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12.01.2002 Was die Krise in Argentinien uns zu sagen hat

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 12. Januar 2002


Die Straße - Naturgewalt der Politik
Was die Krise in Argentinien uns zu sagen hat
von Jürgen Liminski

Auf den ersten Blick scheint die Sache recht einfach. Man nehme einen neuen Präsidenten, werte die Währung ab und erhöhe die Produktion - und aus ist es mit der Krise. Der neue und innerhalb von zwei Wochen dritte Präsident in Argentinien versucht es mit dieser Mixtur aus Vertrauen, Einsicht in Sachzwänge und einem Stückchen peronistischer Magie. Denn mit der geplanten Erhöhung der industriellen Produktion will er an alte, glorreiche Zeiten anknüpfen, als das rohstoffreiche Land am La Plata noch zu den wirtschaftlich zehn ersten Ländern der Welt gehörte.

Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Die Peronisten und ihre Nachfolger haben Argentinien abgewirtschaftet. Vor allem die Bindung des Peso an den US-Dollar im Verhältnis eins zu eins hat sich als fatal erwiesen. Der Dollar stieg, damit der Peso, aber während hinter dem Dollar die Wirtschaftskraft der USA stand und hinter den gleichzeitig stärker werdenden europäischen Währungen auch die wachsenden Industrien Europas stehen, stagnierte und schrumpfte die Wirtschaft Argentiniens nach der Gleichung: teurer Peso, teure Exporte, wenig Verkauf, schrumpfende Reserven, steigende Auslandsschulden, galoppierende Inflation. Hinzu kam die Korruption der Machthaber, ihre Großspurigkeit und Parteien-Klüngelei. Im Schatten dieser Arroganz verkümmerten die kleinen und mittleren Betriebe, der einst blühende Mittelstand verarmte. Als die Leute nichts mehr zu verlieren hatten, gingen sie auf die Straße und vertrieben mit Topf und Kochlöffel die unfähigen Politiker.

Das ist das erstaunlichste Phänomen dieser Krise: Arroganz und Korruption sind bekannt, aber der Kampf der Straße mit Küchengerät ist eine spezifische Eigenart Südamerikas, insbesondere Argentiniens. Das Volk ist ein Element, völlig unberechenbar wie eine Naturgewalt, meinte schon der politische Dichter Lamartine; der Vater der Massenpsychologie, Gustave le Bon, und etliche Denker und Soziologen des Phänomens Straße gaben ihm recht. Unnachahmlich, geradezu prophetisch beschrieb Ortega y Gasset den modernen Massenmenschen. In Buenos Aires ist er zudem noch unerträglich laut.

Im winterlichen Europa verfolgt man in einem kontrollierten Taumel von Begeisterung über die Einführung des Euro nur mit halbem Auge die Entwicklung am anderen Ende der Welt, im sommerlichen Argentinien. Aber es ist kein lauer Sommer in Buenos Aires, der Stadt der guten Winde. Der politische Sturm hat auch uns etwas zu sagen. Längst geht es nicht mehr nur um die Frage, wie lange der neue Präsident Eduardo Duhalde in der Casa Rosada den Präsidentensessel besetzt. Es geht um das System überhaupt. Mit der Währung, die jetzt stufenweise abgewertet werden soll, steht auch das neoliberale Wirtschaftssystem auf dem Prüfstand. Und die Jury ist die Straße, ihre Maßeinheit für Güte und Zukunft die Lautstärke des Konzerts der Topfschläger. In kürzester Zeit hatten sie die neue Währung, den „Argentino“, hinweggeklopft, kaum war er auf dem Markt. Plünderungen und hektische Maßnahmen prägten die Atmosphäre. Ein Hauch von Anarchie liegt immer noch in der Luft der Sommernächte. Es ist nicht mehr die Zeit, den Tango mit dem Volk zu wagen. Wer jetzt versagt, reißt das Volk mit in den Strudel.

Es ist auch keine Frage der Parteien mehr. Argentiniens politische Klasse muß den Kontakt mit dem Volk wiederfinden. Präsident Duhalde hat auch Oppositionspolitiker in die neue Regierung geholt. Als erfahrener Populist und ehemaliger Gouverneur der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires (14 der rund 35 Millionen Argentinier) kennt er das Volk. Früh hat er sich gegen den Präsidenten der eigenen Partei, Carlos Menem, gestellt, als dieser den Pfad des Peronismus verließ und dem Kapitalismus den Vorrang vor der sozialen Gerechtigkeit, dem Banner Juan Domingo Perons, einräumte. Diese Gerechtigkeit will er wieder herstellen und gleichzeitig an die Größe Argentiniens unter dem legendären Staatschef anknüpfen. „Argentinien ist bankrott, es ist vernichtet“, sagte er in seiner Antrittsrede, und mit diesem pathetischen Offenbarungseid hat er zum einen Ehrlichkeit demonstriert, zum zweiten den Tiefpunkt des Neustarts markiert und zum dritten die Straße beruhigt. Er weiß: Die Straße mißtraut dem Filz der Korrupten, sie fordert immer neue Köpfe. Denn die Krise ist nicht nur wirtschaftlich. Sie ist vor allem politisch, das heißt eine Vertrauenskrise. Im Volk traut niemand mehr den Politikern.

Hier wird es auch für Beobachter im nahen und fernen Ausland interessant. Die Krise wird wohl in ihren wirtschaftlichen Folgen eingedämmt werden können. Die Nachbarländer, vor allem Brasilien, haben vorgesorgt und sich weitgehend abgekoppelt. Aber es geht nicht um die Wirtschaftskraft oder um die Währung, wie immer sie heißt. Es geht um das nackte Vertrauen in die Ehrlichkeit einer politischen Klasse. Es hat sich herumgesprochen, daß ihre Raffgier und Machtgeilheit schuld sind an der Misere und an der Verarmung des einst ansehnlichen Mittelstandes. In der Zeit der Informationsgesellschaft aber ist das Vertrauen in die Ehrlichkeit und Dienstbereitschaft der Politik fast so viel wert wie die fachliche Kompetenz. Und das gilt nicht nur für Argentinien.

Auch in Europa steht die Politik vor gewaltigen Prüfungen. Die Sozialsysteme sind erschöpft. Es wird seit Jahren an den Symptomen herumgedoktert. Die Rente ist keineswegs sicher, auch mit Riester-Varianten nicht. Krankenkassen-Experten wissen längst: Die Beiträge werden steigen und die Leistungen sinken. Bei der Pflege droht der Notstand, die Arbeitslosigkeit steigt, die Familie verarmt.

Sie aber, die Familie, ist der wahre Mittelstand unserer Gesellschaft. Ohne sie stehen auch Ordnung und Freiheit auf dem Spiel nach der Gleichung von Paul Kirchhof: „Ohne Familie keine wirksame Erziehung, ohne Erziehung keine Persönlichkeit, ohne Persönlichkeit keine Freiheit“. Aber kaum jemand in der Politik traut sich, dies zu sagen und die Weichen richtig zu stellen. Man verspricht kleine Münzen, „argentinos“ sozusagen, wo beherzte, zukunftsweisende Maßnahmen notwendig wären.

Sicher, unsere politischen Institutionen genießen noch Vertrauen, aber dieses Kapital geht langsam zur Neige. Die Verdrossenheit und die Abstinenz bei Wahlen sind dafür zuverlässige Indikatoren. Und wenn erst die Sozialsysteme zusammenbrechen und die Menschen nichts mehr zu verlieren haben, ist die Straße nicht weit. Noch kann man die Weichen richtig stellen, noch ist der Mittelstand insgesamt nicht in der Misere. So gesehen ist der Sturm in Buenos Aires für uns und vor allem für die politische Klasse eine Warnung zur rechten Zeit.