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05.01.02 Weiße Pracht

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. Januar 2002


Weiße Pracht
Von Esther Knorr-Anders

Zu meinen abenteuerlichen Schnee-Erlebnissen gehört eine Wanderung zum „Saubadfelsen“ im Steinwald. Wo liegt diese weithin unbekannte Wald- und Felsenwildnis? Zwischen dem südlichen Fichtelgebirge und dem nordwestlichen Oberpfälzer Wald. Vom Steinwald erzählt die Sage, daß seine Felsen von Riesen erschaffen wurden. Seltsam lachende Kinder hocken am Waldsaum und werden unsichtbar, wenn man sie anspricht. Laub in der Hand eines Mannes verwandelt sich in pures Gold, sofern er sich getraut, die am Weg verweilende, wundersame Frau zu küssen ...

Fast lautlos lenkt meine Führerin den Wagen über schmale Waldpfade zur Felsenwelt. Der Förster hat die Fahrerlaubnis gegeben, denn dieser Teil ist Schutzgebiet und für Kraftfahrzeuge gesperrt. Der Pfad verengt sich, Gesteinsbrocken versperren den Weg. Wir steigen aus, pirschen durchs Gehölz. Schnee stäubt vom Geäst ... Schritt für Schritt wird die Sache mulmiger. Auf dem verharschten Pfad müssen wir hintereinander gehen. Ungefähr 15 Minuten verrinnen, bis der offenkundig ebenfalls von Riesen aufgetürmte „Saubadfelsen“ den Weg enden läßt. Die mächtigen Steinwannen glitzern vor Eis. Breite Spalten lassen in Schründe blicken. Nebelschwaden brauen sich zusammen, wallen als Schleier um die Stämme der Fichten. Jählings fällt Dämmerung ein, Graupel peitscht nieder. Die Führerin packt meinen Arm: „Nichts wie zurück! Das ist mir zu unheimlich. Ich war stets nur im Sommer hier.“ Schon hastet sie den Pfad hinab. Es ist tatsächlich ziemlich düster, Schneegeriesel bedeckt den Mantel, prickelt auf dem Gesicht. Tiefe Stille um den Felsen der Bachen. Unheimlich? Herrlich war’s!

Was ist Schnee? Gefrorener Regen, der als Schneekristalle, als winzige Sterngebilde, zur Erde flockt. Frisch gefallener Schnee ist blendend weiß, manchmal ins Bläuliche spielend; in den Alpen und im hohen Norden zeigt er oft eine rötliche Färbung. Diese Erscheinung nennt man „Blutschnee“. Schnee ist des einen Beglückung und der öffentlichen wie auch der privaten Schneeräumung Last. Halten wir uns an die Freude.

Unvergessen die Fahrten mit dem Schlitten durch das verschneite Ostpreußen. Geradezu Nervenbalsam ist ein Spaziergang im verschneiten Wald, Feld oder Park. Man glaubt, durch zeitlose Zeit zu streifen. Ist man früh unterwegs, dann hat - so weit das Auge reicht - noch keines Menschen Fuß die Schneedecke begangen. In dem grellen Weiß dünken Tannen, Lärchen, Eschen schwarz. Ein Krähenschwarm streicht heran, gleitet nieder, krächzend stolzieren die Vögel umher, rauschen plötzlich auf; verschwinden. Doch sie hinterließen eigentümliche Spuren, ein kreuz und quer gestricheltes Flickenteppich-Muster. Melancholiker, die in den weiten Schneeflächen ein „Leichentuch“ zu entdecken meinen, finden Tröstung bei dem Gedanken, daß unter dieser bleichen Decke der nächste Frühling keimt.

Wer zum Rodeln, zum Skilauf unterwegs ist, kennt keine Tristesse, er erlebt Wonnen: Pulverschnee, Abfahrtsgaudi. Schnee verzaubert den Menschen. Selbst der Städter freut sich über die dicke Flockenschicht - jedenfalls solange sie weiß wie Waschpulver-Reklame bleibt. Die Ruhe in den Straßen fällt auf. Hin und wieder drehen Räder durch, wenn eine verschneite Anhöhe bezwungen werden soll. Streufahrzeuge quietschen, Schneepflüge knattern. Geräusche, die sonderbarerweise nicht als störend empfunden werden. „Schnee stimmt friedlich, das macht die Stille“, verriet mir eine Nachbarin. Mag sein! Doch nicht nur friedvolle Stille vermittelt die weiße Pracht, sie bringt Härten für Mensch und Tier.

1911 schuf Franz Marc das Gemälde „Rehe im Schnee“. Er war von bläulich schimmernden Schneemassen fasziniert. In deren wüsten Verwehungen suchen zwei Rehe Nahrung. Aber es ist nichts zu finden ... Franz Schubert komponierte 1827 den Liederzyklus „Die Winterreise“, in dem das Gedicht „Der Leiermann“ von Wilhelm Müller erklingt. Nervenzerrend sind Melodie und Text. Hans Christian Andersens Erzählung „Die Schneekönigin“ darf nicht fehlen. Der kleine Kai ist mit seinem Rodel unterwegs. Wie andere Buben will er das Gefährt an einen Bauernschlitten binden und ein Stück mitgezogen werden. Ein prunkvoller silbriger Schlitten hält bei ihm. Der in Pelz gemummte Kutscher nickt Kai aufmunternd zu: „Es war, als ob sie einander kannten.“ Kai band den Rodel am Schlitten fest - und los ging’s zur Stadt hinaus. „Da begann der Schnee so dicht niederzufallen, daß der Kleine die Hand nicht vor Augen sehen konnte, während er dahinsauste; da ließ er schnell die Leine fahren, um von dem großen Schlitten loszukommen, aber es half nicht, sein kleines Fuhrwerk hing fest.“ Endlich hielten sie vor einem Eispalast. „Die Person, die Kai gefahren hatte, richtete sich auf, der Pelz und die Mütze waren aus lauter Schnee; eine Dame war es, so hoch und rank, so schimmernd weiß - es war die Schneekönigin.“ Sie trat zu ihm, küßte ihn. Mit dem Kuß vereiste Kais Herz. Viele Jahre wird er im Bann der Schneekönigin bleiben. Er vergaß sein Zuhause, vergaß seine Kindheitsfreundin Gerda. Doch sie sucht und findet ihn, löst den traumatischen Zauber. Und währenddessen wurden sie erwachsen ...

Leise rieselt der Schnee. Damals war ich in der Schwäbischen Alb, in Blaubeuren zu Gast. Über den „Blautopf“, eine sagenumsponnene urzeitliche Quelle, deren Tiefe nicht auszuloten ist, sollte ich berichten. Ich folgte dem Rundweg, der hoch in die Waldung hinaus- und um die Quelle herumführte. An der steilsten Stelle blieb ich stehen, bis zu den Knöcheln im Schnee. Wenn ich jetzt ausgleiten würde und im Strudel versänke, kein Mensch erführe es. Unwillkürlich suchte ich sicheren Halt. Tief unten, vom Gezweig knorriger Bäume überhangen, schimmerte eisblau die Quelle, ein kleiner See. Pro Sekunde drückt der Blautopf 2000 Liter Wasser aus der Tiefe des Urdonautals empor, füllt den Flußlauf der Blau, und das seit undenklichen Vorzeiten bis zu dieser Minute.

Ich formte einen Schneeball, schleuderte ihn hinunter. Er drehte sich im Wasser, wurde vom Strudel erfaßt. Verschwunden! Lautlos rieselte Schnee ... 

Karten. ISBN 3-406-46766-0. Preis: 48,- DM / 24,50 Euro.