „Mein liebes Jungchen“, stand da in ihrer schon etwas zittrigen Schrift. Die Anrede war ihm vertraut. „Sie kann ihr Ostpreußen eben nicht verleugnen“, dachte er und las den Text: „Mein liebes Jungchen! Ich bin alt und habe keine Wünsche mehr. Warum ich trotzdem diesen Wunschzettel schreibe? Ich möchte Dir etwas sagen, was ich schon lange auf dem Herzen habe. Du warst immer gut zu mir und bist es heute mehr denn je. Nur eins hat mich immer bedrückt: Zu Vaters Todestag hast Du mir stets Geld gegeben, viel zuviel Geld. Und dann hast Du gesagt: ,Kauf Blumen, Mutter, und leg’ sie auf das Grab.‘ Ich habe es getan und dabei gedacht, er hat seinen Vater nicht vergessen. Aber ich habe auch gedacht, einmal im Jahr könnte er sich eine Stunde Zeit nehmen, um auf den Friedhof zu gehen und die Blumen selbst auf das Grab legen. Willst Du es im kommenden Jahr tun? Wenn Du ja sagst, machst Du mir die allergrößte Weihnachtsfreude. Deine Mutter.“

Generaldirektor Krawicz war nachdenklich geworden, sehr nachdenklich. Offen lagen die vier Wunschzettel vor ihm. Er saß eine ganze Weile still da, und ihm war, als ob er träumte.

Am Abend, kurz vor Büroschluß, fragte Frau Winkler: „Haben Sie die Wunschzettel gelesen? Und soll ich wieder die Weih-nachtsgeschenke für Sie besorgen?“

„Nein“, erwiderte Herr Krawicz leise, „die Geschenke für meine Familie, das ist diesmal ganz alleine meine Sache.“ Und die Sekretärin wunderte sich über das Leuchten, das plötzlich in den Augen ihres Chefs stand. 

Lötzen damals: Die Jugendherberge am Löwentinsee Foto: Karl Maslo