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05.01.02 Teil I: Über Sinn und Unsinn des Umgangs mit Fremdwörtern

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. Januar 2002


Sprache:
Wie deutsch soll Deutsch sein?
Teil I: Über Sinn und Unsinn des Umgangs mit Fremdwörtern / Von R. G. Kerschhofer

Kaum jemand wird ernsthaft bestreiten. daß die deutsche Sprache einem Ansturm von Fremdwörtern, vor allem von Anglizismen, ausgesetzt ist. Die Reaktionen darauf reichen von völliger Teilnahmslosigkeit über unartikulierte Irritation bis hin zu offener Kritik und aktiver Abwehr. Wie sehr es in dieser Frage nicht bloß um ästhetische, sondern durchaus auch um politische Aspekte geht, zeigt sich schon allein daran, daß die Ablehnung von Fremdwörtern gerne mit der NS-Zeit in Zusammenhang gebracht wird.

Wer um Sachlichkeit bemüht ist, und vor allem, wer für Diskussionen gerüstet sein will, sollte Ideologie möglichst zurückstellen und sich zunächst ausführlich mit Grundlagen und Zusammenhängen beschäftigen, also auch andere Wissensbereiche mit einbeziehen. Was heißt das konkret? Fremdwörter, die es immer schon gegeben hat und in allen Sprachen gibt, sind nur eines von mehreren möglichen Anzeichen für Fremdeinflüsse. Neben Wortschatz und Redewendungen, wo dies am leichtesten zu erkennen ist, sind auch Lautstand und Grammatik betroffen. Um beantworten zu können, warum und wie Fremdeinflüsse die Sprache und damit die Sprachgemeinschaft verändern, muß man sich mit dem Wesen der menschlichen Sprache befassen sowie mit den Umständen und Vorgängen bei Sprachwandel und Spracherwerb. All dem ist der erste Teil dieses Beitrags gewidmet.

Der zweite Teil behandelt soziale und technische Aspekte, denn es gilt zu klären, wie sehr die natürliche Sprachentwicklung durch außersprachliche Einflüsse gestört wird und inwieweit der Umgang mit Fremdeinflüssen heute anders ist als früher. Speziell was Anglizismen betrifft, geht es darum, welche Faktoren deren Eindringen erleichtern oder erschweren. Erst auf dieser Grundlage lassen sich Aussagen darüber treffen, was „schädlich“ oder „nützlich“ ist und welche Maßnahmen möglich, realistisch und zielführend sind. Dabei allerdings ist Wertung, also die Anwendung weltanschaulicher Kriterien, nicht zu vermeiden.

Über das Wesen der Sprache

Auf die Frage, was denn Sprache eigentlich sei, kommen meist Antworten wie „Na, was eben gesprochen wird“. Instinktiv wird dabei die Performanz gemeint, also das sprachliche Geschehen, die sprachliche Leistung. Auch der Laie versteht, daß nicht alle Menschen gleich gut (und Tiere überhaupt nicht) „reden“ können und daß daher hinter der Performanz eine subjektive Fähigkeit, die Kompetenz, stehen muß. Interessanterweise wird aber meist das zum „Sprechen“ komplementäre „Hören“ vergessen, ein gerade für unser Thema höchst bedeutsamer Aspekt: Denn Ungehörtes oder Unverstandenes bleibt nutzlos, und Falschverstandenes kann sogar schaden.

Andere Vorstellungen von Sprache resultieren aus der Unterrichtspraxis, wie sie sich über Jahrhunderte entwickelt hat: Der Erwerb toter Sprachen machte und macht das Erlernen von „Regeln“ unerläßlich, und diese spielen sogar bei lebenden Sprachen einschließlich der Muttersprache eine große Rolle. Auch die Linguistik befaßt sich mit Regeln und „Gesetzen“, denen das sprachliche Geschehen unterworfen zu sein scheint. Ist Sprache also ein (abstraktes) Regelwerk? Die Alltagssprache strotzt vor unvollständigen, fehlerhaften Sätzen und falsch gebrauchten, schlecht artikulierten Wörtern, aber trotzdem wird (meist) richtig verstanden! Woher kommt diese hohe Fehlertoleranz?

Mit naturwissenschaftlichen Methoden untersuchen läßt sich nur die Performanz - in Form der als Luftdruckschwankungen meßbaren Schallwellen sowie der mechanischen und neurologischen Vorgänge bei Erzeugung oder Wahrnehmung von Lauten. Stammesgeschichtlich betrachtet ist Sprache ein natürliches Signalsystem und dient wie alle Subsysteme lebender Wesen dem Zweck von Selbsterhalt und Arterhalt. Genau genommen wird „Zweck“ nur hineininterpretiert, was aber eine legitime Vereinfachung ist: Denn Subsysteme, die nicht nützen, verschwinden - entweder weil ihre Träger aussterben oder weil sie durch effektivere ersetzt werden und verkümmern. So oder so heißt das, daß die einzelne Sprache wie auch Sprache an sich mit der Existenz ihrer Träger untrennbar verbunden ist. Es sollte daher nicht verwundern, wenn Sprachbedrohung als Bedrohung der (Gruppen-) Existenz empfunden wird.

Ein Signalsystem ist auf konkrete Situationen bezogen, und Signale werden nur im Zusammenhang mit diesen richtig (das heißt nützlich!) verstanden. Die menschliche Sprache geht heute weit über ein bloßes Signalsystem im Dienste solch essentieller Funktionen wie Werbung, Warnung, Drohung etc. hinaus. Sie vermag Dinge auszudrücken, die mit der Augenblickssituation von Sprecher und Hörer nichts zu tun haben. Trotzdem wird auch sie nur im Zusammenhang verstanden, sei dies ein existentieller oder eben ein sprachlicher. Das erklärt die - nur scheinbare - Fehlertoleranz. Denn das Verstehen baut auf einer - vom Sprecher vorausgesetzten oder aufgebauten - Erwartungshaltung auf. Und das erklärt auch Mißverständnisse oder gezielte Irreführung.

Jedes Signalsystem ist limitiert durch seine Komponenten, also durch Sender, Empfänger, Transportmedium und steuernde Intelligenz. Ein derart komplexes System wie die menschliche Sprache konnte sich nur auf akustischer Basis entwickeln, denn weder Gerüche und Berührungen noch Mimik und Gestik würden eine ähnlich rasche, sichere, energiesparende und distanzüberwindende Abfolge von Symbolen erlauben. Stammesgeschichtlich manifestiert sich daher die „Menschwerdung“ vor allem in einer signifikanten Vergrößerung des Mund- und Rachenraumes - was überhaupt erst die Produktion von differenzierten Sprachlauten in schneller Folge ermöglicht - sowie in der Spezialisierung von Bereichen der (ebenfalls stark erweiterten) Großhirnrinde zur Steuerung von Sprachlauten beziehungsweise zur Interpretation wahrgenommener Sprachlaute.

Diese Spezialisierung ist Grundlage dafür, daß der Mensch (vorwiegend) in Sprache denkt und zur Abstraktion fähig ist, das heißt zu (weitgehender) Loslösung vom sinnlich Wahrnehmbaren. Zugleich aber ist Denken in hohem Maße durch die individuelle Kompetenz und durch die Eigenschaften der jeweiligen (Mutter-)Sprache bestimmt.

Sprachwandel

Selbst bei völliger Isolation ist Sprache natürlichen Veränderungen unterworfen, die aus dem Spannungsfeld von unterschiedlicher Kompetenz innerhalb jeder Sprachgemeinschaft resultieren. Performanz „pendelt“ gewissermaßen um die (scheinbar) gemeinsamen Regeln, denn jeder Sprecher trachtet einerseits, den Sprechaufwand zu reduzieren, andererseits will er verstanden werden: Mühsame Laute und Silben werden „verschluckt“, Wörter ungenau verwendet, widersprüchlich empfundene Regeln „vereinfacht“ und Sätze nicht zu Ende geführt, umgekehrt aber werden Laute durch (Über-)Betonung verändert, Begriffe und Funktionen doppelt ausgedrückt und neue Regeln „ausprobiert“.

Ein Vergleich mit Mutation und Selektion in der Biologie ist hier durchaus angebracht: Von unzähligen Mutationen, die (in der Performanz) laufend entstehen, wird das Allermeiste wegen Unbrauchbarkeit wieder eliminiert. Doch vereinzelt kann sich etwas Neu- es, Nützlicheres behaupten und das Gesamtsystem verändern. Die Selektion ergibt sich aus der Notwendigkeit, von anderen verstanden zu werden. Die Rückkopplung vom Hörer zum Sprecher wirkt wie ein Immunsystem, welches Mutationen, aber auch Fremdkörper entweder als schädlich eliminiert oder als unschädlich inkorporiert. Störungen dieses Immunsystems erhöhen hingegen das jeder Gemeinschaft innewohnende Konfliktpotential.

Spracherwerb

Genetisch festgelegt ist nur die Fähigkeit zum Spracherwerb an sich, nicht zum Erwerb einer bestimmten Sprache. Damit aber aus dem Angeborenen Kompetenz werden kann, ist die Vermittlung von Sprache unerläßlich. Würden Menschen völlig ohne Sprache aufwachsen, wären sie selbst als Erwachsene nicht in der Lage, eine solche von sich aus zu erfinden, denn jede der heutigen Sprachen ist das Produkt einer von vielen Generationen getragenen Evolution.

Entscheidend für die Kompetenz ist neben der eigenen Veranlagung und der Qualität des Sprachangebots vor allem das Lebensalter, in welchem eine Sprache erworben wird. Spätestens bis zum Erreichen der Pubertät erfolgt eine sprachliche Prägung, das heißt, im Gehirn werden bestimmte Verbindungen (Synapsen) aufgebaut oder verstärkt. Diese Prägung kann niemals ganz rückgängig gemacht oder, wenn versäumt, niemals ganz nachgeholt werden: Muttersprache ist somit neurophysiologische Realität.

In der Begegnung mit Fremdsprachen lassen sich auch Erkenntnisse über die Muttersprache und über das eigene Denken gewinnen. Der Zweitspracherwerb unterscheidet sich jedoch wegen der neurophysiologischen Gegebenheiten grundlegend vom Erstspracherwerb. Zwei- oder Mehrsprachigkeit wiederum ist - außer bei Höchstbegabten - nur oberflächlich vorhanden: In der Regel erweist sich eine Sprache als dominant - oder gar keine ist voll und ganz Muttersprache.

Zeichen und Willkür

Jedes Zeichen besteht aus der Zuordnung von zwei Aspekten, einem als Laut oder Bild realisierten Zeichenkörper (=Bezeichnendes) und einem begrifflichen Konzept (=Bezeichnetes). Meist wird davon ausgegangen, daß diese Zuordnung durch Vereinbarung erfolgt, also willkürlich ist, und tatsächlich kann etwa das Konzept „Haus“ durch die Lautung „Haus“, „casa“, „maison“ etc. bezeichnet werden.

Trotzdem sind Wörter nicht beliebig ersetzbar, denn jeder Zeichenkörper ist in ein gewachsenes System eingebettet: Er muß sich von allen anderen hinreichend unterscheiden („Haus“ von „Haut“, „Maus“, „Haß“), und er steht in regelhafter Beziehung zu verwandten Bezeichnungen („hausen“, „Behausung“, „häuslich“). Zugleich ist alles Bezeichnete in ein kulturell bestimmtes System von Begriffen eingebettet. Diese Einbettungen sind das Ergebnis von individuellen Lernvorgängen und materialisieren sich in den Synapsen. Die assoziative Funktionsweise des Gehirns bewirkt, daß das Wort den entsprechenden Begriff aktivieren kann, und umgekehrt, daß auch verwandte Begriffe und ähnlich lautende Wörter mit aktiviert werden, und ferner, daß durch den Wortgebrauch Anklänge und Nebenbedeutungen (Konnotationen) entstehen. Darauf beruhen Wortschöpfungen, Wort- spiele, End- und Stabreime wie auch „Versprecher“ und die bei Sprachstörungen auftretenden Muster. Der Willkür sind weitere Grenzen gesetzt, nämlich wenn Analogien zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem eine Rolle spielen, wie bei lautmalerischem Ursprung.

Erweiterungen des Beziehungsgeflechts durch Analogien sind leicht verständlich, willkürliche Eingriffe hingegen erfordern höheren Aufwand und können unerwünschte Nebenwirkungen haben. Ein Begriff muß durch Erleben oder durch Erklärung erworben werden. Und wenngleich sich - heute noch öfter als zu Goethes Zeiten - ein Wort gerade dort einzustellen pflegt, wo Begriffe fehlen, ist es im Regelfall umgekehrt: Bezeichnungen entstehen, wenn sachliche Gründe zur Unterscheidung vorliegen. So benennen Eskimos Dutzende unterschiedlicher Schnee- und Eisarten, während Araber für Schnee und Eis mit einem gemeinsamen Wort auskommen.

Wegen der (notwendigen) lautlichen Unterscheidung der Wörter gibt es keine zwei Wörter, die völlig gleichwertig in der Handhabung wären, und auf Dauer halten sich auch keine zwei Wörter mit exakt gleicher Bedeutung (Synonyme): Entweder es kommt zu Spezialisierungen, oder das eine Wort gerät in Vergessenheit. Fremdwörter sind in der Regel mit einem Mehraufwand für Sprecher und Hörer verbunden. Dieser Nachteil kann aber, wie noch zu zeigen sein wird, in bestimmten Fällen unmaßgeblich sein oder durch Vorteile aufgewogen werden.

Fortsetzung in Folge 2

Was ist Sprache? Angeboren ist nur die Fähigkeit zum Spracherwerb. Sprache selber muß individuell erlernt werden - als Muttersprache in Familie und Umfeld oder als Fremdsprache in Schule, Sprachlabor und durch Praxis. Foto: dpa